Lyrikinterpretation: Materialien


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Aristoteles: Von der Dichtkunst

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21.

Die Wörter sind ihrer Art nach teils einfach (als einfach bezeichne ich ein Wort, das nicht aus Bedeutungshaftem zusammengesetzt ist, wie ge), teils zwiefach. Von den zwiefachen Wörtern sind die einen aus einem bedeutungshaften Teil und einem Teil ohne Bedeutung (wobei zu beachten ist, daß diese Teile nicht innerhalb des Wortes eine besondere Bedeutung haben oder nicht haben), die anderen aus bedeutungshaften Teilen zusammengesetzt. Es gibt auch dreifache, vierfache und aus vielen Teilen zusammengesetzte Wörter, wie zahlreiche Ausdrücke der Massalioten: Hermokaikoxanthos * * *. Jedes Wort ist entweder ein üblicher Ausdruck, oder eine Glosse, oder eine Metapher, oder ein Schmuckwort, oder eine Neubildung, oder eine Erweiterung, oder eine Verkürzung, oder eine Abwandlung. Als üblichen Ausdruck bezeichne ich das Wort, das ein jeder selbst gebraucht, als Glosse dasjenige, das andere gebrauchen. Offensichtlich kann also dasselbe Wort sowohl üblicher Ausdruck als auch Glosse sein, aber nicht bei denselben Leuten; denn sigynon ist bei den Kypriern ein üblicher Ausdruck, bei uns eine Glosse. Eine Metapher ist die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf eine andere, oder nach den Regeln der Analogie. Von der Gattung auf die Art, darunter verstehe ich z. B. "Mein Schiff steht still"; das Vor-Anker-Liegen ist nämlich eine Art Stillstehen. Von der Art auf die Gattung: "Wahrhaftig, zehntausend gute Dinge hat Odysseus schon vollbracht"; zehntausend ist nämlich viel, und an Stelle von "viel" wird das Wort hier verwendet. Von einer Art auf die andere, wie z. B.: "Mit dem Erz die Seele abschöpfend", und "Abschneidend mit dem unverwüstlichen Erzgefäß"; denn hier nennt der Dichter das Abschöpfen ein "Abschneiden", das Abschneiden hingegen ein "Abschöpfen"; beides sind Arten des Wegnehmens. Unter einer Analogie verstehe ich eine Beziehung, in der sich die zweite Größe zur ersten ähnlich verhält wie die vierte zur dritten. Dann verwendet der Dichter statt der zweiten Größe die vierte oder statt der vierten die zweite; und manchmal fügt man hinzu, auf was sich die Bedeutung bezieht, für die das Wort eingesetzt ist. So verhält sich z. B. eine Schale ähnlich zu Dionysos wie ein Schild zu Ares; der Dichter nennt also die Schale "Schild des Dionysos" und den Schild "Schale des Ares". Oder das Alter verhält sich zum, Leben, wie der Abend zum Tag; der Dichter nennt also den Abend "Alter des Tages", oder, wie Empedokles, das Alter "Abend des Lebens" oder Sonnenuntergang des Lebens". In manchen Fällen fehlt eine der Bezeichnungen, auf denen die Analogie beruht; nichtsdestoweniger verwendet man den analogen Ausdruck. So heißt z. B. das Ausstreuen von Samen "säen; für die Tätigkeit der Sonne hingegen, die ihr Licht ausstreut, gibt es keine spezielle Bezeichnung. Doch verhält sich diese Tätigkeit ähnlich zum Sonnenlicht wie das Säen zum Samen; man hat daher gesagt: "Säend das göttliche Licht". Man kann diese Art der Metapher auch anders verwenden: man benennt etwas mit einem uneigentlichen Ausdruck und verneint eines der Merkmale, die diesem Ausdruck von Hause aus zukommen, wie wenn man z. B. den Schild als "Becher" bezeichnen wollte, aber nicht "des Ares", sondern "ohne Wein". Eine Neubildung ist, was, ohne daß es je von irgend jemandem gebraucht worden wäre, vom Dichter geprägt wird. Denn einige Bezeichnungen scheinen von dieser Art zu sein, wie ernyges für das Geweih und areter für den Priester. Eine Erweiterung oder Verkürzung liegt vor, wenn einerseits ein Wort einen längeren Vokal enthält, als üblich ist, oder wenn eine Silbe eingeschoben ist, und wenn andererseits etwas von einem Wort weggenommen worden ist. Erweiterungen sind z B. poleos für poleos und Peleiadeo für Peleideo; Verkürzungen sind z. B. kri und do und mia ginetai amphoteron ops. Eine Abwandlung liegt vor, wenn man einerseits von dem gewöhnlichen Wort etwas wegläßt und andererseits etwas hinzutut, wie z. B. dexiteron kata mazon, wo dexiteron für dexion steht. Von den Nomina sind die einen männlich, die anderen weiblich und die dritten zwischen beidem. Männlich sind die Nomina, die auf N, R und S sowie auf die Buchstaben enden, die mit Hilfe eines S zusammengesetzt sind (das sind zwei, PS und X); weiblich sind die, die auf die stets langen Vokale enden, d. h. auf E und O, sowie - von den Vokalen, die bald kurz, bald lang sind - die auf A. Demnach ist die Zahl der Laute gleich, auf die männliche und weibliche Nomina enden können (PS und X sind ja zusammengesetzt). Auf einen Konsonanten endet kein Nomen, und auch nicht auf einen kurzen Vokal. Auf I enden nur drei, nämlich meli, kommi, peperi, und auf Y fünf, nämlich * * *. Die Nomina zwischen Männlich und Weiblich enden auf die genannten Vokale sowie auf N und S.


