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  Die Juden in Gustav Freytags Werken
(Jürgen Matoni: Oberschlesisches Jahrbuch Bd. 8, Berlin, S. 107-116)

Eigentlich erscheint die Beschäftigung mit einem Schriftsteller wie Gustav Freytag müßig. Gelesen wird er kaum noch. Zeitgemäß ist er auch nicht mehr. Seine literarischen Qualitäten werden nicht mehr hoch angesehen. Mit einem Wort: Er ist 'out'- sagen viele.Warum aber, so könnte man fragen, ist Gustav Freytag 'out'? Ein Schriftsteller, der von 1854 bis zu seinem Tode 1895 und weit darüber hinaus gefeiert wurde. Gefeiert als der Schriftsteller des Bürgertums.

Ein Aspekt soll hier dargestellt werden, ein Aspekt, der zu diesem Urteil führte, der nichts mit seinen Fähigkeiten als Schriftsteller zu tun hat, nichts mit seinen unbestrittenen Leistungen als politischer Journalist, nichts mit seiner Wirksamkeit als Repräsentant des liberalen Bürgertums, obwohl dies alles auch eine Rolle spielt.Dieser Aspekt ist sein 'Antisemitismus', dieser Aspekt, der oft der Verdrängung anheimgegeben werden soll, aber immer wieder - mit Recht quälend - in unser Bewußtsein gehoben wird.

Das Verdikt der Judenfeindlichkeit wirkt tief, schließt den Menschen, den es trifft, aus der humanen Gesellschaft aus. Ein Werk mit judenfeindlicher Tendenz ist für uns Deutsche - abseits von jeder literarischen Wertung - nicht mehr lesbar, wird nicht in den Kanon unserer Nationalliteratur aufgenommen.Gerade das geschah und geschieht mit Gustav Freytag und besonders mit seinem Roman 'Soll und Haben'.Doch wie kann das einem Buch widerfahren, das zu Anfang der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. geschrieben wurde?

Man kann "Freytag nicht zu den rassistisch argumentierenden politischen Antisemiten zurechnen, die eigentlich erst seit dem Gründerkrach von 1873 auftraten"(1), schreibt 1975 Michael Kienzle. Ihn "überrascht [jedoch] das Ausmaß und die Intensität der Kritik an den Juden"(2) in 'Soll und Haben'.

Theodor Eschenburg macht wie Kienzle einen Unterschied zwischen Antisemitismus und Freytags 'Judenfeindschaft'.(3) Wenn die Feststellung der Judenfeindlichkeit gerechtfertigt ist, wäre eine Differenzierung in dieser Art keine Rettung. Wenn tatsächlich Freytags Roman voll 'antisemitischer Akzente' ist, darf und kann dieses Buch nicht mehr lesbar sein.Im Jahre 1977 wollte der WDR den Roman Soll und Haben von Gustav Freytag verfilmen. Regie sollte Rainer Werner Fassbinder führen. Dieses Vorhaben führte zu einer hitzigen Debatte in den Medien und auf Seiten des WDR zur Absetzung des Projektes.

1977 war auch das Jahr in dem der Hanser Verlag 'Soll und Haben' neu aufgelegt hatte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung brachte aus diesen beiden Anlässen einen Aufsatz von Hans Mayer, den dieser als Nachwort zur Neuauflage geschrieben hatte. Doch zuvor brachte die FAZ eine eigene Einschätzung:

Freytags Roman ist voll antisemitischer und antislawischer Akzente. Kein Zweifel, daß 'Soll und Haben' auf das Verhältnis mehrerer Generationen deutscher Buchleser zu Juden und Polen einen verheerenden Einfluß ausgeübt hat. Haben die Verantwortlichen im Westdeutschen Rundfunk diesen Roman tatsächlich gelesen? (4)

Hans Mayer folgt in seinem Aufsatz der Einschätzung der FAZ. Seine Darstellung gipfelt in der Feststellung:"Veitel Itzig ist wieder da, und es führt ein gerader Weg von dieser bösartigen Karikatur zu den späteren Judenfratzen eines Julius Streicher." Und er faßt zusammen: "Müßig zu fragen, ob Gustav Freytag Verantwortung trägt für alles, was dann kam. Ohne weiteres abzutun ist die lästige Frage nicht, denn ein so unermeßlich wirkungsvolles und erfolgreiches Buch hat nicht bloß Erbaulichkeit bewirkt, sondern scheinbare Erkenntnis, die mit half in der Praxis."(5)

