Zurück zur modernen Lyrik

Lyrikinterpretation: Materialien


Zurück zur Projektseite

Horaz: Dichtkunst

(2)

Viel Gutes bringen uns die Jahre, wenn
sie kommen, mit, viel nehmen sie uns wieder
so wie sie allgemach zurückgehen.
Der Dichter nehme also wohl in acht,
was jedem Alter zukömmt, daß er nicht
dem Alten eine Jünglings-Rolle, noch
dem Knaben gebe was des Mannes ist!

Die Handlung wird entweder vor den Augen
der Gegenwärtigen abgehandelt, oder bloß
erzählt. Hier sehe sich der Dichter vor!
Was durch die Ohren in die Seele geht
rührt immer schwächer, langsamer, als was
die Augen sehen, deren Zeugnis uns
ganz anders überzeugt, als fremder Mund.

Doch darf darum nicht alles auf die Szene
gebracht sein, sondern manches muß den Augen
entzogen werden, was viel schicklicher,
von einem andern, der als Augenzeuge spricht,
mit Feuer und Begeisterung des Moments
erzählt, auch uns vergegenwärtigt wird.
Medea soll nicht vor dem Chor und Uns
die Kinder würgen, noch der Unmensch Atreus
der Neffen Fleisch vor unsern Augen kochen;
noch wandle Prokne auf der Bühne sich
in eine Schwalb' und Kadmos in den Drachen.

Ein Stück, das oft begehrt zu werden und
zu bleiben wünscht, soll weder weiter als
zum fünften Akt gedehnt, noch kürzer sein.
Auch soll kein Gott sich in die Handlung mischen,
wofern der Knoten seine Zwischenkunft
nicht unvermeidlich macht und - ihrer würdig ist:
noch soll der Dichter seine Szene (gegen
der großen Meister Beispiel) mit der vierten
Person beladen. Ihre Stelle mag
der Chor vertreten, der von Anfang bis
zu Ende seinen Anteil an der Handlung
behaupten muß: so, daß er niemals zwischen
den Akten etwas singe, das zum Zwecke
nichts taugt und sich auf das, was vorgeht, nicht
genau beziehet. Seine Rolle ist,
den Guten hold zu sein, sie zu beraten,
im Zorne sie zurückzuhalten, und
im Kampf der Leidenschaft und Pflicht zu unterstützen.
Er preise uns die leicht besetzte Tafel
der Mäßigkeit, die heilsame Justiz,
das Glück des Ruhestands bei offnen Toren.
Was ihm vertraut wird, wiss' er zu verschweigen;
auch wend er öfters an die Götter sich
mit feierlichem Gebet, und fleh um Rettung
der unterdrückten Unschuld, und des Stolzen Fall!

Die Flöte, die den Chorgesang begleitet,
war anfangs nicht, wie jetzt, mit Erz verbunden;
sie war noch dünn, und hatte wenig Löcher,
und einen schwachen Ton, der damals doch
den Chorgesang hinlänglich unterstützte,
weils überflüssig war, mit stärkerem Laut
die noch nicht dichten Sitze anzufüllen,
worin ein leicht zu zählend Volk, das noch
bescheiden war und fromm, in großer Zucht
beisammen saß. Allein, nachdem durch Siege
der Staat erweitert, und die alten Mauern
zu enge worden, und nun auch an Festtagen
den ganzen langen Tag der Genius
sich mit Wein zu laben, Sitte ward:
da mußte wohl auch der Musik, wie allem,
mehr Luft und Spielraum zugestanden werden.
Ein Volk von ungebildetem Geschmack,
das seiner Sorgen sich entladen hatte,
und nun, nach seiner Weise, sich was Rechtes
zugut tun wollte, Bauer, Städter, Pöbel
und Adel, alles durcheinander
gemengt, - war, wenn es nur belustigt wurde,
gleichgültig wie? Und also nahm sich auch
der Flötenspieler mehr heraus, und füllte
im schleppenden Talar, mit seinem üppigern
Getöne und freiern Tanz, die ganze Szene.
Gleichmäßig ließ, des alten Ernsts entbunden,
die Leier sich mit neuen Saiten hören.
Natürlich wollte dann der Dichter, der den Chor
regierte, nicht allein zurückbleiben.
Sein Chorgesang nahm einen höhern Schwung,
in einer unerhörten Art von Sprache stürzte
sich seine schwärmende Beredsamkeit
daher, und seine tiefer Weisheit vollen
und Zukunft ahnenden Sentenzen glichen oft
an Dunkelheit den Delphischen Orakeln.