22.

Die vollkommene sprachliche Form ist klar und zugleich nicht banal. Die sprachliche Form ist am klarsten, wenn sie aus lauter üblichen Wörtern besteht; aber dann ist sie banal. Beispiele sind die Dichtungen des Kleophon und des Sthenelos. Die sprachliche Form ist erhaben und vermeidet das Gewöhnliche, wenn sie fremdartige Ausdrücke verwendet. Als fremdartig bezeichne ich die Glosse, die Metapher, die Erweiterung und überhaupt alles, was nicht üblicher Ausdruck ist. Doch wenn jemand nur derartige Wörter verwenden wollte, dann wäre das Ergebnis entweder ein Rätsel oder ein Barbarismus: wenn das Erzeugnis aus Metaphern besteht, ein Rätsel, wenn es aus Glossen besteht, ein Barbarismus. Denn das Wesen des Rätsels besteht darin, unvereinbare Wörter miteinander zu verknüpfen und hiermit gleichwohl etwas wirklich Vorhandenes zu bezeichnen. Dies läßt sich nicht erreichen, wenn man andere Arten von Wörtern zusammenfügt, wohl aber, wenn es Metaphern sind, z. B. "Ich sah einen Mann, der mit Feuer Erz auf einen Mann klebte" und dergleichen mehr. Aus Glossen ergibt sich der Barbarismus. Man muß also die verschiedenen Arten irgendwie mischen. Denn die eine Gruppe bewirkt das Ungewöhnliche und Nicht-Banale, nämlich die Glosse, die Metapher, das Schmuckwort und alle übrigen genannten Arten; der übliche Ausdruck hingegen bewirkt Klarheit. Durchaus nicht wenig tragen sowohl zur Klarheit als auch zur Ungewöhnlichkeit der sprachlichen Form die Erweiterungen und Verkürzungen und Abwandlungen der Wörter bei. Denn dadurch, daß sie anders beschaffen sind als der übliche Ausdruck und vom Gewohnten abweichen, bewirken sie das Ungewöhnliche, dadurch aber, daß sie dem Gewohnten nahestehen, die Klarheit. Daher haben diejenigen unrecht, die eine solche Ausdrucksweise verwerfen und sich über den Dichter lustig machen, wie es der ältere Eukleides getan hat. Der behauptete nämlich, es sei leicht zu dichten, wenn es erlaubt sei, die Worte nach Belieben zu erweitern, und er parodierte den Dichter in eben diesem Sprachgebrauch: Epicharen eidon Marathonade badizonta und uk an geramenos ton ekeinu elleboron. Derlei Erweiterungen derart auffällig zu gebrauchen, ist lächerlich; hierbei maßvoll zu verfahren, ist die Regel, die für alle diese Wortarten gemeinsam gilt. Denn wenn man Metaphern und Glossen und die übrigen Arten unpassend verwendet, dann erreicht man dieselbe Wirkung, wie wenn man sie eigens zu dem Zweck verwendet, Gelächter hervorzurufen. Wie sehr sich hiervon der angemessene Gebrauch unterscheidet, kann man am Epos beobachten, indem man die üblichen Wörter in den Vers einfügt. Wenn man nämlich die Glossen und Metaphern und die übrigen Arten durch die üblichen Wörter ersetzt, dann kann man erkennen, daß wir richtig urteilen. So haben Aischylos und Euripides denselben iambischen Vers verwendet, wobei Euripides nur ein Wort veränderte, indem er einen üblichen, gewohnten Ausdruck durch eine Glosse ersetzte; der eine Vers klingt schön, der andere gewöhnlich. Aischylos hatte nämlich in seinem "Philoktet" geschrieben: phagedainan he mu sarkas esthiei podos; Euripides ersetzte esthiei durch thoinatai. Derselbe Unterschied ergibt sich, wenn man in dem Vers nyn de meon oligos te kai utidanos kai aeikes die üblichen Ausdrücke einsetzt: nyn de m'eon mikros te kai asthenikos kai aeides. Ebenso verhält es sich, wenn man den Vers diphron aeikelion katatheis oligen te trapezan wie folgt verändert: diphron mochtheron katatheis mikrn te trapezan. Ebenso verhalten sich zueinander: eiones booosin und eiones krazusin. Außerdem