Gustav Freytag kann also Kienzle zufolge nicht als Antisemit bezeichnet werden da es zu seiner Zeit (vor 1873) noch keinen rassistisch argumentierenden politischen Antisemitismus gab. Jedoch Wegbereiter der 'mit half', der den Weg bereitete für den Antisemitismus, das kann - Mayer zufolge - nicht ausgeschlossen werden, gerade weil 'Soll und Haben' so erfolgreich und wirksam war.So und ähnlich verläuft die Argumentation, wenn sich Autoren mit Freytag in diesem Problemzusammenhang (Antisemitismus - Nationalsozialismus) beschäftigen.(6) Dann winden sie sich - ihnen ist vielleicht nicht ganz wohl bei ihrer Analyse - sie weisen ihre Gedankengänge von sich - und heben sie damit ins Bewußtsein.

Doch stimmen diese Unterstellungen? Ist Freytag Antisemit oder 'nur' Judenfeind?
Eins ist sicher - Freytag war zutiefst davon überzeugt, daß die Deutschen (Für ihn mehr noch die Preußen) die Kulturnation sind. Oft ging er in seinen Äußerungen rüde mit Nachbarn anderer Nationalität um. Die Franzosen waren für ihn "heruntergekommene Lügenhunde" oder sie waren ihm 'kindisch' (7), für die Engländer hatte er nur Mitleid über, da sie seiner Meinung nach einen "krummgetretenen Stiefel" als Premierminister [Gladstone J.M.] ertrugen, der ihm "zuwider" (8) war. Jedoch auch die Deutschen blieben von ihm nicht verschont. Der Nationalverein war ihm eine "Kleinkinderbewahranstalt"(9), der Adel ihm so suspekt, daß er diesem noch nicht einmal so viel Gehirn zubilligte, um Geisteskrank werden zu können:

Unsere Fürsten werden sich doch nicht etwa getroffen fühlen, [durch 'Die verlorene Handschrift' J.M.] die Mehrzahl ist ganz anders, die kriegen die Cäsarenkrankheit nicht so, daß sie zum Ausbruch käme, es ist zu wenig vorhanden, was verwüstet werden könnte. (10)

Breslau war ihm die tiefste "Polakei"(11), wobei gleichzeitig - für ihn ganz natürlich - auch die Polen negativ bedacht wurden.In seinen Äußerungen war Freytag selten zurückhaltend, eher ziemlich drastisch in seiner Ausdrucksweise, sein Nationalbewußtsein stark ausgeprägt, doch öffentliche wie private antisemitische Äußerungen sind bei ihm nicht zu finden.Dieses Nationalbewußtsein wird ihm auch von vielen Autoren vorgehalten, sein Festhalten an einmal gefaßten Meinungen ihm oft als Starrsinn angekreidet. Doch nichts wird so abgelehnt wie sein von den Autoren konstatierter 'Antisemitismus'.Der Chor der negativen Bewertung und der daraus resultierenden Ablehnung und Abwertung ist ziemlich einstimmig. Auch wenn wir bei einigen Kritikern eine vordergründig positive Bewertung Freytags in bezug auf dessen Antisemitismus finden, kommen wir bei näherer Überprüfung doch zu einem ambivalenten Ergebnis.