Noch mehr. Der Sänger, der am Bacchusfeste,
um einen schlechten Bock, mit Heldenspielen
zu streiten pflegte, kam bald auf den Einfall,
das ernste Stück mit etwas abzuwechseln,
das, ohne völlig aus dem vorigen Ton
zu kommen, muntern Scherz mit Ernst vermählte;
und so entstand ein neues Spiel, worin
halb nackte Satyrn, vom Silen geführt,
den Chor vertraten. Denn es war dem Dichter bloß
darum zu tun, ein rohes trunknes Volk,
das, nach vollbrachtem Gottesdienst, den Rest
des Feiertages sich erlustigen wollte,
durch etwas Neues, seinen bäurischen
Geschmack piquierendes, zu seiner Bude
herbei zu locken. Doch, auch diese Art
von freier Dichterei hat ihre Regeln;
und, ob der Laune des geschwätzigen
und immer lachenden Silenen-Chors
schon viel erlaubt ist, soll der Übergang
vom Ernst zum Spaß sich doch mit Anstand machen;
und wenn ein Heros, oder Gott, der kaum
in königlichem Gold und Purpur sich
gezeigt, hernach im Satyrspiel von neuem
zum Vorschein kommt: soll seine Sprache weder
zum Staub und Schmutz der pöbelhaften Posse
heruntersinken, noch, aus Furcht am Boden
zu kriechen, steigen und in Wolken taumeln.
Kurz, nie vergesse die Tragödie, was für sie
sich schickt; und, wenn sie auch bei losen Satyrn
sich blicken läßt, so zeig uns ihr Erröten
die züchtige Verwirrung einer ehrbaren Frau,
die öffentlich am Festtag tanzen muß!

Ich, wenn ich Satyrn schreiben sollte, würde mich
nicht bloß an Wörter des gemeinen Lebens halten;
und, ohne drum dem Ton des Heldenspiels
zu nah zu kommen, würde ich Mittel-Tinten
zu finden wissen, daß der Unterschied
von einem Davus, einer frechen Pythias,
die ihren alten Herrn um tausend Taler schneuzt,
und von dem Pflegevater eines Gottes,
auch in der Art zu reden merklich würde.
Aus lauter jedermann bekannten Wörtern
wollt ich mir eine neue Sprache bilden, so,
daß jeder dächt er könnt es auch, und doch,
wenn ers versucht' und viel geschwitzt und lange
sich dran zermartert hätte, doch zuletzt
es bleiben lassen müßte! - Lieben Freunde,
so viel kommt auf die Kunst des Mischens an!
So viel kann dem Gemeinsten bloß die Stellung
und Nuancierung Glanz und Würde geben!

Auch dafür wollt ich, im Vorbeigehn, noch
die Faunen, die man uns aus ihren Wäldern
so häufig auf die Bühne bringt, wohlmeinend
gewarnt haben: weder in so niedlichen
und schmucken Versen ihre Artigkeit
zu zeigen, daß man junge, mitten
in Rom erzogne Herrn zu hören glaubt,
noch zu Vermeidung dieses Übelstandes
mit Schmutz und groben Zoten um sich her
zu werfen. Denn die Leute, die ein Pferd
und einen Vater und was Eignes haben,
erbauen sich an dieser Art von Witz
nicht sonderlich; und wenn den Käufern dürrer Erbsen
und Nüsse etwas wohlbehagt, so folgt
nicht, daß auch jene dran Belieben finden, und
den Kranz dem Dichter zuerkennen werden.

