Lyrikinterpretation: Materialien


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Aristoteles: Von der Dichtkunst

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10.

Die Fabeln sind teils einfach, teils kompliziert. Denn die Handlungen, deren Nachahmungen die Fabeln sind, sind schon von sich aus so beschaffen. Ich bezeichne die Handlung als einfach, die in dem angegebenen Sinne sich zusammenhängt und eine Einheit bildet und deren Wende sich ohne Peripetie oder Wiedererkennung vollzieht, und diejenige als kompliziert, deren Wende mit einer Wiedererkennung oder Peripetie oder beidem verbunden ist. Peripetie und Wiedererkennung müssen sich aus der Zusammensetzung der Fabel selbst ergeben, d. h. sie müssen mit Notwendigkeit oder nach der Wahrscheinlichkeit aus den früheren Ereignissen hervorgehen. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob ein Ereignis infolge eines anderen eintritt oder nur nach einem anderen.


11.

Die Peripetie ist, wie schon gesagt wurde, der Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil, und zwar, wie wir soeben sagten, gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit. So tritt im "Ödipus" jemand auf, um Ödipus zu erfreuen und ihm die Furcht hinsichtlich seiner Mutter zu nehmen, indem er ihm mitteilt, wer er sei, und er erreicht damit das Gegenteil. Und im "Lynkeus" wird der eine abgeführt, um zu sterben, während der andere - Danaos - ihn begleitet, um ihn zu töten; doch die Ereignisse führen dazu, daß dieser stirbt und jener gerettet wird. Die Wiedererkennung ist, wie schon die Bezeichnung andeutet, ein Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, mit der Folge, daß Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu Glück oder Unglück bestimmt sind. Am besten ist die Wiedererkennung, wenn sie zugleich mit der Peripetie eintritt, wie es bei der im "Ödipus" der Fall ist. Es gibt auch andere Arten der Wiedererkennung, z. B. von leblosen Gegenständen, und zwar von beliebigen. Die Wiedererkennung kann sich auch darauf beziehen, ob jemand etwas getan hat oder nicht getan hat. Doch die zuerst genannte Wiedererkennung ist diejenige, die am besten zur Fabel und zur Handlung paßt. Denn eine solche Wiedererkennung und Peripetie bewirkt Jammer oder Schaudern, und es wurde ja vorausgesetzt, daß die Tragödie Nachahmung von Handlungen mit diesen Wirkungen sei. Außer- dem ergibt sich gerade aus solchen Wiedererkennungen das Unglück und das Glück. Da die Wiedererkennung Wiedererkennung von Personen ist, bezieht sie sich bald nur auf die eine Person im Verhältnis zu anderen (wenn nämlich offenkundig ist, wer die eine Person ist), bald müssen beide Personen sich gegenseitig wiedererkennen - wie z. B. Iphigenie auf Grund der Entsendung des Briefes von Orestes wiedererkannt wird, während für Iphigenie im Verhältnis zu Orestes eine andere Wiedererkennung erforderlich ist. Dies sind zwei Teile der Fabel, die Peripetie und die Wiedererkennung; ein dritter ist das schwere Leid. Hiervon sind die Peripetie und die Wiedererkennung bereits behandelt. Das schwere Leid ist ein verderbliches oder schmerzliches Geschehen, wie z. B. Todesfälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und dergleichen mehr.


12.

Von den Teilen der Tragödie, die man als deren Formelemente anzusehen hat, haben wir oben gesprochen. Die Teile, die sich aus ihrer Ausdehnung ergeben, d. h. die Abschnitte, in die man sie gliedern kann, sind folgende: Prolog, Episode, Exodos und Chorpartie, die ihrerseits eine Parodos oder ein Stasimon sein kann. Diese Teile sind allen Tragödien gemeinsam, während die Solo-Arie und der Kommos Besonderheiten bestimmter Tragödien sind. Der Prolog ist der ganze Teil der Tragödie vor dem Einzug des Chors, eine Episode ein ganzer Teil der Tragödie zwischen ganzen Chorliedern, die Exodos der ganze Teil der Tragödie nach dem letzten Chorlied. Bei den Chorpartien ist die Parodos der erste ganze Teil, den der Chor vorträgt, das Stasimon ein Chorlied ohne Anapäst und Trochäus, der Kommos ein vom Chor und vom Solosänger gemeinsam gesungenes Klagelied. Von den Teilen der Tragödie, die man als deren Formelemente anzusehen hat, haben wir zuvor gesprochen; die Teile, die sich aus ihrer Ausdehnung ergeben, d. h. die Abschnitte, in die man sie gliedern kann, sind die genannten.