hat Ariphrades die Tragödiendichter verspottet: sie gebrauchten Ausdrücke, die niemand in der Umgangssprache verwende, wie z. B. domaton apo statt apo domaton, ferner sethen und ego de nin sowie Achilleos pevi statt peri Achilleos und dergleichen mehr. Indes, da alle diese Wendungen nicht zum Üblichen gehören, bewirken sie in der sprachlichen Form das Ungewöhnliche; Ariphrades jedoch hat hiervon nichts gewußt. Es ist wichtig, daß man alle die genannten Arten passend verwendet, auch die zwiefachen Wörter und die Glossen; es ist aber bei weitem das Wichtigste, daß man Metaphern zu finden weiß. Denn dies ist das Einzige, das man nicht von einem anderen erlernen kann, und ein Zeichen von Begabung. Denn gute Metaphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag. Von den Wörtern sind die zwiefachen vor allem dem Dithyrambos angemessen, die Glossen den heroischen und die Metaphern den iambischen Versen. In den heroischen Versen ist allerdings alles verwendbar, was hier behandelt worden ist. Da die jambischen Verse nach Möglichkeit die Umgangssprache nachahmen, sind dort alle die Wörter angemessen, die man auch in der Alltagsrede verwenden würde; dergleichen sind der übliche Ausdruck, die Metapher und das Schmuckwort. Über die Tragödie und die Nachahmung durch Handeln haben wir jetzt genug gesagt.


23.

Was die erzählende und nur in Versen nachahmende Dichtung angeht, so ist folgendes klar: man muß die Fabeln wie in den Tragödien so zusammenfügen, daß sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen bewirken kann. Außerdem darf die Zusammensetzung nicht der von Geschichtswerken gleichen; denn dort wird notwendigerweise nicht eine einzige Handlung, sondern ein bestimmter Zeitabschnitt dargestellt, d. h. alle Ereignisse, die sich in dieser Zeit mit einer oder mehreren Personen zugetragen haben und die zueinander in einem rein zufälligen Verhältnis stehen. Denn wie die Seeschlacht bei Salamis und die Schlacht der Karthager auf Sizilien um dieselbe Zeit stattfanden, ohne doch auf dasselbe Ziel gerichtet zu sein, so folgt auch in unmittelbar aneinander anschließenden Zeitabschnitten oft genug ein Ereignis auf das andere, ohne daß sich ein einheitliches Ziel daraus ergäbe. Und beinahe die Mehrzahl der Dichter geht in dieser Weise vor. Daher kann Homer, wie wir schon sagten, auch aus folgendem Grunde im Vergleich zu den anderen Epikern als göttlich gelten: er hat sich gehütet, den ganzen Krieg dazu stellen, obwohl dieses Geschehen einen Anfang und ein Ende hatte. Die Handlung wäre dann nämlich allzu umfangreich und somit unübersichtlich geworden, oder sie wäre, wenn sie hinsichtlich der Ausdehnung das richtige Maß gewahrt hätte, wegen ihrer Mannigfaltigkeit überkompliziert ausgefallen. Er hat sich daher einen einzigen Teil vorgenommen und die anderen Ereignisse in zahlreichen Episoden behandelt, wie im Schiffskatalog und in den übrigen Episoden, durch die er seine Dichtung auseinanderzieht. Bei den anderen Epikern hingegen geht es um einen einzigen Helden oder um einen einzigen Zeitabschnitt, oder auch um eine einzige Handlung, die indes aus vielen Teilen besteht, wie etwa beim Dichter der "Kyprien" und dem der "Kleinen Ilias". Daher kann man aus der "Ilias" und der "Odyssee" nur je eine Tragödie oder höchstens zwei machen, aus den "Kyprien" hingegen viele, und aus der "Kleinen Ilias" mehr als acht, z. B. "Das Waffengericht", "Philoktet", "Neoptolemos", "Eurypylos", "Der Bettelgang", "Die Spartanerinnen", "Die Zerstörung Ilions", "Die Abfahrt", "Sinon", "Die Troerinnen".


