zurück zur Textauswahl zurück zur Textauswahl
  Bernhard Ehrenthal - ein 'unnützes' Mitglied der Gesellschaft
Jürgen Matoni, in: Gustav Freytag Blätter Nr. 47 (1989), S. 17 - 27.

Spätestens in dem Moment, da ein Schriftsteller aufhört nur schöngeistige oder nur unterhaltsame Literatur zu machen, also nicht mehr nur "l'art pour l'art", wird er mit anderen Augen gesehen, mit anderen Maßstäben gemessen. Wenn dann auch noch ein politischer Anspruch erhoben wird - und welche gute Literatur wäre nicht politisch - wird dieser Anspruch mit sehr kritischen Augen überprüft.

Freytag ist ein solcher Schriftsteller. Keines seiner Bücher kann den Anspruch verhehlen, auch Einfluß nehmen zu wollen auf das Denken und Handeln seiner Leser. Und seit seinem ersten Romanerfolg ist neben den Lobeshymnen auch die Kritik nicht verstummt.

Schon mit den ersten Rezensionen seines Romans "Soll und Haben" wird gerade diesem Buch und damit dem Autor ein zumindest latenter Antisemitismus unterstellt und dies bis in die jüngste Zeit.

Wenn wir einige seiner Schriftstellerkollegen nehmen, beginnt die Kritik bei Fontane und endet z.B. bei Améry. Wo der erstere noch das Buch in fast jeder Hinsicht - bis eben auf den unterstellten Antisemitismus - lobt, weist Améry das ganze Buch brüsk zurück und besonders wegen diesem unterstellten Antisemitismus.

Wenn jetzt dieses Buch antisemitisch ist, kann es nicht gerettet werden, auch wenn es literarisch noch so gut wäre.(1) Jedoch bleiben trotz (oder gerade wegen) der vielen, die diesen Antisemitismus konstatieren, genug Zweifel, um nicht gleich jede Begegnung mit Freytag abzulehnen. Denn in neuerer Zeit wird dieser Vorwurf fast immer damit gekoppelt, daß Freytag literarisch überholt und auch aus diesem Grund nicht mehr lesbar ist und nicht mehr gelesen wird.

Wenn dem so ist, dann ist dieses Credo zumindest fraglich, denn um das festzustellen, muß man seine Bücher lesen. Und wenn man aus seinen Büchern heraus Antisemitismus an Freytags Person selbst festmachen will, dann muß man sich eingehend mit Freytag beschäftigen, was wieder gegen seine Unwichtigkeit spricht.

Einer, der sich trotz dieser Einwände mit Freytag beschäftigt, ist Michael Schneider. Er ist auf den Antisemitismus eingegangen und hat versucht an

'Soll und Haben' zu zeigen, daß davon keine Rede sein kann. Aber, wie bei vielen anderen Versuchen dieser Art, ist es auch ihm nicht gelungen, die Zweifel zu zerstreuen.

Michael Schneider beginnt seine Analyse von 'Soll und Haben' bei der "Wirksamkeit" und seiner späteren "Unwirksamkeit" bis hin zum - von ihm konstatierten - geschwundenen Interesse an Freytag überhaupt. (Für Schneider dadurch dokumentiert, daß im Sammelband "Deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts" Freytag nicht mehr erwähnt wird.)(2) Für Schneider ist es ausgemacht, daß der 'Ansehensverlust'(3) von 'Soll und Haben' daraus resultiert, daß man

...nach den unfaßlichen Greueln der Judenvernichtung im dritten deutschen Reiche - die Darstellung der Judenschaft in 'Soll und Haben' mit anderen, skeptischeren Augen sah!(4)

Schneider verweist in bezug auf diese Entwicklung auf Laaths, der in seiner Untersuchung von 1934 versuchte, Freytag für die völkische Argumentation zu reklamieren:

Hinfort galt die antisemitische Funktion der Judendarstellung in 'Soll und Haben' als gesichert, und diese dubiose Deutung wurde auch nach 1945 nicht entscheidend revidiert.(5)

Dagegen bringt er Argumente die gegen Freytags Antisemitismus sprechen. Er verweist auf Freytags positiven Artikel zur Judenfrage(6), seine "Indifferenz" in religiösen Dingen, auf seine dritte (jüdische) Ehefrau und nicht zuletzt auf die "durchaus positiven jüdischen Romanfiguren..."(7) Er stellt aber doch fest:

...daß die Juden in 'Soll und Haben' meistenteils 'schlecht wegkommen', steht gänzlich außer Frage. Diese Diskrepanz aber verlangt eine Erklärung.(8)