13.

Was man beim Zusammenfügen der Fabeln erstreben und was man dabei vermeiden muß und was der Tragödie zu ihrer Wirkung verhilft, das soll nunmehr, im Anschluß an das bisher Gesagte, dargetan werden. Da nun die Zusammensetzung einer möglichst guten Tragödie nicht einfach, sondern kompliziert sein und da sie hierbei Schaudererregendes und Jammervolles nachahmen soll (dies ist ja die Eigentümlichkeit dieser Art von Nachahmung), ist folgendes klar: 1. Man darf nicht zeigen, wie makellose Männer einen Umschlag vom Glück ins Unglück erleben; dies ist nämlich weder schaudererregend noch jammervoll, sondern abscheulich. 2. Man darf auch nicht zeigen, wie Schufte einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben; dies ist nämlich die untragischste aller Möglichkeiten, weil sie keine der erforderlichen Qualitäten hat, sie ist weder menschenfreundlich noch jammervoll noch schaudererregend. 3. Andererseits darf man auch nicht zeigen, wie der ganz Schlechte einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebt. Eine solche Zusammenfügung enthielte zwar Menschenfreundlichkeit, aber weder Jammer noch Schaudern. Denn das eine stellt sich bei dem ein, der sein Unglück nicht verdient, das andere bei dem, der dem Zuschauer ähnelt, der Jammer bei dem unverdient Leidenden, der Schauder bei dem Ähnlichen. Daher ist dieses Geschehen weder jammervoll noch schaudererregend. So bleibt der Held übrig, der zwischen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers - bei einem von denen, die großes Ansehen und Glück genießen, wie Ödipus und Thyestes und andere hervorragende Männer aus derartigen Geschlechtern. Die gute Fabel muß also eher einfach sein als - wie es einige wollen - zwiefach, und sie darf nicht vom Unglück ins Glück, sondern sie muß vielmehr vom Glück ins Unglück umschlagen, nicht wegen der Gemeinheit, sondern wegen eines großen Fehlers entweder eines Mannes, wie er genannt wurde, oder eines besseren oder schlechteren. Ein Beweis dafür ist, was eingetreten ist. Denn zuerst haben die Dichter beliebige Stoffe abgehandelt. Jetzt aber werden die besten Tragödien über eine kleine Anzahl von Geschlechtern zusammengesetzt, wie z. B. über Alkmeon, Ödipus, Orestes, Meleager, Thyestes und Telephos und wer sonst noch Schreckliches erlitt oder tat. Die im Hinblick auf die Kunst beste Tragödie ist also auf diese Weise zusammengefügt. Daher befinden sich die Tadler des Euripides in demselben Irrtum, wenn sie ihm vorwerfen, daß er sich in seinen Tragödien an den genannten Grundsatz hält, d. h. daß diese meistens unglücklich enden. Denn das ist ja, wie gesagt, richtig. Der beste Beweis ist dieser: bei den dramatischen Wettkämpfen erweisen sich derartige Tragödien als die tragischsten, wenn sie erfolgreich aufgeführt werden, und Euripides erweist sich als der tragischste unter den Dichtern, wenn er auch die anderen Dinge nicht richtig handhabt. Die zweitbeste Tragödie, die von manchen für die beste gehalten wird, ist die mit einer zwiefach zusammengefügten Fabel, wie die "Odyssee", d. h. in der die Guten und die Schlechten ein entgegengesetztes Ende finden. Sie gilt als die beste, weil sie der Schwäche des Publikums entgegenkommt. Denn die Dichter richten sich nach den Zuschauern und lassen sich von deren Wünschen leiten. Doch diese Wirkung ist nicht das Vergnügen, auf das die Tragödie zielt; sie ist vielmehr eher der Komödie eigentümlich. Denn dort treten die, die in der Überlieferung die erbittertsten Feinde sind, wie Orestes und Aigisthos, schließlich als Freunde von der Bühne ab, und niemand tötet oder wird getötet.


14.