Ein Silbenfuß, wo eine lange Silbe
auf eine kurze folget, wird ein Jambus
genannt. Ein schneller Fuß! Daher vermutlich,
daß Verse von sechs Jamben Trimeter
zu heißen pflegen. Anfangs wurden sie
ganz rein gemacht, und einer wie der andre.
Allein schon lange nahm der Jamben-Vers,
um etwas langsamer und feierlicher
zu gehen, den ruhigern Spondeus
gefällig auf; doch, daß er aus der zweiten
und vierten Stelle nie verdrängt zu werden
sich vorbehielt. So findet man ihn auch,
doch selten, in den hochberühmten Trimetern
des alten Accius: allein die zentnerschweren Verse,
die Vater Ennius auf unsre Bühne schleudert,
beschuldigen ihn entweder, sichs zu leicht gemacht
und sehr geeilt zu haben, oder einer
nicht rühmlichen Unwissenheit der Kunst.

Zwar freilich hat nicht jeder Richter Ohren
für übel modulierte Verse, und man hat
den römischen Dichtern über diesen Punkt
mehr nachgesehen als uns Ehre macht.
Und soll ich nun, so milder Ohren wegen,
mich aller Regel quitt und ledig glauben?

Doch, wenn ich auch - als ob die ganze Welt,
sobald ich fehle, mich befreien würde -
vor Fehlern mich gehütet habe, - gut!
so hab ich immer nur gerechten Tadel
vermieden, lange noch kein Lob verdient.
Dies zu begreifen, Freunde, leset, leset
bei Tag und Nacht der Griechen Meisterstücke!

Indessen haben eure Ahnen doch
die schönen Verse und die feinen Scherze
des Plautus hoch erhoben; gar zu duldsam
in beidem, um nicht etwas härters noch
zu sagen! Wenn wir anders, Ihr und ich,
ein frostiges Bon-Mot von einem guten
zu unterscheiden, und, wie Verse klingen müssen,
durchs Ohr zu prüfen, oder wenigstens
doch an den Fingern abzuzählen wissen.

Für den Erfinder der Tragödie
wird Thespis angesehn, der seine Stücke
auf Karren durch die Dörfer führte,
und von Personen, die mit Hefen sich
geschminkt, absingen und agieren ließ.
Nach ihm war Aeschylus der zweite, oder
vielmehr der wahre Vater dessen, was
den edeln Namen eines Heldenspiels
mit Recht verdiente. Er erfand die Maske
und den Kothurn, erweiterte den Schauplatz,
veredelte die Kleidung, und (was mehr ist)
den wahren Ton der tragischen Camöne,
die Er zuerst erhaben sprechen lehrte.

Ein wenig später tat sich auch die Alte
Komödie hervor, nicht ohne vielen Beifall;
allein die Freiheit, die man zu Athen
ihr zugestanden, artete zuletzt
in eine Frechheit aus, die nicht zu dulden war,
so daß die Polizei ins Mittel treten mußte.
Des Lustspiels Chor, sobald der Stachel ihm
benommen war, verstummte - und verschwand.

Von diesem allen haben unsre Dichter
nichts unversucht gelassen; und gewiß
verdienten jene nicht das kleinste Lob,
die sich getrauten aus der Griechen Fußtritt
herauszutreten, vaterländ'sche Taten
zu singen, und im Lust- und Trauerspiel
uns römische Personen vorzuführen.
Auch würde Latium gewiß durch seine Sprache
nicht weniger, als durch die Kunst zu siegen
und zu regieren, über Griechenland
den Rang behaupten, wenn nicht unsre Dichter
der Feile Arbeit haßten, und die Zeit,
die drüber hingeht, für verloren hielten.

Ihr, aus Pompilius; Blut, lasset kein
Gedicht vor euern Augen Gnade finden,
das nicht durch viel Polieren zur Korrektheit
gebracht, und, bis das leiseste Gefühl
nichts mehr von Fugen spürt, geglättet worden.