24.

Ferner finden sich im Epos notwendigerweise dieselben Arten wie in der Tragödie: ein Epos ist entweder einfach oder kompliziert oder auf Charakterdarstellung bedacht oder von schwerem Leid erfüllt. Ferner sind die Teile dieselben, abgesehen von Melodik und Inszenierung. Das Epos bedarf nämlich auch der Peripetien und Wiedererkennungen und schweren Unglücksfälle: ferner müssen die Gedankenführung und die Sprache von guter Beschaffenheit sein. Homer hat alle diese Elemente als erster und in zulänglicher Weise verwendet. Denn von seinen beiden Dichtungen ist die eine, die "Ilias", so zusammengefügt, daß sie einfach und von schwerem Leid erfüllt ist, die andere, die "Odyssee", so, daß sie kompliziert (denn sie ist als Ganzes Wiedererkennung) und auf Charakterdarstellung bedacht ist. Außerdem hat Homer in der Sprache und der Gedankenführung alle anderen übertroffen. Das Epos unterscheidet sich von der Tragödie in der Ausdehnung des Handlungsgefüges und im Versmaß. Die richtige Begrenzung der Ausdehnung ist die angegebene: man muß das Werk von Anfang bis Ende überblicken können. Das dürfte der Fall sein, wenn das Handlungsgefüge weniger groß ist als das der alten Epen und in etwa dem Umfang so vieler Tragödien entspricht, wie in einer und derselben Aufführung gebracht werden. Das Epos hat eine wichtige, ihm eigentümliche Möglichkeit, den Umfang auszudehnen. Denn in der Tragödie kann man nicht mehrere Teile der Handlung, die sich gleichzeitig abspielen, nachahmen, sondern nur den Teil, der auf der Bühne stattfindet und den die Schauspieler darstellen. Im Epos hingegen, das ja Erzählung ist, kann man sehr wohl mehrere Handlungsabschnitte bringen, die sich gleichzeitig vollziehen; diese Abschnitte steigern, wenn sie mit der Haupthandlung zusammenhängen, die Feierlichkeit des Gedichtes. Dieser Vorteil gestattet es dem Epos, Großartigkeit zu erreichen, dem Zuhörer Abwechslung zu verschaffen und verschiedenartige Episoden einzubeziehen. Denn es ist ja die Gleichförmigkeit, die, da sie rasch Sättigung hervorruft, bewirkt, daß die Tragödien durchfallen. Das heroische Versmaß hat sich auf Grund der Erfahrung als angemessen erwiesen. Wenn nämlich jemand in einem anderen oder gar in verschiedenen Versmaßen eine Nachahmung durch Erzählung zustandebringen wollte, dann würde sich das als unpassend erweisen. Denn das heroische Maß ist das erhabenste und feierlichste unter allen Maßen; deshalb ertragt es auch Glossen und Metaphern besonders gut (auch in dieser Hinsicht ist nämlich die Nachahmung durch Erzählung den übrigen Arten der Nachahmung überlegen). Der Jambus und der Tetrameter sind bewegte Maße, der Tetrameter für den Tanz, der Jambus für die Handlung. Es wäre noch sonderbarer, wenn jemand die Versmaße mischen wollte, wie Chairemon. Daher hat niemand ein großes Handlungsgefüge in einem anderen Versmaß verfaßt als dem heroischen; doch, wie gesagt, die Natur selbst lehrt, das hierfür Angemessene zu wählen. Homer verdient in vielen Dingen Lob, insbesondere auch darin, daß er als einziger Dichter nicht verkennt, wie er zu verfahren hat. Der