Nun kann das Schauderhafte und Jammervolle durch die Inszenierung, es kann aber auch durch die Zusammenfügung der Geschehnisse selbst bedingt sein, was das Bessere ist und den besseren Dichter zeigt. Denn die Handlung muß so zusammengefügt sein, daß jemand, der nur hört und nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den Vorfällen Schaudern und Jammer empfindet. So ergeht es jemandem, der die Geschichte von Ödipus hört. Diese Wirkungen durch die Inszenierung herbeizuführen, liegt eher außerhalb der Kunst und ist eine Frage des Aufwandes. Und wer gar mit Hilfe der Inszenierung nicht das Schauderhafte, sondern nur noch das Grauenvolle herbeizuführen sucht, der entfernt sich gänzlich von der Tragödie. Denn man darf mit Hilfe der Tragödie nicht jede Art von Vergnügen hervorzurufen suchen, sondern nur die ihr gemäße. Da nun der Dichter das Vergnügen bewirken soll, das durch Nachahmung Jammer und Schaudern hervorruft, ist offensichtlich, daß diese Wirkungen in den Geschehnissen selbst enthalten sein müssen. Wir wollen nunmehr betrachten, welche Ereignisse als furchtbar und welche als bejammernswert erscheinen. Notwendigerweise gehen derartige Handlungen entweder unter einander Nahestehenden oder unter Feinden oder unter Personen vor sich, die keines von beidem sind. Wenn nun ein Feind einem Feinde etwas derartiges antut, dann ruft er keinerlei Jammer hervor, weder wenn er die Tat ausführt noch wenn er sie auszuführen beabsichtigt abgesehen von dem schweren Leid als solchem. Dasselbe gilt für Personen, die einander nicht nahestehen, ohne miteinander verfeindet zu sein. Sooft sich aber das schwere Leid innerhalb von Näheverhältnissen ereignet (z.B.: ein Bruder steht gegen den Bruder oder ein Sohn gegen den Vater oder eine Mutter gegen den Sohn oder ein Sohn gegen die Mutter; der eine tötet den anderen oder er beabsichtigt, ihn zu töten, oder er tut ihm etwas anderes derartiges an) - nach diesen Fällen muß man Ausschau halten. Es ist nun nicht gestattet, die überlieferten Geschichten zu verändern; ich meine z. B., daß Klytaimestra von Orestes getötet werden muß und Eriphyle von Alkmeon. Man muß derartiges selbst erfinden oder das Überlieferte wirkungsvoll verwenden. Was wir unter wirkungsvoll verstehen, wollen wir etwas genauer darlegen. Die Handlung kann sich so vollziehen wie bei den alten Dichtern, d. h. mit Wissen und Einsicht des Handelnden, wie auch Euripides verfährt, wenn er Medea ihre Kinder töten läßt. Ferner kann man handeln, ohne die Furchtbarkeit der Handlung zu erkennen, und erst später Einsicht in das Näheverhältnis erlangen, wie es beim "Ödipus" des Sophokles der Fall ist. Dort spielt sich das Furchtbare außerhalb der Bühnenhandlung ab, in der Tragödie selbst hingegen z. B. beim "Alkmeon" des Astydamas oder bei Telegonos im "Verwundeten Odysseus". Außerdem gibt es auch eine dritte Möglichkeit: Die Person beabsichtigt aus Unkenntnis, etwas Unheilbares zu tun, erlangt jedoch Einsicht, bevor sie die Tat ausführt. Weitere Möglichkeiten außer den genannten gibt es nicht. Denn notwendigerweise führt man entweder die Tat aus oder nicht, und zwar wissentlich oder nicht wissentlich. Unter diesen Möglichkeiten ist die, daß die Person die Tat wissentlich beabsichtigt und sie dann nicht ausführt, die schlechteste. Denn darin ist zwar etwas Abscheuliches enthalten, jedoch nichts Tragisches; es tritt nämlich kein schweres Leid ein. Daher verfaßt niemand eine derartige Dichtung, es sei denn ausnahmsweise, z. B. in der "Antigone", wo sich Haimon dem Kreon gegenüber so verhält. An zweiter Stelle steht der Fall, in dem die Person die Tat auch ausführt. Noch besser ist der Fall, daß die Person die Tat ohne Einsicht ausführt und Einsicht erlangt, nachdem sie sie ausgeführt hat. Denn die Tat hat nichts Abscheuliches an sich, und die Wiedererkennung ruft Erschütterung hervor. Das Beste ist die letzte Möglichkeit, z. B.: Im "Kresphontes" beabsichtigt Merope, ihren Sohn zu töten, sie tötet ihn jedoch nicht, sondern erkennt ihn wieder, und in der "Iphigenie" verhält sich die Schwester dem Bruder gegenüber ebenso, und in der "Helle" beabsichtigt der Sohn, die Mutter an die Feinde auszuliefern, und erkennt sie zuvor noch wieder. Aus diesem Grunde befassen sich die Tragödien, wie oben gesagt, nur mit wenigen Geschlechtern. Denn die Dichter gingen auf die Suche, und es gelang ihnen - nicht durch Kunst, sondern zufällig -, in den überlieferten Geschichten von derartigen Möglichkeiten Gebrauch zu machen, und so sind sie denn gezwungen, sich nur noch mit den Geschlechtern zu befassen, denen derartige schwere Fälle von Leid zugestoßen sind. Über die Zusammenfügung der Geschehnisse und darüber, wie die Handlungen beschaffen sein müssen, haben wir jetzt genug gesagt.