Weil Demokrit dem glücklichen Genie
den Vorzug vor der armen Kunst gegeben,
und schlechterdings die Dichter, die nicht rasen,
vom Pindus ausgeschlossen haben will:
so treibts ein guter Teil der unsrigen
so weit, sich weder Bart noch Nägel stutzen
zu lassen, weder Kamm noch Schwamm
zu dulden, Bäder wie verdächtige Häuser
zu fliehen, und, Gespenstern gleich, in öden
von Menschen unbetretnen Gegenden
herumzuirren; fest beglaubt, ein Kopf,
der dem barbierenden Senator Licinius
sich nie vertraut, und mit drei Antikyras
nicht heilbar wäre, sei zum Dichterkopf
allein gemacht, und würdig von den Musen
bewohnt zu werden. Was ich für ein Tor bin,
an jedem Frühling mir die Galle auszufegen!
Kein andrer sollte beßre Verse machen!
Doch, sei es drum! Wofern ich selber auch
nichts schreibe, kann ich doch, dem Schleifstein gleich,
der selber zwar nicht schneidet, aber doch
das Eisen schneidend macht, die Andern lehren
was einen Dichter bilde, was ihn nähre,
was ihm gezieme oder nicht, und welche Wege
zum Nachruhms-Tempel führen, oder in die Sümpfe,
wo Aganippens Quelle sich verliert?

Um gut zu schreiben, muß ein Autor erst
Verstand und Sinn - um gut zu denken, haben.
An Stoff wirds die Sokrat'sche Schule euch
nicht fehlen lassen, und dem wohldurchdachten Stoffe
schmiegt sich von selbst der gute Ausdruck an.
Wer recht gelernt hat, was er seinen Freunden,
was seinem Vaterlande schuldig sei,
mit welcher Lieb ein Vater, Bruder, Gastfreund
zu lieben? was des Staatsmanns, Richters, was
des Feldherrn Amt und Pflicht erfordre? - Der
wird, was in jedem Falle jeder Rolle
geziemt, unfehlbar stets zu treffen wissen.
Doch nie vergesse der gelehrte Zögling
der dichterischen Bildnerkunst, auch auf
die Sittenschule und die lebenden
Modelle um ihn her die Augen stets
zu heften, und daraus die wahre Sprache
des Lebens und des Umgangs herzuholen.
Nicht selten sieht man daß ein wohlgezeichnetes
Charakterstück, wiewohl sonst ohne Reiz
und Stil und Kunst, beim Volke mehr gewinnt,
und besser unterhält, als schöne Verse,
an Schall und Wohlklang reich, an Sachen leer.

Den Griechen, Freunde! (immer komm ich wieder
auf dies zurück) den Griechen gab die Muse
zugleich Genie und feines Kunstgefühl,
die Gabe der Empfindung und des schönen
und runden Ausdrucks: aber ihre Seelen kannten
auch keinen andern Geiz als den nach Ruhm.
Der Römer lernt von Kindesbeinen an
das As in hundert Teile teilen. Ruft,
zur Probe, nur den kleinen Sohn des Wechslers
Albinus her, und fragt ihn aus. - „Die Hälfte
von einem halben Gulden abgezogen,
was bleibt?“ - „Ei“, spricht er lachend, „was wird bleiben?
Vier Groschen.“ - „Braver Junge! Der
wird sein Vermögen nicht vergeuden! - Und
zum halben Gulden noch die vier
hinzugetan, macht -?“ - „Einen halben Taler.“
Wie? Und von Seelen, die mit diesem Rost
von Habsucht einmal überzogen sind,
erwarten wir Gedichte, die vor Motten
verwahrt zu werden je verdienen könnten?

Des Dichters Zweck ist zu belustigen, oder
zu unterrichten, oder beides zu verbinden,
und unter einer angenehmen Hülle
uns Dinge, die im Leben brauchbar sind, zu sagen.
Lehrt er, so sei er kurz! Was schnell gesagt wird, faßt
der lehrbegierige Geist geschwinder auf
und hält es fester. Wie die Seele voll ist, läuft
das überflüssige ab.

Zurück nach oben 

 

Hilfe zum Download zurückweiter