Dichter soll nämlich möglichst wenig in eigener Person reden; denn insoweit ist er nicht Nachahmer. Die anderen Dichter setzen sich fortwährend selbst in Szene und ahmen nur weniges und nur selten nach. Homer dagegen läßt nach kurzer Einleitung sofort einen Mann oder eine Frau oder eine andere Person auftreten; hiervon ist keine ohne Charakter, vielmehr eine jede mit einem Charakter begabt. Man muß zwar auch in den Tragödien dem Wunderbaren Einlaß gewähren. Indes, das Ungereimte, die Hauptquelle des Wunderbaren, paßt besser zum Epos, weil man den Handelnden nicht vor Augen hat. So würden die Begleitumstände der Verfolgung Hektors auf der Bühne lächerlich wirken: die Griechen stehen da und beteiligen sich nicht an der Verfolgung; Achilleus jedoch warnt sie durch Kopfschütteln. Im Epos hingegen bemerkt man solche Dinge nicht. Das Wunderbare bereitet Vergnügen; ein Beweis dafür ist, daß jedermann übertreibt, wenn er eine Geschichte erzählt, in der Annahme, dem Zuhörer hiermit einen Gefallen zu erweisen. Homer hat den übrigen Dichtern auch besonders gut gezeigt, wie man Täuschungen anbringen kann. Es handelt sich hierbei um den Fehlschluß. Wenn nämlich, sobald eine Tatsache A vorliegt oder eintritt, infolgedessen auch eine Tatsache B vorliegt oder eintritt, dann meinen die Leute, daß, wenn B vorliegt, auch A vorliege oder eintrete; dies ist ein Irrtum. Daher muß man, wenn A unwahr ist und B, falls A vorläge, ebenfalls mit Notwendigkeit vorläge oder einsähe, B hinzufügen; denn da unser Verstand weiß, daß B wahr ist, begeht er den Fehlschluß, auch A für wirklich zu halten. Ein Beispiel hierfür findet sich in den "Niptra". Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist. Die Fabeln dürfen nicht aus ungereimten Teilen zusammengefügt sein, sondern sollen nach Möglichkeit überhaupt nichts Ungereimtes enthalten. Wenn Ungereimtes unvermeidlich ist, dann soll es außerhalb der eigentlichen Handlung liegen, wie im Falle des "Ödipus", wo der Held nicht weiß, wie Laios umkam. Es darf hingegen nicht innerhalb der Bühnenhandlung stattfinden, wie in der "Elektra" bei den Leuten, die von den pythischen Spielen berichten, oder in den "Mysern" bei dem Manne, der, ohne ein Wort zu sagen, von Tegea nach Mysien gelangt. Es ist daher lächerlich zu behaupten, daß die Handlung ohne solche Dinge zerstört würde; man muß sich nämlich von vorneherein davor hüten, solche Handlungen zusammenzufügen. Wenn man es gleichwohl tut, dann soll die Handlung einigermaßen glaubwürdig wirken; unter dieser Voraussetzung ist auch Sonderbares zulässig. So würden sich die Ungereimtheiten, die sich in der Geschichte von der Aussetzung in der "Odyssee" finden, als unerträglich erweisen, wenn ein schlechter Dichter sich ihrer angenommen hätte. Homer hingegen weiß sie zu verbergen, indem er das Sonderbare durch seine übrigen Vorzüge anziehend macht. Um die Sprache muß man sich vor allem in den Abschnitten bemühen, die ohne Handlung sind und weder Charaktere noch Gedankliches enthalten. Andererseits verdunkelt eine allzu blendende Sprache die Charaktere und die Gedankenführung.


25.