15.

Was die Charaktere betrifft, so muß man auf vier Merkmale bedacht sein. Das erste und wichtigste besteht darin, daß sie tüchtig sein sollen. Eine Person hat einen Charakter, wenn, wie schon gesagt wurde, ihre Worte oder Handlungen bestimmte Neigungen erkennen lassen; ihr Charakter ist tüchtig, wenn ihre Neigungen tüchtig sind. Dies ist bei jeder Art von Menschen möglich. Denn auch eine Frau kann tüchtig sein und ebenso ein Sklave; allerdings ist ja wohl die Frau im allgemeinen unterlegen, und der Sklave vollauf untüchtig. Das zweite Merkmal ist die Angemessenheit. Eine Frau kann nämlich tapfer von Charakter sein, aber es ist nicht angemessen, daß sie in derselben Weise tapfer oder energisch ist wie ein Mann. Das dritte Merkmal ist das Ähnliche. Denn dies ist etwas anderes, als den Charakter so zu zeichnen, daß er - in dem soeben umschriebenen Sinne - tüchtig und angemessen ist. Das vierte Merkmal ist das Gleichmäßige. Und wenn jemand, der nachgeahmt werden soll, ungleichmäßig ist und ein solcher Charakter gegeben ist, dann muß er immerhin auf gleichmäßige Weise ungleichmäßig sein. Ein Beispiel für einen in unnötiger Weise schlechten Charakter ist Menelaos im "Orestes", eines für einen unpassenden und nicht angemessenen Charakter das Klagelied des Odysseus in der "Skylla" und die Rede der Melanippe, eines für einen ungleichmäßigen Charakter "Iphigenie in Aulis"; denn die bittflehende Iphigenie hat nichts mit der gemein, die sie im weiteren Verlauf des Stückes ist. Man muß auch bei den Charakteren - wie bei der Zusammenfügung der Geschehnisse - stets auf die Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit bedacht sein, d. h. darauf, daß es notwendig oder wahrscheinlich ist, daß eine derartige Person derartiges sagt oder tut, und daß das eine mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit auf das andere folgt. Es ist offenkundig, daß auch die Lösung der Handlung aus der Handlung selbst hervorgehen muß, und nicht - wie in der "Medea" und wie in der "Ilias" die Geschichte von der Abfahrt aus dem Eingriff eines Gottes. Vielmehr darf man den Eingriff eines Gottes nur bei dem verwenden, was außerhalb der Bühnenhandlung liegt, oder was sich vor ihr ereignet hat und was ein Mensch nicht wissen kann, oder was sich nach ihr ereignen wird und was der Vorhersage und Ankündigung bedarf - den Göttern schreiben wir ja die Fähigkeit zu, alles zu überblicken. In den Geschehnissen darf nichts Ungereimtes enthalten sein, allenfalls außerhalb der Tragödie, wie z. B. im "Ödipus" des Sophokles. Da die Tragödie Nachahmung von Menschen ist, die besser sind als wir, muß man ebenso verfahren wie die guten Porträtmaler. Denn auch diese geben die individuellen Züge wieder und bilden sie ähnlich und zugleich schöner ab. So soll auch der Dichter, wenn er jähzornige, leichtsinnige und andere mit derartigen Charakterfehlern behaftete Menschen nachahmt, sie als die, die sie sind, und zugleich als rechtschaffen darstellen. So stellt Homer den Achilleus als Muster der Schroffheit und zugleich als tüchtig dar. Dies muß man beachten, und außerdem all das, was sich aus den mit der Dichtkunst notwendigerweise verknüpften Sinneseindrücken" ergibt. Denn auch im Hinblick auf diese Eindrücke kann man oft danebengreifen. Hiervon ist in den veröffentlichten Schriften hinreichend gehandelt worden.


16.