In seiner Dissertation über den "Nationalliberalismus im Werke Gustav Freytags", befaßt sich Erwin Laaths auch mit Freytags Antisemitismus.(12) Laaths zitiert einen Aufsatz Freytags in den Grenzboten "Die Juden in Breslau"(13), der für ihn zu einem "antijüdischen Schluß" kommt(14). Laaths verweist vage auf "Rechtshändel", in denen "Freytag dann weitere Erfahrungen über das Judentum gesammelt haben" mag, "wie sie dann später in 'Soll und Haben' ausgestaltet wurden".Bis hierhin ist die Argumentation die gleiche, die in fast allen Darstellungen vorkommt. Trotzdem ist sein Fazit, daß Freytag "niemals Antisemit gewesen" sei. Laaths kommt zu diesem Ergebnis, weil er für Freytag die "liberale Weltanschauung" reklamiert, der Freytag "getreu" war, wie Laaths sich ausdrückt. Er verweist auf den Aufsatz Freytags "Der Streit über das Judentum in der Musik"(15) und Freytags Schrift "Über den Antisemitismus. Eine Pfingstbetrachtung"(16). Bei der Untersuchung dieser Texte kommt Laaths zu dem Ergebnis, daß Freytag "Grundsätzlich und unzweideutig [...] Stellung gegen die Judenfeinde" bezieht. Er analysiert die beiden Texte; den einen, der sich gegen einen Angriff Wagners auf die Juden bezieht; den anderen, der das Problem des Judentums grundsätzlich darstellt. Er resümiert, daß es sich um eine "Apologie" handelt, in der Freytag nicht davor zurückschreckt, Richard Wagner "abzuurteilen", der "als Judengegner öffentlich aufgetreten war". Doch dann argumentiert Laaths mit den Werken Freytags und konstatiert einen Gegensatz "zu dieser Haltung des Politikers und Historikers", der in diesen Werken - besonders in Soll und Haben - "einen breiten Platz einnimmt". In ihnen macht Laaths "durchweg schlechte oder verächtliche [jüdische J.M.] Naturen" aus. Diesen vermeintlichen Gegensatz versucht Laaths aufzulösen, indem er zu einer interessanten Bewertung kommt:

Die Lösung dürfte wohl darin zu suchen sein, daß oft ein Unterschied besteht zwischen der gewillkürten, bewußten Meinung einerseits und der angeborenen, gefühlsmäßigen Haltung andererseits.(17)

Wir dürfen bei der Untersuchung des Textes von Laaths nicht vergessen, daß er 1934 erschienen ist. Unter dieser Voraussetzung sind die Angriffe auf den politischen Liberalismus zu sehen und zu deuten. Dann werden die Begründungen, die Laaths für diese - für ihn "unvereinbare[n] Urteile" - erklärbar. Für Laaths ist dieses Phänomen eine Verbindung von 'liberal - wissenschaftlichen' und 'deutsch - völkischen Elementen:

Mit dem Verstand war Freytag erklärter Gegner des Antisemitismus - im Herzen bewegte ihn doch die Antipathie. Als Liberaler kämpfte er für die Juden, selbst als Mensch hatte er freundlichen Umgang mit ihnen - daneben arbeiteten aber Instinkte, die sich dem Bewußtsein und der Gewöhnung nicht fügen.(18)

Wie wir diese Einschätzung auch bewerten, eins können wir festhalten. Laaths geht 1934 davon aus, daß Freytag antisemitische Tendenzen hat. Diese Differenzierung zwischen privater und öffentlicher Haltung dient nicht nur im Umkreis des Nationalsozialismus als Begründung für eine vermeintlich nicht gradlinige Haltung Freytags. Herrmann Rudolph z. B. rezensiert ebenfalls 'Soll und Haben' - aber 1977 - und verweist in unserem Zusammenhang auf Freytags jüdische Frau: "Gleichwohl steht ganz außer Zweifel, daß der in dritter Ehe mit einer Jüdin verheiratete Freytag gegen den Vorwurf des Antisemitismus so gefeit ist ..."(19)

Vielleicht persönlich nicht verdächtig antisemitisch zu sein, aber der Roman selbst - auf jeden Fall.Eine ganz frühe Rezension des Romans "Soll und Haben" stammt von Theodor Fontane aus dem Jahre 1855.(20) Sie wird von Klaus Schröter 1966 in einem Rundfunk - Essay zitiert, um Freytags Judenfeindlichkeit zu belegen:

Theodor Fontane, der "Soll und Haben" alsbald nach Erscheinen recht wohlmeinend rezensiert hat (später änderte er dann seine Meinung über Gustav Freytag), fühlte sich von diesem Programm, die Juden zu diffamieren, sogleich abgestoßen und stellte die hellsichtige Frage:
"Wohin soll das führen? Die Juden sind mal da und bilden einen nicht unwesentlichen Teil unserer Gesellschaft, unseres Staates."(21)