In der weiteren Analyse belegt Schneider, daß die Judendarstellung in 'Soll und Haben' "als realistische Darstellung akzeptiert werden"(9) kann, mit einer Einschränkung allerdings:

Die Judendarstellung ist also realistische Darstellung der Wirklichkeit, so wie Freytag sie (bestimmt borniert) sah.(10)

Mit einer brillanten Analyse zeigt Schneider, daß es sich bei der Problematik des Romans um den Antagonismus Adel - Bürgertum und Juden - Bürgertum handelt, wobei die Juden als in jeder Hinsicht der Ideologie des liberalen Bürgertums entgegenstehen. - alle negativen Komponenten erhalten. Aber, daß nicht 'reale' Juden gemeint seien, sondern 'metaphorische':

...die semitischen Personen in 'Soll und Haben' sind nicht empirische Juden, sondern metaphorische 'Juden'.(11)

In der Deutung der Juden als 'metaphorische' sieht Schneider für sich die Möglichkeit, die von ihm konstatierte 'Diskrepanz' aufzuklären. Er gelangt zu dieser Einschätzung, indem er der Entwicklung des Gebrauchs dieses Begriffs nachspürt und mit Verweis auf die einschlägigen Untersuchungen feststellt:

...die Theorie leistete freilich damit nur einen Nachvollzug des alltäglichen Sprachgebrauchs, der schon im 16./17. Jahrhundert die ganz und gar säkuläre Synonymisierung Jude = unehrlicher Handel abgeschlossen hatte,(12)

Er verweist auf den Gebrauch des Begriffs bei Heine und Marx und deklariert nur einen graduellen Unterschied des Gebrauchs bei Freytag:

'Jüdisch' steht auch in Soll und Haben für schachernden, wuchernden, spekulierenden Kapitalismus, nur daß hier, anders als bei Marx, für den mit diesen Bestimmungen das totum Kapitalismus charakterisiert ist, eine Dimension fehlt: 'Jude' meint in Soll und Haben nicht Kapitalismus generell, den der Roman ja affirmiert als werthaft-bürgerliche Produktionsweise, vielmehr meint das Stichwort 'Jude' hier lediglich einzelne negative Erscheinungen, Mißstände, die diese ökonomische Stufe mit sich bringt.(13)

Diese Interpretation findet sich auch bei anderen Autoren, die auch ein Art 'Metaphorik' im Gebrauch des Begriffs Jude und jüdisch(14) feststellen.

Für Schneider ist es 'Freytags Tragik',

...daß sich diese vorderhand werkimmanente Bedeutung historisch verselbständigt. Denn für den nachmaligen Antisemitismus sind die empirischen, die alltäglichen Juden just das, was für 'Soll und Haben' bloß die metaphorischen sind.(15)

Diese 'Tragik' liegt darin, daß Freytag

...ganz gegen seine liberalen Absichten, dem antiliberalen Antisemitismus Propagandahilfe leistet durch das Judenbild seines Romans.(16)

'Ganz gegen seine Absicht' kommt also auch Schneider (wie viele andere Autoren (17)) zu dem Schluß, daß Freytag 'Propagandahilfe' geleistet hat.

Was bleibt ist eine differenziertere Sicht auf das Problem der Judenfeindlichkeit in 'Soll und Haben'. Die Entwicklung dieser Einschätzung hat Schneider stringent aufgezeichnet - sichtbar gemacht, daß die historische Komponente bei der Einschätzung vielfach ausgeklammert wurde, daß Inanspruchnahme durch die Nationalsozialisten teilweise fraglos übernommen wurden und, nicht zuletzt, daß das emotionale Element gegen die Analyse oft in den Vordergrund getreten ist.(18) Es bleibt aber auch die Judenfeindlichkeit - ob real oder metaphorisch, es bleibt ein 'bornierter' Gustav Freytag, der dem Nationalsozialismus 'Propagandahilfe' leistete.

Schneider läßt Freytag von einem bewußten Judengegner zu einem bornierten Realisten werden, der sich der Wirkung seines Textes nicht bewußt war und so dem Nationalismus und in der Zukunft dem Nationalsozialismus Vorschub leistete. Auch dieses 'Ergebnis' würde Freytag nicht retten können. Doch so luzid und kenntnisreich die Analyse Schneiders auch ist, seine Ergebnisse sind aufgrund einiger Auslassungen und Gewaltsamkeiten nicht ganz hinreichend. Fast alle Analysen zu 'Soll und Haben' verweisen auf Bernhard Ehrenthal, dem jüdischen Wissenschaftler, der kaum als negativ gezeichnet gelten kann, der aber trotzdem auch als jüdische Negativfigur gesehen wird oder bei der Wertung als 'quantité négligeable' behandelt wird, da er untüchtig und krank ist, und im Verlauf des Romans stirbt. Hierauf verweist auch Schneider und zitiert dazu Améry:

...Bernhard sei zwar positiv pointiert, aber "der Autor läßt ihn schnell verschwinden: 'Abgang durch Tod', wie es im Nazi-KZ hieß; der einzige gute Jude ist ein toter Jude, basta."(19)

Schneider bemerkt mit Recht dazu:

Eine emotionale Interpretation dies, ebenso apodiktisch im Anspruch wie unhaltbar im Ergebnis.(20)

Er verweist darauf, daß Bernhard ein "Porträt von Freytags jüdischem Freund Jacob Kaufmann" ist(21) und somit kaum von Freytag negativ gesehen wurde.

Für all die Autoren, denen generell jeder Jude in 'Soll und Haben' negativ erscheint, ist der junge Ehrenthal kein Problem. Sie gehen an den von Schneider konstatierten Fakten vorbei und argumentieren wie z.B. Améry. Für Schneider hingegen wird gerade diese Erkenntnis zum Problem. Ehrenthal jetzt doch noch der negativen Seite zuzuschreiben, bedarf einer komplizierten Argumentation. Schneider konstatiert die Sonderstellung Ehrenthals im Roman und grenzt ihn einfach aus:

Unnütz ist er [Bernhard JM] aber nicht nur im Treiben der Welt des Romans, 'unnütz' ist er insgleichen für die Konsistenz dieser Welt, worin er nämlich keine Funktion besitzt, und somit für die Struktur des Romans zudem.(22)

Bernhard ist für Schneider als

...Romanperson autonom - freilich ist hier autonom nur der Todgeweihte, der Autonome umgekehrt todgeweiht!(23)

Sein Tod kann von Schneider nur durch eine forcierte Interpretation in sein Schema integriert werden. Der junge Ehrenthal gehört für Schneider 'in den Kontext des Optimismus um jeden Preis'.(24) Schneider zeichnet das Bild dieses 'jungen, jüdischen, polyglotten' Intellektuellen an dem nichts Negatives feststellbar ist, außer daß er 'unnütz' und 'todgeweiht` ist - wie im Buch vorgegeben - positiv.

Lassen wir außer acht, daß Schneider selbst darauf verweist, daß Bernhard 'das Porträt von Freytags jüdischem Freund Jacob Kaufmann' ist(25) und aus diesem Grund allein schon kaum eine negative Komponente enthalten kann; und sehen wir davon ab, daß Schneider die Interpretation Amérys 'der einzig gute Jude ist ein toter Jude'(26) vehement abweist (nebenbei mit dem impliziten Hinweis auf fehlenden 'Sachverstand' bei Améry(27)), doch auch dann kann Schneider seine Interpretation nur dadurch stützen, daß er konstatiert:

- wir erreichen zugleich den Punkt, der am weitesten von Freytags eigenen Intentionen entfernt ist.(28)

Um seine Interpretation schlüssig zu halten, muß Schneider unterstellen, daß Freytag nicht wußte, was er schrieb. Die von Freytag postulierte Gesellschaft ist für ihn nicht

hochwertig-tugendhaft, da sonst der Geist bestehen könnte,[...](29)

Da dieser 'Geist' aber repräsentiert wird durch Bernhard, der zur "Sphäre der 'Juden' zählt"(30), ist er "in der Erkenntnis der Inferiorität des 'Jüdischen' ... einer Meinung mit dem Geist des Romans".(31) Somit wird, Schneider zufolge, "die 'Geistfeindschaft' den vorwürfeverkörpernden 'Juden' zugeschlagen."(32)

Eine Figur des Romans ist 'einer Meinung mit dem Geist des Romans' - was Freytag nicht wußte!

Mit dieser Argumentation scheint es Schneider zu gelingen, die für ihn im Roman unnütze, 'autonome' Gestalt Bernhards zu integrieren - aber mit einem Aufwand an Umwegen und Unterstellungen, die sich so kaum halten lassen. Nicht nur, daß er den 'metaphorischen' Juden postuliert, er wendet auch eine positive jüdische Gestalt negativ, da ja ein positiver Jude, seiner Argumentation zufolge, nicht metaphorisch sein kann.