Was die Wiedererkennung ist, wurde schon früher gesagt. Von den Arten der Wiedererkennung hat die erste am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun, und man verwendet sie aus Verlegenheit am häufigsten: die durch Zeichen. Die Zeichen sind zum Teil angeboren, wie "die Lanze, die die Erdgeborenen an sich tragen", oder wie die Sterne im "Thyestes" des Karkinos; zum Teil sind sie erworben, und zwar bald am Körper, wie Narben, bald als äußerer Besitz, wie Halsbänder und wie in der "Tyro" die durch den Kahn bewirkte Wiedererkennung. Man kann diese Zeichen besser oder schlechter verwenden. Odysseus z. B. wird an seiner Narbe auf bestimmte Weise von der Amme erkannt und auf andere Weise von den Sauhirten. Die Wiedererkennungen, die um eines Beweises willen stattfinden - und alle anderen dieser Art -, sind allerdings kunstloser, die hingegen, die mit einer Peripetie zusammenhängen, wie die in den "Niptra", besser. Die zweite Art sind die vom Dichter erdachten, und daher sind sie ebenfalls kunstlos. So gibt Orestes in der "Iphigenie" zu erkennen, daß er Orestes sei; denn während Iphigenie auf Grund des Briefes wiedererkannt wird, sagt Orestes von sich aus, was der Dichter will, und nicht, was die Überlieferung gebietet. Daher kommt dieses Verfahren dem soeben erwähnten Mangel ziemlich nahe; die Person hätte ebensogut auch bestimmte Zeichen an sich tragen können. Dasselbe gilt von der "Stimme" des Weberschiffs im "Tereus" des Sophokles. Die dritte Art vollzieht sich auf Grund der Erinnerung, dadurch, daß man bei einem Anblick etwas bemerkt. So im Falle der "Kyprier" des Dikaiogenes: jemand erblickt das Bild und fängt an zu weinen. Ebenso auch in der Erzählung vor Alkinoos: jemand hört dem Zitherspieler zu, erinnert sich und bricht in Tränen aus. Der eine wie der andere wird daraufhin erkannt. Die vierte Art beruht auf einer Schlußfolgerung. So in den "Choephoren": "Es ist jemand gekommen, der mir ähnelt; mir ähnelt niemand, es sei denn Orestes; also ist Orestes gekommen." So auch im Falle der Erfindung, die der Sophist Polyidos hinsichtlich der Iphigenie gemacht hat: es sei wahrscheinlich, daß Orestes folgere, er werde, da doch schon seine Schwester geopfert worden sei, ebenfalls geopfert werden. Ferner im "Tydeus" des Theodektes: er kommt in der Absicht, seinen Sohn wiederzufinden, und geht selbst zugrunde. Ferner in den "Phineiden": sobald die Frauen den Ort erblicken, schließen sie daraus auf ihr Schicksal, nämlich daß ihnen bestimmt sei, dort zu sterben; dort waren sie auch ausgesetzt worden. Es gibt auch eine Art, die auf einem Fehlschluß des Zuschauers beruht. So im "Odysseus Pseudangelos". Daß er allein den Bogen spannen kann, und sonst niemand, ist vom Dichter erfunden und Voraussetzung, selbst wenn er behauptet, er werde den Bogen erkennen, ohne ihn gesehen zu haben; doch die Annahme, Odysseus werde sich hierdurch zu erkennen geben, ist ein Fehlschluß. Die beste unter allen Wiedererkennungen ist diejenige, die sich aus den Geschehnissen selbst ergibt, indem die Überraschung aus Wahrscheinlichem hervorgeht. So ist es im "Ödipus" des Sophokles und in der "Iphigenie"; denn es ist wahrscheinlich, daß Iphigenie einen Brief zu übergeben wünscht. Denn derartige Wiedererkennungen kommen als einzige ohne die erfundenen Zeichen, wie Halsbänder, aus. Die zweitbesten Wiedererkennungen sind diejenigen, die sich aus einer Schlußfolgerung ergeben.


17.