Das erscheint auf den ersten Blick als 'durchschlagendes' Argument. Ein vollständig 'unverdächtiger' Gewährsmann, ein Zeitgenosse und Kollege Freytags scheint diese Argumentationen zu stützen, denn Fontane ist wohl kaum unter die 'Judenfeinde' zu subsumieren.Wenn wir aber diesen zitierten Text genauer untersuchen, stellen wir fest, daß Schröter nur die Passage zitiert hat, die für seine Argumentation notwendig und brauchbar ist - den Rest 'vergißt' er. Korrekt ist diese Vorgehensweise wohl nicht zu nennen. Der direkte Zusammenhang, aus dem dieses Zitat entnommen wurde lautet bei Fontane:

Der Verfasser [G. Freytag J.M.] mag uns glauben, wir zählen nicht zu den Judenfreunden, aber trotz alledem würden wir Anstand nehmen, in dieser Einseitigkeit unsere Abneigung zu betätigen. Wohin soll das führen? Die Juden sind nun mal da und bilden einen nicht unwesentlichen Teil unserer Gesellschaft, unseres Staates. Zugegeben, daß es besser wäre, sie fehlten oder wären anders, wie sie sind, so wird uns doch umgekehrt der Verfasser darin beipflichten, daß es nur zwei Mittel gibt, sie loszuwerden: das mittelalterliche Hepp, Hepp mit Schafott und Scheiterhaufen oder eine allmähliche Amalgamierung, die der stille Segen der Toleranz und Freiheit ist.(22)

Fontane bezeichnet sich selbst nicht als 'Judenfreund', wäre über ihre Abwesenheit nicht unglücklich, oder wünschte sie 'wären anders'. Fontane auch ein 'Judenfeind'?Was sind das aber nun für jüdische Gestalten, 'Judenfratzen eines Julius Streicher' - wie Hans Mayer meint -, die zu solch aggressiven Darstellungen führen? Berühmt geworden sind Veitel Itzig aus 'Soll und Haben' und der Schmock in den 'Journalisten'. In Freytags anderen Werken kommen Juden eigentlich nur am Rande vor. Jedoch in seinen 'Bildern aus der deutschen Vergangenheit stellt er seine Haltung in bezug auf die Judenverfolgungen in Deutschland dezidiert dar:

Durch Jahrhunderte waren diese Hetzen eine Schmach für unsere Nation, erst der Protestantismus bändigte sie; noch heute regt sich der Drang danach, wo Zustände des Mittelalters in die Gegenwart dauern.(23)

Judenverfolgung als 'Schmach', ein Zeichen für 'mittelalterliche Zustände'. Wie paßt das zusammen mit dem fast einhelligen wissenschaftlichen Erweis seiner Judenfeindlichkeit? Einen Hinweis mag uns die Darstellung der Juden in seinen 'Ahnen' geben. Im 'Nest der Zaunkönige' gibt es ein Gespräch zwischen dem Goldschmied Heriman und dem König:

"Denn was hier im Lande Pilger und fremde Händler zutragen, das gelangt meist in die Hände der ungläubigen Juden, und diese legen es zuerst dem ehrwürdigen Herrn Willigis vor, weil er ihr Schutzherr ist; ich aber dem Könige.""Du meinst also, die Juden stören dir das Geschäft,"frug der König, einen Edelstein gegen das Licht haltend."Sie haben das Geld, und wer mit kostbarer Ware handelt, vermag sie nicht zu entbehren. Auch klage ich nicht über sie, zumal Herr Willigis ihnen günstig ist, weil sie seiner Macht in der Stadt nützen." (24)

Hier klingt die Unentbehrlichkeit der Juden schon im 11. Jhdt. (1003) an, deren Dasein Fontane 1855 beklagt - "Die Juden sind nun mal da und bilden einen nicht unwesentlichen Teil unserer Gesellschaft, unseres Staates." - Die Praxis des 'Schutzjuden' noch im 19. Jhdt. - Hier klingt aber auch das an, was die jüdischen Figuren in Freytags 'Soll und Haben' und seinen 'Journalisten' kennzeichnet. Es ist ein Gegensatzpaar, das Freytag oft verwendet. Die Darstellung des Antagonismus Adel - Bürgertum, das ihm ein Anliegen war, aber nicht so, wie es z. B. die Redaktion des Kindler Literatur - Lexikon in 'Soll und Haben' zu erkennen meint:

Sein [Anton Wohlfahrts] klischeehaft antisemitisch gezeichnetes Gegenbild Veitel Itzig hingegen, ohne Moral und Ideale,...Und weiter:Die Dialektik von Adel, Bürgertum und Judentum, der die Klischees von Frivolität, Tugend und Habgier entsprechen, mißrät indes in diesem biedermeierlich verklärten Monumentalgemälde bürgerlicher Rechtschaffenheit zur vordergründigen Schwarzweißmalerei: ... (25)

Wie einfach man sich diese 'Schwarzweißmalerei' machen kann, führt Michael Kienzle prägnant vor. Er versucht aufzuzeigen, daß Natur - und Charakterdarstellung zusammenpassen. Für ihn ist die Szene der Ausfahrt Anton Wohlfarts, die im Sommer bei schönstem Wetter stattfindet, der Beweis für die 'volle Übereinstimmung des Helden mit der Natur'.(26) Daß Veitel Itzig genau am gleichen Tag, unter derselben Sonne, sogar zusammen mit Anton Wohlfart auszieht, um auch sein Glück zu machen, entgeht Kienzle wohl. Also 'Schwarzweißmalerei', jedoch so nicht bei Freytag, sondern bei seinen Interpreten. Kienzle beendet an dieser Stelle seine Analyse und 'vergißt' wie andere Interpreten auch Hippus, den versoffenen Juristen, der dem Juden Veitel Itzig all die Tricks beibringt, mit denen er dann seine verbrecherischen Pläne ausführen kann. Dieser Hippus ist kein Jude. Er ist ein gescheiterter deutscher Bildungsbürger und wird Veitels Schicksal. Von ihm möchte er die Geheimnisse des 'Geschäfts' lernen, doch hat er auch Angst vor den Folgen:

Veitel merkte, daß er bei einem wichtigen Punkt seines Lebens angelangt sei, er fuhr mit der Hand in die Jacke nach seiner alten Brieftasche und hielt sie einen Augenblick in der bebenden Hand. Was in diesem Moment durch seine arme Seele fuhr - und es war nur ein Moment -, das waren wilde und schmerzhafte Empfindungen. Schnell wie Blitze zuckten sie durcheinander. Er dachte in diesem Augenblick an seine alte Mutter in Ostrau, ein ehrliches Weib, wie sie ihre goldene Kette verkauft hatte, um ihm die sechs Dukaten in die Ledertasche zu nähen; er sah sie vor sich, wie sie ihn beim Abschiede mit Tränen gebenscht [umarmt] hatte und zu ihm gesagt: "Veitel, es ist eine arge Welt, verdiene dir ehrlich dein Brot, Veitel!" - Er sah seinen grauen Vater vor sich auf dem Totenbrett liegen, wie ihm der weiße Bart herunterhing über den magern Leib - und tief holte er Atem. Auch an die fünfzig Taler dachte er, wieviel Mühe es ihn gekostet hatte, sie im Schacher zu erwerben, wie oft er darum gelaufen war, wie oft man ihn geschmäht, ja als Überlästigen mit Schlägen bedroht hatte. Als ihm der letzte Gedanke durch die Seele flog, riß er heftig die Brieftasche aus der Jacke, warf sie auf den Tisch, setzte die geballte Faust darauf und rief mit blitzenden Augen: "Hier ist Geld!" - und während er das aussprach, fieberhaft erregt, in leidenschaftlicher Hast, selbst in diesem Augenblick fühlte er deutlich, daß er daran sei, etwas Böses zu tun, und er fühlte, wie eine Last sich unsichtbar auf seine Brust senkte. Aber er war entschlossen. Schwerlich hatten die Jungen Herren, welche den zudringlichen Judenknaben die Treppe hinunterwiesen, daran gedacht, daß ihre höhnenden Worte in der armen verwilderten Menschenseele einen Dämon erwecken würden, der ihnen selbst in späteren Jahren Elend und Verderben heraufbeschwören sollte.(27)