Was die Probleme und ihre Lösungen angeht, so dürfte wohl aus der folgenden Betrachtung deutlich werden, wie viele und was für Arten es davon gibt. Da der Dichter ein Nachahmer ist, wie ein Maler oder ein anderer bildender Künstler, muß er von drei Nachahmenswerten, die es gibt, stets eine befolgen: er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, daß sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten. All dies wiederum wird in einer sprachlichen Form ausgedrückt, in der Glossen und Metaphern und viele Veränderungen der Sprache enthalten sind; denn dies gestehen wir ja den Dichtern zu. Außerdem ist die Richtigkeit in der Dichtkunst nicht ebenso beschaffen wie in der Staatskunst, und überhaupt ist sie in der Dichtkunst nicht so beschaffen wie in irgendeiner anderen Disziplin. Im ganzen gibt es in der Dichtkunst zwei Arten von Fehlern: die eine bezieht sich auf die Dichtkunst an sich, die andere auf etwas, das die Dichtkunst nur zufällig berührt. Denn wenn sich ein Dichter etwas richtig vorgestellt hat, um es nachzuahmen, und er es aus Unfähigkeit nicht richtig nachahmt, dann liegt ein Fehler der Dichtkunst selber vor. Wenn er sich jedoch etwas nicht richtig vorgestellt hat, z. B. ein Pferd, das gleichzeitig seine beiden rechten Beine nach vorn wirft, oder wenn er nach Maßgabe einer bestimmten Disziplin, z. B. der Medizin oder einer anderen Wissenschaft, einen Fehler gemacht hat, oder wenn er irgendwelche Dinge dargestellt hat, die unmöglich sind, dann liegt kein Fehler in der Dichtkunst an sich vor. Von diesen Dingen muß man ausgehen, wenn man die Einwände widerlegen will, die in den Problemen enthalten sind. Zunächst die Fälle, die die Dichtkunst selbst betreffen. Wenn ein Dichter Unmögliches darstellt, liegt ein Fehler vor. Doch hat es hiermit gleichwohl seine Richtigkeit, wenn die Dichtung auf diese Weise den ihr eigentümlichen Zweck erreicht (wir haben ja diesen Zweck erwähnt), wenn sie so entweder dem betreffenden Teil selbst oder einem anderen Teil ein stärkeres Moment der Erschütterung verleiht. Ein Beispiel ist die Verfolgung Hektors. Wenn sich jedoch der Zweck ohne Verstoß gegen die jeweils zuständige Disziplin besser oder nicht schlechter hätte erreichen lassen, dann liegt eine Unrichtigkeit vor. Man soll nämlich, wenn möglich, überhaupt keinen Fehler begehen. Ferner: von welcher Art ist der Fehler; bezieht er sich auf die Dichtkunst selbst oder auf etwas anderes, das zufälligen Charakter hat! Der Fehler ist nämlich geringer, wenn jemand nicht wußte, daß die Hirschkuh kein Geweih hat, als wenn er ein Gemälde angefertigt hat, das seinen Gegenstand schlecht nachahmt. Außerdem: wenn der Vorwurf erhoben wird, es sei etwas nicht wirklichkeitsgetreu dargestellt, dann kann man vielleicht einwenden, es sei dargestellt, wie es sein sollte; d. h., wie auch Sophokles erklärt hat, er selbst stelle Menschen dar, wie sie sein sollten, Euripides, wie sie seien, so muß man auch diesen Fall lösen. Wenn aber keines von beiden zutrifft, dann kann man einwenden, man stelle etwas so dar, wie es der allgemeinen Auffassung entspricht, z. B. bei den Geschichten von den Göttern. Denn vielleicht kann man weder, indem man sie als besser hinstellt, noch wirklichkeitsgetreu von ihnen reden, aber möglicherweise so, wie Xenophanes meint: man sagt eben so. Anderes kann man vielleicht nicht als besser hinstellen, aber so wiedergeben, wie es einmal war, z. B. bei der Bewaffnung. "Ihre Lanzen waren senkrecht auf dem Schaft aufgestellt": so war es damals üblich, wie noch jetzt bei den Illyriern. Was die Frage betrifft, ob eine Rede oder Handlung einer Person rechtschaffen ist oder nicht, so muß man nicht nur auf die Handlung oder Rede selbst achten und prüfen, ob sie gut oder schlecht ist, sondern auch auf den Handelnden oder Redenden, an wen er sich wendet, oder wann oder für wen oder zu welchem Zweck er handelt oder redet, ob er z. B. ein größeres Gut erlangen oder ein größeres Übel vermeiden Andere Probleme muß man im Hinblick auf die sprachliche Form lösen, etwa mit Hilfe von Glossen: ureas men prototz; denn vielleicht meint Homer nicht die Maultiere, sondern die Wächter. Und wenn er von Dolon sagt "der zwar häßlich war von Gestalt", dann meint er keinen verwachsenen Körper, sondern ein häßliches Gesicht. Denn die Kreter verstehen unter "wohlgestaltet" ein schönes Gesicht. Und wenn es heißt: zoroteron de keraie, dann soll der Wein nicht unvermischt gereicht werden, wie für Säufer, sondern schneller. Anderes ist metaphorisch gemeint, wie z. B : "Alle Götter und Menschen schliefen die ganze Nacht." Denn an derselben Stelle sagt der Dichter: "Wenn er auf die troische Ebene blickte, (staunte er) über den Schall von Flöte und Syrinx." "Alle" ist hier demnach metaphorisch statt "viele" verwendet; denn "alles" ist ein Fall von "viel". Auch "er allein taucht nicht unter" ist metaphorisch; man spricht bei dem am besten Bekannten von "allein". Manches muß man mit Hilfe der Betonung lösen; so erklärte Hippias von Thasos die Stellen didornen de hoi euchos aresthai und to men hu katapjthetai ombro. Manches löst man mit Hilfe einer Pause, wie bei Empedokles: "So entstanden schnell sterbliche Dinge, die sich zuvor unsterblich gewußt hatten, und, was unvermischt gewesen war zuvor, mischte sich". Manches mit Hilfe einer Doppeldeutigkeit: "Es ist mehr von der Nacht vergangen"; das "mehr" ist nämlich doppeldeutig. Anderes wieder mit Hilfe des Sprachgebrauchs. So nennt man das aus Wein und Wasser bestehende Mischgetränk schlechtweg "Wein", und der Dichter sagt "eine Beinschiene aus neugefertigtem Zinn". Ferner nennt man diejenigen, die das Eisen bearbeiten, "Kupferschmied", und von Ganymedes wird gesagt, er sei der "Weinschenk" des Zeus, obwohl die Götter keinen Wein trinken. Doch lassen sich diese Beispiele auch als Metaphern erklären. Wenn ein Wort etwas Widersinniges auszudrücken scheint, dann muß man prüfen, wie viele Bedeutungen es an der betreffenden Stelle haben kann. So muß man bei den Worten "dort wurde die eherne Lanze festgehalten" fragen, auf wievielerlei Weise sie dort festgehalten werden konnte, ob so oder so, wie man am ehesten vermuten möchte. Diese Methode ist der entgegengesetzt, von der Glaukon spricht: Einige gehen von einer unsinnigen Voraussetzung aus, und nachdem sie selber diese Voraussetzung gebilligt haben, ziehen sie daraus ihre Schlüsse, und so rügen sie, was der Dichter ihrer Meinung nach gesagt hat, wenn das ihrer vorgefaßten Meinung widerspricht. Das ist im Falle des Ikarios eingetreten. Man glaubt nämlich, er sei Spartaner gewesen; es sei also sonderbar, daß Telemach ihn nicht getroffen habe, als er nach Sparta kam. Doch vielleicht verhält es sich hiermit so, wie die Kephallenier sagen; sie behaupten nämlich, Odysseus habe sich seine Frau von ihnen geholt, und der Vater der Frau heiße Ikadios, nicht Ikarios. Das Problem ist offensichtlich aus einer falschen Voraussetzung erwachsen. Aufs Ganze gesehen muß man das Unmögliche rechtfertigen, indem man entweder auf die Erfordernisse der Dichtung oder auf die Absicht, das Bessere darzustellen, oder auf die allgemeine Meinung zurückgreift. Was die Erfordernisse der Dichtung betrifft, so verdient das Unmögliche, das glaubwürdig ist, den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist. Und wenn es unmöglich sein mag, daß es solche Menschen gibt, wie sie Zeuxis gemalt hat, dann hat er sie eben zum Besseren hin gemalt; das Beispielhafte muß ja die Wirklichkeit übertreffen. Auf das, was die Leute sagen, muß man das Ungereimte zurückführen. Man kann ferner zeigen, daß das Ungereimte bisweilen nicht ungereimt ist; es ist ja wahrscheinlich, daß sich manches auch gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt. Die Stellen, die Widersinniges auszudrücken scheinen, muß man ebenso prüfen, wie man bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen die Gründe des Gegners prüft: ob es sich um dasselbe handelt, und ob sich eine Aussage auf denselben Gegenstand bezieht und ob sie im selben Sinne gilt. Erst dann darf man schließen, daß etwas im Widerspruch zu dem stehe, was entweder der Betreffende ausdrücklich sagt oder was ein vernünftiger Mensch als gegeben voraussetzt. Der Vorwurf der Ungereimtheit und Schlechtigkeit ist berechtigt, wenn ein Dichter ohne zwingenden Grund davon Gebrauch macht, wie Euripides im Falle des Aigeus von Ungereimtem und wie im Falle des Menelaos im "Orestes" von Schlechtigkeit. Die Vorwürfe, die man zu erheben pflegt, lassen sich auf fünf Kategorien zurückführen: daß etwas unmöglich sei oder ungereimt oder sittlich schlecht oder widersinnig oder den Erfordernissen einer Disziplin entgegengesetzt. Die Lösungen lassen sich den angegebenen Gesichtspunkten zwölf an der Zahl - entnehmen.


26.