Man muß die Handlungen zusammenfügen und sprachlich ausarbeiten, indem man sie sich nach Möglichkeit vor Augen stellt. Denn wenn man sie so mit größter Deutlichkeit erblickt, als ob man bei den Ereignissen, wie sie sich vollziehen, selbst zugegen wäre, dann findet man das Passende und übersieht am wenigsten das dem Passenden Widersprechende. Als Beweis hierfür kann der Vorwurf dienen, den man dem Karkinos gemacht hat. Denn sein Amphiaraos trat aus dem Heiligtum hervor - was jemandem, der das Stück nicht sah, verborgen geblieben wäre -, und so fiel das Stück auf der Bühne durch, da die Zuschauer diesen Fehler übelnahmen. Außerdem soll man sich die Gesten der Personen möglichst lebhaft vorstellen. Am überzeugendsten sind bei gleicher Begabung diejenigen, die sich in Leidenschaft versetzt haben, und der selbst Erregte stellt Erregung, der selbst Zürnende Zorn am wahrheitsgetreuesten dar. Daher ist die Dichtkunst Sache von phantasiebegabten oder von leidenschaftlichen Naturen; die einen sind wandlungsfähig, die anderen stark erregbar. Die Stoffe, die überlieferten und die erfundenen, soll man, wenn man sie selbst bearbeitet, zunächst im allgemeinen skizzieren und dann erst szenisch ausarbeiten und zur vollen Länge entwickeln. Was ich unter einem allgemeinen Überblick verstehe, möge das Beispiel der Iphigenie zeigen. Ein Mädchen, das geopfert werden soll, wird auf geheimnisvolle Weise den Opfernden entrückt und in ein anderes Land versetzt, wo es Brauch ist, die Fremden der Göttin zu opfern; sie wird Priesterin dieser Göttin. Einige Zeit später ereignet es sich, daß der Bruder der Priesterin eintrifft. Daß der Gott ihm den Bescheid gegeben hat, dorthin zu gehen, und zu welchem Zweck, liegt außerhalb der Handlung. Er kommt, wird festgenommen, soll geopfert werden und gibt sich zu erkennen (mag man hierbei wie Euripides oder wie Polyidos vorgehen, bei dem der Bruder der Wahrscheinlichkeit gemäß sagt, es müsse offenbar nicht nur die Schwester, sondern auch er selbst geopfert werden), und so kommt es zur Rettung. Daraufhin soll man die Namen einsetzen und das Werk szenisch ausarbeiten. Die Szenen müssen auf die Personen zugeschnitten sein, wie im Falle des Orestes der Wahnsinnsanfall, der zu seiner Festnahme führt, und die Reinigung, die die Rettung bewirkt. In den Dramen sind die Szenen kurz; das Epos hingegen erhält erst durch sie seine Breite. Denn der Stoff der "Odyssee" ist an sich nicht umfangreich. Jemand weilt viele Jahre in der Fremde, wird ständig von Poseidon überwacht und ist ganz allein; bei ihm zu Hause steht es so, daß Freier seinen Besitz verzehren und seinem Sohne nachstellen. Er kehrt nach schweren Bedrängnissen zurück und gibt sich einigen Personen zu erkennen; er fällt über seine Feinde her, bleibt selbst unversehrt und vernichtet die Feinde. Das ist das, was unbedingt zum Stoff gehört; alles übrige ist Ausgestaltung im einzelnen.


18.