Schwarzweißmalerei? Nur Judenfratzen? - Eine jüdische Mutter die für ihren Sohn ihre Goldkette verkauft, ihn beschwört, sein Geld ehrlich zu verdienen. Ein Vater, der in den ärmlichsten Verhältnissen stirbt - auf einem Totenbrett liegt. - Deutsche Junge 'Herren', die den Judenknaben verhöhnt und mit Schlägen bedroht haben. Dieser Judenknabe, verführt durch einen versoffenen, verbrecherischen christlichen Juristen - Schwarzweißmalerei andersherum? Juden als gute, Christen als böse Menschen? Ganz so einfach macht es Freytag sich nicht. Auch Hippus ist für ihn ein Mensch, ein Mensch der zu schwach war, der verdorben wurde:"... aber der Fluch einer verderbten Seele ist, daß auch ein gutes menschliches Empfinden sich ihr zu Unheil und Sünde verkehrt."(28)

Auch wenn Freytag es 'wagt', eine positive jüdische Gestalt einzuführen, nützt ihm das bei seinen Interpreten wenig. Für die Autoren, denen generell jeder Jude in 'Soll und Haben' negativ erscheint, ist auch das kein Problem. Der junge Bernhard Ehrenthal, das wäre für sie vielleicht eine positive jüdische Gestalt in Soll und Haben, verfällt auch ihrem Urteil, denn dieses Urteil steht ja schon fest, so daß nur noch irgendetwas gefunden werden muß, um auch ihn noch 'judenfeindlich' zu wenden. Nur für Michael Schneider wird das zum Problem. Er verweist mit Recht darauf, daß Bernhard ein "Porträt von Freytags jüdischem Freund Jacob Kaufmann [...]" ist (29) und somit kaum von Freytag negativ gesehen werden konnte. Andere Autoren gehen an den von Schneider konstatierten Fakten vorbei und argumentieren wie z. B. Améry, den Schneider zitiert.

[...] Bernhard sei zwar positiv pointiert, aber "der Autor läßt ihn schnell verschwinden: 'Abgang durch Tod', wie es im Nazi - KZ hieß; der einzige gute Jude ist ein toter Jude, basta.' (30)

Also eine positive jüdische Gestalt die im Verlauf des Romans stirbt kann nicht positiv sein, weil man diesen Romantod leicht - oder leichtfertig - mit den Massenmorden in den deutschen Vernichtungslagern der Nationalsozialisten vergleichen kann. Aber auch die andere jüdische 'Berühmtheit' aus Freytags Werken, der Schmock aus Freytags Journalisten, wird nicht zugunsten Freytags in die Waagschale geworfen. Er ist zwar in die Geschichte eingegangen, stirbt auch nicht im Verlauf des Lustspiels wie Veitel Itzig und Bernhard Ehrenthal, dient aber auch dazu, die negative Einstellung Freytags zu Juden zu dokumentieren. Dieser "jämmerliche[n] Vertreter des Journalistenelends"(31), wie Beaton ihn nennt, dient als Beispiel für einen 'gesinnungslosen Tintenkuli' (32). Doch wer die 'Journalisten' tatsächlich liest (Sehen kann er sie kaum, da sie von den Theaterbühnen verschwunden sind.) wird feststellen, daß in der Gestalt des Schmock nicht nur ein 'noch recht bescheidener Reporter' (33) gezeichnet worden ist, sondern daß dieser Schmock aus einem ganz bestimmten Grund gelernt hat "in allen Richtungen zu schreiben"(34). Dieses Bekenntnis hat ihm und Freytag das Stigma der Gewissenlosigkeit aufgedrückt, auch wenn in diesem Falle die Redaktion des Kindler Literatur Lexikons sich befähigterer Unterstützung versichert hat (35) als im Fall des Veitel Itzig, so daß sie schreiben können, daß Freytag

[...] in der Gestalt des jüdischen Journalisten Schmock das komische, menschlich gewinnende Porträt eines völlig unparteiischen, für und in alle Richtungen schreibenden Virtuosen der Zeitgeschichte entwirft. (37)