An dieser Stelle trifft sich Schneiders Argumentation in der Struktur mit der Argumentation Laaths, der auch postuliert, daß auf der 'bewußten' Ebene Freytag "getreu der liberalen Weltanschauung, niemals Antisemit gewesen"(33) ist, daß er dagegen - nicht bewußt - 'instinktmäßig' 'Antipathien hegte'(34)

Schneider gerät in dieses Dilemma, weil er zwei wichtigen Aspekten nicht genug Beachtung schenkt. Entgegen der Unterstellung Schneiders hat Bernhard eine 'Funktion'. Schneider selbst verweist darauf, daß Bernhard die "Vorwegnahme der tragenden positiven Personen"(35) in der 'Verlorenen Handschrift' ist, natürlich (für Schneider) ohne deren Denken in 'Praxisbezügen'.(36)

Freytag hat aber nicht nur platten Materialismus und nur vordergründige Nützlichkeitserwägungen im Sinne, wenn er an Wissenschaft und Bildung denkt. Herrmann zeigt in ihrer Arbeit sehr deutlich auf, daß Freytag beiden Seiten, der wirtschaftlichen Arbeit und der Wissenschaft und Bildung einen hohen Stellenwert zumißt:

Beide [Bürger und Gelehrte JM] arbeiteten miteinander im Geiste des Fortschritts, der Unternehmer als Sachwalter der wirtschaftlichen, der Gelehrte als Triebkraft der kulturellen Progressivität, und dienten damit der Nation.(37)

Sie stellt aber auch mit Recht fest, daß für Freytag

...die reine Intelligenz der akademischen Schicht der 'praktischen Intelligenz' des Besitzbürgertums übergeordnet sei, nicht nach wirtschaftlichen Merkmalen, denn 'das äußere Leben ist enge',(38)

Bildung und Wissenschaft waren aus Freytags Selbstverständnis heraus für ihn genau so wichtig (wenn nicht noch wichtiger) wie die wirtschaftliche Seite. Für Freytag war der Aspekt der Bildung aber mehr als nur praktisch verwertbares Wissen.

Für Anton Wohlfahrt ist das Kaufmannsgeschäft nicht ohne Poesie(39), das Leben als Kaufmann nicht langweilig:

"Nein," versetzte Anton hartnäckig, "der Kaufmann bei uns erlebt ebensoviel Großes, Empfindungen und Taten, als irgendein Reiter unter Arabern oder Indern."(40)

Zwar kann Anton dem "Geschäft" seine poetischen Seiten abgewinnen, doch mit Poesie hat er bis zu seiner Begegnung mit Bernhard nicht viel Bekanntschaft gemacht. Darum wird ihm gerade die Bekanntschaft mit Bernhard Ehrenthal wichtig, ebenso wichtig, wie sie für Bernhard wird, und das gerade aus dem Grund, weil sie sich ergänzen, weil der eine bei dem anderen das findet, was ihm zu fehlen scheint:

Mit diesem Tage begann für Anton und Bernhard ein Verhältnis, welches für beide Wert erhielt. Bei der Unterhaltung über das Schöne, welches die Kraft eines fremden Volkes geschaffen hatte, genossen sie die Freude, auch das Gute liebzugewinnen, das jeder in dem andern fand. Bernhards Sprachkenntnisse waren größer, und sein Gefühl für das Reizende in fremder Poesie bis zum Übermaß fein, in Antons Seele war alles geordnet und sicher.(41)

Wenn man diesen Aspekt des Verhältnisses Anton - Bernhard berücksichtigt, kann man kaum noch sagen, daß Bernhard Ehrenthal 'unnütz' ist, 'unnütz für die Struktur des Romans zudem' - wie Schneider behauptet.(42) Bernhard Ehrenthal ist wichtig, wichtig weil er den Aspekt der Bildung und Poesie verkörpert, der für Freytag wichtig ist. Er ist aber auch für Anton Wohlfahrt wichtig und somit für die Struktur des Romans, denn entgegen der Meinung Schneiders hat Freytag kaum eine für die Handlung des Romans unwichtige Figur eingeführt.(43) Er ist für Anton wichtig, weil er ihm eine andere Art der Poesie zeigt und weil er ihm in der Bildung (beide lernen gemeinsam englisch) voraus ist. Sein Tod ist die Ausnahme in SuH. Wie Fontane bemerkt, glückt es Freytag

...den Tod aus dem Bereich seines Romans beinahe ganz fernzuhalten. Er hat nirgends überflüssige Personen und braucht deshalb keinen sterben zu lassen.(44)

Bernhard stirbt denn auch an einer zentralen Stelle des Romans. Er ist derjenige, der versucht hat, seinen Vater davon abzubringen, sich das Gut des Barons anzueignen. So wie Hirsch Ehrenthal für seinen Sohn dieses Gut begehrte, so ist er auch für seinen Sohn bereit, auf es zu verzichten. Nur durch die Intrigen Veitel Itzigs gelingt dies Bernhard nicht. Sein Tod vernichtet die letzte Hoffnung des Freiherrn, sein Gut zu erhalten, stürzt den alten Ehrenthal in Verzweiflung und den Bankrott.(45) Gleichzeitig wird Veitel Itzig durch den von ihm veranlaßten Diebstahl der Hypothek unabänderlich schuldig.