Jede Tragödie besteht aus Verknüpfung und Lösung. Die Verknüpfung umfaßt gewöhnlich die Vorgeschichte und einen Teil der Bühnenhandlung, die Lösung den Rest. Unter Verknüpfung verstehe ich den Abschnitt vom Anfang bis zu dem Teil, der der Wende ins Glück oder ins Unglück unmittelbar vorausgeht, unter Lösung den Abschnitt vom Anfang der Wende bis hin zum Schluß. So umfaßt im "Lynkeus" des Theodektes die Verknüpfung die Vorgeschichte, die Ergreifung des Knaben und weiterhin * *; die Lösung reicht vom Mordvorwurf bis zum Ende. Es gibt vier Arten von Tragödien; so groß ist ja auch, wie schon gesagt wurde, die Zahl der Teile. Die eine ist die komplizierte, die ganz und gar aus Peripetie und Wiedererkennung besteht; die zweite die von schwerem Leid erfüllte, wie die Aias- und die Ixion-Tragödien; die dritte ist diejenige, die einen Charakter darstellt, wie die "Phthiotides" und der "Peleus"; an vierter Stelle stehen Stücke wie die "Phorkides", der "Prometheus" und die Unterweltstragödien. Man soll nach Möglichkeit alle Teiles einzubeziehen versuchen, jedenfalls aber die wichtigsten und meisten, vor allem im Hinblick darauf, wie man jetzt den Dichtern am Zeuge flickt. Denn es hat für jeden Teil vorzügliche Dichter gegeben, und da verlangt man nun, daß ein einzelner Dichter den besonderen Vorzug eines jeden Vorgängers übertrifft. Die Feststellung, ob eine Tragödie mit einer anderen vergleichbar sei oder nicht, kann man auf Grund von keiner Gegebenheit mit demselben Recht treffen wie auf Grund der Handlung. Dies ist der Fall, wenn der Knoten und die Lösung vergleichbar sind. Viele schürzen den Knoten vortrefflich und lösen ihn schlecht wieder auf; man muß jedoch beides miteinander in Übereinstimmung bringen. Man darf auch nicht außer acht lassen, was schon wiederholt gesagt wurde, und darf kein episches Handlungsgefüge zu einer Tragödie machen (unter "episch" verstehe ich Handlungsvielfalt), wie wenn jemand die gesamte Handlung der "Ilias" bearbeiten wollte. Denn im Epos erhalten die Teile wegen der Ausdehnung des Ganzen die passende Größe; in Dramen jedoch ist das Ergebnis in vielem der Erwartung entgegengesetzt. Ein Beweis ist, daß diejenigen, die die gesamte "Iliu Persis" - und nicht nur einen Teil wie Euripides - oder die gesamte "Niobe" - im Gegensatz zu Aischylos - bearbeitet haben, teils durchgefallen sind und teils schlecht abgeschnitten haben; denn auch Agathon ist einzig und allein wegen dieses Fehlers durchgefallen. In den Peripetien jedoch und in den einfachen Ereignisfolgen erreichen die Dichter in erstaunlichem Maße, was sie erstreben, d. h. das Tragische und das Menschenfreundliche. Dies wird dann bewirkt, wenn jemand, der klug, aber zugleich auch schlecht ist, betrogen wird, wie Sisyphos, und wenn jemand, der tapfer und zugleich ungerecht ist, unterliegt. Das entspricht auch - einem Ausspruch des Agathon gemäß der Wahrscheinlichkeit; denn es ist wahrscheinlich, daß sich vieles gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt. Den Chor muß man ebenso einbeziehen wie einen der Schauspieler, und er muß ein Teil des Ganzen sein und sich an der Handlung beteiligen nicht wie bei Euripides, sondern wie bei Sophokles. Bei den übrigen Dichtern vollends gehören die gesungenen Partien um nichts mehr zur jeweiligen Handlung als zu irgendeiner anderen Tragödie; sie lassen Einlagen singen, nachdem Agathon als erster damit angefangen hatte. Doch was macht es für einen Unterschied, ob man nun Einlagen singen läßt oder - nehmen wir einmal diesen Fall an - eine Rede von einem Stück auf ein anderes übertragt, oder gar eine ganze Episode?


19.

Die anderen Teile haben wir nunmehr behandelt; so bleibt übrig, über die sprachliche Form und die Gedankenführung zu reden. Was nun mit der Gedankenführung zusammenhängt, so sei hierfür vorausgesetzt, was sich darüber in den Schriften zur Rhetorik findet; denn sie ist eher ein Teil jener Disziplin. Zur Gedankenführung gehört, was mit Hilfe von Worten zubereitet werden soll. Teile davon sind das Beweisen und Widerlegen und das Hervorrufen von Erregungszuständen, wie von Jammer oder Schaudern oder Zorn und dergleichen mehr, ferner das Verfahren, einem Gegenstande größere oder geringere Bedeutung zu verleihen. Es ist offensichtlich, daß man auch bei den Geschehnissen von denselben Verfahren Gebrauch machen muß, wenn es darum geht, diese Geschehnisse als jammervoll oder furchtbar oder groß oder wahrscheinlich hinzustellen. Allerdings besteht insofern ein Unterschied, als sich diese Wirkungen bei Geschehnissen ohne lenkende Hinweise einstellen müssen, während sie bei allem, was auf Worten beruht, vom Redenden hervorgerufen und durch die Rede erzeugt werden müssen. Denn welche Aufgabe hätte der Redende noch, wenn sich die angemessene Wirkung auch ohne Worte einstellte? Zum Bereich der sprachlichen Form gehören als ein Gegenstand der Untersuchung - die Arten der Aussage (diese zu kennen, ist jedoch Aufgabe der Vortragskunst und dessen, der diese Kunst beherrscht), wie z. B., was ein Befehl ist und was eine Bitte, ein Bericht, eine Drohung, eine Frage und eine Antwort, und was es sonst noch an derartigem gibt. Wegen der Kenntnis oder Unkenntnis in diesen Dingen kann man der Dichtkunst allerdings keinerlei Vorwurf machen, der der Rede wert wäre. Denn was soll man schon für einen Fehler in dem erblicken, was Protagoras rügt: daß der Dichter, in der Meinung, eine Bitte auszusprechen, in Wahrheit eine Weisung gebe, wenn er sage "Singe, Göttin, den Zorn"; denn der Befehl, behauptet Protagoras, etwas zu tun oder zu unterlassen, sei eine Weisung. Deswegen können wir das auf sich beruhen lassen; es ist Gegenstand einer anderen Disziplin, und nicht der Dichtkunst.