Nichts lag Freytag ferner. Gleich was man Freytag vorwerfen könnte, daß er 'unparteiisch' war gewiß nicht. Gelernt hat Schmock dieses Schreiben nach links und rechts, 'nach jeder Richtung'(37) gerade bei der Zeitung der Reaktion, eine konservative Zeitung jenes Typs, denen Freytag den Kampf angesagt hatte, nicht nur in seinem Schauspiel, sondern auch als Herausgeber und Journalist der Grenzboten, einer der einflußreichsten liberalen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts. Freytags Sympathie für Schmock (Die auch die von fast allen Interpreten als positiv angesehene Figur des Bolz teilt.) wird dadurch deutlich, daß Schmock seinen von Freytag sehr negativ gezeichneten Auftraggeber gerade deswegen verlassen will, weil er in jede Richtung schreiben muß, nicht anders kann, weil er seinen Lebensunterhalt verdienen muß.
Und an dieser Stelle treffen sich die Schicksale von Veitel Itzig, Bernhard Ehrenthal und Schmock. Sie alle sind Juden, die in unterschiedlicher Weise als Beispiele für die Assimilation der Juden in Deutschland dienen können, wie Freytag sie u. a. in seinen Aufsätzen "Die Juden in Breslau" (1849), "Der Streit über das Judenthum in der Musik" (1869) und "Ueber den Antisemitismus. Eine Pfingstbetrachtung" (1893) gesehen und gefordert hat:

Der Staat hat ausgesprochen: ich will einen kranken und schwachen Teil des Volkes dadurch aufrichten und heilen, daß ich ihm die Rechte und Pflichten der Gesunden und Starken ertheile; jetzt möge er dafür sorgen, daß die Kranken nicht seine Gesunden anstecken, die Schwachen nicht seine Starken lähmen. (38)

Freytag sieht die Fürsorgepflicht des Staates allen Bevölkerungsgruppen gegenüber und die Eigenverantwortlichkeit jeder Gesellschaftsschicht - auch der der Juden. Damit geht er weit über das hinaus, was Fontane wie schon weiter oben zitiert wurde nur feststellt: "Die Juden sind mal da und bilden einen nicht unwesentlichen Teil unserer Gesellschaft, unseres Staates." Freytag sieht die Entwicklung in Kenntnis der Problematik nicht nur, aber auch in bezug auf die Juden aus den Grenzgebieten Deutschlands - für ihn natürlich besonders markant an der Grenze zu Polen.
Freytag war kein Antisemit. Er war auch nicht judenfeindlich. Er war gegen den reaktionären Adel wie gegen den reaktionären Klerus. Er war fortschrittlicher Liberaler und Nationalist. Alles das könnte man ihm vorwerfen (und tut es auch), aber er war auch überzeugt von der Menschlichkeit und der Entwicklungsfähigkeit der menschlichen Vernunft und Seele:

Denn die Güte der menschlichen Natur ist unzerstörbar, und die größte Korruption eines Menschen vermag nicht alles in ihm zu verderben. Immer sucht seine Lebenskraft die Stellen, wo sie sich gesund und zum Guten entwickeln kann[...] (39)


Anmerkungen:

(1) Michael Kienzle, Der Erfolgsroman. Zur Kritik seiner poetischen Ökonomie bei Gustav Freytag und Eugenie Marlitt, Stuttgart 1975. (S. 37) Hinfort zitiert als Kienzle.
(2) Kienzle S. 37
(3) Eschenburg, Theodor: Gustav Freytag und der Antisemitismus, Eine Replik auf Hans Mayers "Soll und Haben" - Essay, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Samstag, 9.April 1977, Nr. 83, S. 21
(4) FAZ, Samstag, 26. Februar 1977; Nr. 48, S. 23: Ist Gustav Freytag neu zu entdecken? "Soll und Haben" / Aus Anlaß eines Fernsehprojekts / Von Hans Mayer. Die FAZ geht in diesem Artikel auch auf den vorgesehenen Regisseur R. W. Fassbinder mit dem Hinweis ein, daß dieser der Autor von 'Die Stadt, der Müll und der Tod' ist, "gegen das - auch in dieser Zeitung - der Vorwurf des aggressiven Antisemitismus erhoben wurde."
(5) Hans Mayer, Ist Gustav Freytag neu zu entdecken? "Soll und Haben", Aus Anlaß eines Fernsehprojekts. FAZ a.a.O, S. 23
(6) Vgl. z. B. Craig, Gordon A.: Über die Deutschen, München 1982, S. 157f
(7) Brief an Hirzel vom 17.09.1870 Nr. 130: "die kindischen Franzosen"
(8) Gustav Freytags Briefe an Albrecht von Stosch, hrsg. von Hans F. Helmolt, Brief vom 20.06.1870, S. 63 und Brief vom 16. 02. 1884, S. 147
(9) G. Freytag und H. v. Treitschke im Briefwechsel, hrsg. von A. Dove, Brief vom 19.11.1865, S. 80
(10) a.a.O. Brief vom 14.12.1864, S. 35
(11) Brief an Hirzel vom 05.05.1857, Nr. 1070: "Im Ganzen betrachtet liegt Breslau noch sehr in der Polakei und entbehrt sehr der wünschenswerthen Reinlichkeit u. einiger ähnlicher Symptome von Bildung."
(12) Erwin Laaths, Der Nationalliberalismus im Werke Gustav Freytags, Diss. Bonn 1934
(13) Gustav Freytag, Die Juden in Breslau, Grenzboten 1849, Nr. 30, S. 148
(14) Alle Zitate zu Laaths aus seiner Dissertation S. 25 - 29 vgl. Anm. 1
(15) G. Freytag, Der Streit über das Judenthum in der Musik, Grenzboten 1869, Nr. 22, S. 321 - 326
(16) G. Freytag, Ueber den Antisemitismus. Eine Pfingstbetrachtung, Berlin 1893, zuerst in der Wiener "Neuen freien Presse", 21.05.1893
(17) Laaths, a.a.O. S. 28
(18) Laaths, a.a.O. S. 28
(19) Rudolph, Hermann: Die Anstrengung, ein Bürger zu sein, Zur Neuausgabe von Gustav Freytags 'Soll und Haben', Frankfurter Allgemeine Zeitung, Samstag, 9. Juli 1977, Nummer 156
(20) Theodor Fontane, Gustav Freytag, Soll und Haben, Ein Roman in drei Bänden [Leipzig 1855], in: Th. Fontane, Literarische Essays und Studien, Erster Teil, München 1963, S. 214 - 230. Hinfort zitiert als Fontane.
(21) Klaus Schröter, Mehr Soll als Haben, Ein Saldo zu Gustav Freytags 70. Geburtstag. (Es handelt sich dabei um ein Manuskript des Hessischen Rundfunks zu einer Sendung vom 26.04.1965 um 21.30 Uhr im zweiten Programm.)
(22) Fontane, S. 228
(23) Freytag, Gustav: Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd. 1, III (Aus den Kreuzzügen), Knaus S. 93
(24) Freytag, Gustav: Das Nest der Zaunkönige, (Metzger) S. 285f
(25) Kindlers Literatur Lexikon, München 1974, dtv Bd. 20, S. 8872
(26) Kienzle, S. 40
(27) Freytag, Gustav: SuH (Metzger), I, S. 107
(28) Freytag, Gustav: SuH (Metzger), I, S. 111
(29) a.a.O. S. 389, vgl. G. Freytag, Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1899, S. 223
(30)
Schneider, Michael: Apologie des Bürgertums. Zur Problematik von Rassismus und Antisemitismus in Gustav Freytags Roman 'Soll und Haben'. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Jg. 25, 1981, S. 385 - 413, hier S. 411, Anm. Nr. 75 (Schneider zitiert Jean Améry: Schlecht klingt das Lied vom braven Mann, Neue Rundschau 89, 1978, S. 84 - 93, hier S. 90).
(31) Beaton, Kenneth Bruce: Gustav Freytags "Die Journalisten": eine "politische" Komödie der Revolutionszeit. Zeitschrift für Deutsche Philologie Bd. 105, Heft 4, 1986, S. 516 - 543, hier S. 527
(32) Alker, Ernst: Die deutsche Literatur im 19. Jhdt. (1832 - 1914), Stuttgart 1969, S. 374
(33) Vgl. Alker, a.a.O., S. 374
(34)
Freytag, Gustav: Die Journalisten, Stuttgart 1977, II. Akt, 2. Szene, S. 46.
(35) Den Artikel scheint die Redaktion des Lexikons zusammen mit Anneliese Gerecke (A. Ge. - KLL) verfaßt zu haben.
(36) Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 12, München 1974 (dtv), S. 5032.
(37) Die Journalisten, a. a. O., S. 46.
(38) Freytag, Gustav: Die Juden in Breslau, Grenzboten, 1849, S. 148.
(39) Freytag, Gustav: Soll und Haben, a. a. O., I, S. 111.

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