Man kann sich die Frage stellen, welche Art der Nachahmung die bessere sei, die epische oder die tragische. Wenn nämlich die weniger vulgäre die bessere und wenn das stets diejenige ist, die sich an das bessere Publikum wendet, dann ist klar, daß diejenige, die alles nachahmt, in hohem Maße vulgär ist Denn die Schauspieler befinden sich, in der Annahme, das Publikum könne nicht folgen, wenn sie nicht von sich aus etwas hinzutun, in ständiger Bewegung - wie die schlechten Flötenspieler, die sich drehen, wenn sie einen fliegenden Diskus nachahmen sollen, und den Chorführer mit sich reißen, wenn sie die "Skylla" vorspielen. Die Tragödie träfe dann ein ähnlicher Vorwurf, wie er den späteren Schauspielern von den früheren gemacht wurde; denn Mynisskos nannte Kallippides einen Affen, weil er allzu sehr übertreibe, und in demselben Ruf hat auch Pindaros gestanden. Wie sich nun diese Schauspieler zu ihren Vorgängern verhalten, so verhielte sich hiernach die tragische Kunst überhaupt zur Epik. Diese wendet sich, so wird behauptet, an ein gebildetes Publikum, das der Gesten nicht bedarf, die tragische Kunst hingegen an ein ungebildetes. Wenn sie nun in dieser Weise vulgär ist, dann ist sie offensichtlich die geringere Kunst. Doch erstens richtet sich dieser Vorwurf nicht gegen die Dichtkunst, sondern gegen die Kunst des Interpreten. Denn Übertreibungen in den Ausdrucksmitteln sind auch beim Vortrag eines Epos möglich, wie im Falle des Sosistratos, und beim Wettsingen, wie im Falle des Mnasitheos von Opus. Man darf auch nicht jede Art von bewegter Darstellung für verwerflich halten, da ja auch der Tanz nicht verwerflich ist, sondern nur die von schlechten Darstellern ausgeführte. Dies hat man auch dem Kallippides vorgeworfen und jetzt anderen: sie seien nicht imstande, edle Frauen darzustellen. Zudem tut die Tragödie auch ohne bewegte Darstellung ihre Wirkung, wie die Epik. Denn schon die bloße Lektüre kann ja zeigen, von welcher Beschaffenheit sie ist. Wenn sie nun in den anderen Punkten überlegen ist, dann kommt es bei ihr auf die schauspielerische Darstellung nicht an: diese braucht überhaupt nicht vorhanden zu sein. Zweitens enthält die Tragödie alles, was auch das Epos enthält - sie kann sogar dessen Versmaß verwenden -, und außerdem als nicht geringen Teil die Melodik, die in sehr auffälliger Weise Vergnügen bereitet. Sie hat ferner das Merkmal der Eindringlichkeit, und zwar sowohl bei der Lektüre als auch bei der Aufführung. Außerdem erreicht sie das Ziel der Nachahmung mit einer geringeren Ausdehnung. Das stärker Zusammengefaßte bereitet nämlich mehr Vergnügen als dasjenige, das sich auf eine lange Zeit hin verteilt - nehmen wir z. B. an, jemand wollte den "Ödipus" des Sophokles zu ebensovielen Versen erweitern, wie sie die "Ilias" enthält. Ferner bildet die Nachahmung in Epen weniger eine Einheit (ein Beweis hierfür ist, daß aus jeder beliebigen epischen Nachahmung mehrere Tragödien hervorgehen können). Die Folge ist: wenn sich die epischen Dichter nur eine einzige Handlung vornehmen wollten, dann nähme sich diese entweder kümmerlich aus, wenn sie gedrängt dargestellt wäre, oder wässerig, wenn sie die dem Epos angemessene Länge erhielte. Ich rede hier von einem Epos, das aus mehreren Handlungen zusammengesetzt ist, wie ja die "Ilias" viele derartige Teile enthält, und auch die "Odyssee", Teile, deren jeder für sich genommen eine bestimmte Größe hat. Diese Dichtungen sind indes so vollkommen wie möglich zusammengefügt und in höchstem Maße die Nachahmung einer einzigen Handlung. Wenn sich nun die Tragödie in allen diesen Dingen auszeichnet und überdies noch in der von der Kunst angestrebten Wirkung Epos und Tragödie sollen ja nicht ein beliebiges Vergnügen hervorrufen, sondern das erwähnte -, dann ist klar, daß sie dem Epos überlegen ist, da sie ihre Wirkung besser erreicht als jenes. Soviel sei über die Tragödie und das Epos im allgemeinen gesagt, sowie über deren Arten und Teile, wie viele es sind und worin sie sich unterscheiden, und über die Ursachen des Gelingens und Mißlingens und über mögliche Vorwürfe und deren Widerlegung.

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