20.

Die Sprache überhaupt gliedert sich in folgende Elemente: Buchstabe, Silbe, Konjunktion, Artikel, Nomen, Verb, Kasus, Satz. Ein Buchstabe ist ein unteilbarer Laut, nicht jeder beliebige, sondern ein solcher, aus dem sich ein zusammengesetzter Laut bilden läßt. Denn auch Tiere geben unteilbare Laute von sich, von denen ich jedoch keinen als Buchstaben bezeichne. Die Arten der Buchstaben sind der Vokal, der Halbvokal und der Konsonant. Ein Vokal ist, was ohne Gegenwirkung der Zunge oder der Lippen einen hörbaren Laut ergibt, ein Halbvokal ist, was mit einer solchen Gegenwirkung einen hörbaren Laut ergibt, wie das S und das R; ein Konsonant ist, was mit dieser Gegenwirkung für sich keinen Laut ergibt, wohl aber in Verbindung mit Buchstaben hörbar wird, die für sich einen hörbaren Laut ergeben, wie das G und das D. Diese Buchstaben unterscheiden sich je nach der Formung des Mundes und nach der Artikulationsstelle, nach der Aspiration und deren Fehlen, nach Länge und Kürze, ferner nach Höhe, Tiefe und mittlerer Lage. Diese Dinge im einzelnen zu untersuchen, ist Aufgabe metrischer Abhandlungen. Eine Silbe ist ein Laut ohne Bedeutung, zusammengesetzt aus einem Konsonanten und einem Buchstaben, der einen Laut ergibt; denn GR ohne A ist eine Silbe, und ebenso GR mit A, also GRA. Doch auch diese Unterschiede zu untersuchen, ist Sache der Metrik. Eine Konjunktion ist ein Laut ohne Bedeutung, der einen aus mehreren Lauten zusammengesetzten, bedeutungshaften Laut weder verhindert noch herstellt, den man an den Anfang und das Ende sowie in die Mitte eines Satzes stellen kann, jedoch in manchen Fällen dann nicht an den Anfang, wenn der Satz für sich steht, wie z. B. im Falle von men, etoi, de. Oder sie ist ein Laut ohne Bedeutung, der aus mindestens zwei bedeutungshaften Lauten einen einzigen bedeutungshaften Laut herstellt, wie amphi, peri usw. Ein Artikel ist ein Laut ohne Bedeutung, der * * *. Ein Nomen ist ein zusammengesetzter, bedeutungshafter Laut, ohne Zeitbestimmung, von dem kein Teil an sich bedeutungshaft ist. Denn in den zwiefachen Nomina verwenden wir den einzelnen Teil nicht so, als ob er auch an und für sich bedeutungshaft wäre; so hat z. B. in Theodoros der Teil doron keine Bedeutung. Ein Verb ist ein zusammengesetzter, bedeutungshafter Laut, mit einer Zeitbestimmung, von dem kein Teil für sich etwas bedeutet, wie im Falle der Nomina. Denn "Mensch" oder "weiß" enthalten keine Zeitbestimmung; bei "er geht" oder "er ist gegangen" hingegen kommt eine Zeitbestimmung hinzu, und zwar einerseits für die Gegenwart, andererseits für die Vergangenheit. Ein Kasus findet sich beim Nomen oder beim Verb. Er bezeichnet entweder Beziehungen wie "dieses" oder "diesem" usw., oder die Einheit oder Vielheit, wie "Menschen" oder "Mensch", oder Ausdrucksweisen, wie Frage oder Gebot; denn Ausdrücke wie "Ging er?" oder "Geh!" sind Kasus eines Verbs nach den zuletzt genannten Kategorien. Ein Satz ist ein zusammengesetzter, bedeutungshafter Laut, von dem einige Teile an sich etwas bedeuten (allerdings ist nicht jeder Satz aus Verben und Nomina zusammengesetzt; vielmehr kann ein Satz - wie z. B. die Definition des Menschen - auch ohne Verben sein; doch irgendein Teil von ihm ist stets bedeutungshaft), wie z. B. Kleon in dem Satz "Kleon geht". Ein Satz ist auf zwiefache Weise eine Einheit. Denn entweder bezeichnet er einen einzigen Gegenstand, oder er besteht aus der Verknüpfung von mehreren Teilen. Die "Ilias" z. B. ist durch Verknüpfung eine Einheit, die Definition des Menschen dadurch, daß sie einen Gegenstand bezeichnet.

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