Bernhards Tod ist also eine ganz wichtige 'Schaltstelle' im Romangeschehen. Die nachfolgenden Teile sind ohne diese Ereignisse kaum denkbar.

Mit diesem Befund ist aber auch der Teil der Argumentation hinfällig, die Bernhards 'Nutzlosigkeit' benötigte, um den angeblichen 'Antisemitismus' in SuH durch die durchgängige Konstatierung 'metaphorischer Juden' hinfällig zu machen. Bernhard Ehrenthal ist ein 'guter' Jude. Er ist aber nicht die Ausnahme. Auch der Vater Bernhards ist nicht von vornherein schlecht zu nennen. Seine Handlungsweise ist nicht nach den von Freytag aufgestellten bürgerlichen Regeln über jeden Zweifel erhaben.

Freytag hat in mehreren Aufsätzen seine Haltung zum Judentum dargelegt. Er hat gegen Judenhetze und -haß angeschrieben. Er hat dargestellt wie die Entwicklung der Juden in Deutschland dazu geführt hat, daß sie immer mehr Teil Deutschlands wurden.(46) In dem Artikel der Grenzboten "Die Juden in Breslau" wird der Integrationsvorgang der Juden dargestellt. Es wird die Entwicklung der Juden aufgezeigt, ein Bildungsprozeß, der zur fast völligen Assimilierung führt:

Die Lage Schlesiens an der Grenze von Posen, Polen und Galizien, begünstigt ein fortwährendes Eindringen der polnischen Schacherjuden in die Provinz, und dies jüdische Element, welches vom Osten herkommt, beginnt seinen Bildungsprozeß in der ersten Generation bei uns, die zweite Generation geht nach Berlin, die dritte nach Frankfurt. Da hier die Destillation anfängt, bleibt auch der meiste Schmuz bei uns sitzen.(47)

Diese Entwicklung wird auch in SuH dargestellt. Schmeie Tinkeles ist ein solcher galizischer 'Schacherjude'. Aber er wird nicht bösartig oder widerwärtig dargestellt, sondern mit viel Liebe und Verständnis:

Der frühere Tinkeles war in seiner Art ein hübscher Bursch gewesen. Er hatte seine beiden Locken stets so glänzend und kokett getragen, wie einem Geschäftsmann nur möglich ist, er hatte hübsche rote Lippen gehabt und einen leichten Rosaschimmer auf seinen gelben Wangen.(48)

Hirsch Ehrenthal ist ein schon weitgehend assimilierter Jude, der sich bemüht, so zu werden, daß er von den deutschen 'ehrbaren' Kaufleuten akzeptiert wird. Auch er ist keine vollständig negative Figur. Die Gründe für seine Handlungsweise sind oben schon dargestellt worden (er tut alles, um seinen Kindern den Eingang in die Gesellschaft zu ebnen). Die Gründe für sein Scheitern liegen auf der Hand:

Alle diese höchsten Tugenden eines Kaufmanns sind erst die Folgen eines edlen Selbstgefühls, Stolzes, einer sicheren Stellung zu der menschlichen Gesellschaft, die Blüthen eines freien und leichten Verkehrs mit starken und guten Menschen auch außer dem Geschäft, sie sind auch bei Christen selten genug, war es dem Juden bis jetzt leicht gemacht, sie zu erwerben?(49)

Kein Antisemitismus, sondern Einsicht in die Problematik der Juden in Deutschland zu Freytags Zeit, realistische Darstellung zumal.(50) Von den Hauptpersonen des Romans bleibt nur ein wirklich "böser Jude" über - Veitel Itzig, aber auch er mehr ein Getriebener als ein aus eigenem Antrieb Handelnder.

Nun ist ein jüdischer Schurke in der Literatur nicht gerade eine Erfindung Freytags. Es ist vielleicht nicht notwendig auf Shakespeares Shylock im 'Kaufmann von Venedig' zu verweisen, aber z.B. Fagin, der jüdische Schurke in Dickens 'Oliver Twist', sollte man nicht übersehen. Gerade die Beziehung Freytags zu Dickens ist offensichtlich(51), und Fontane ist wohl einer der ersten, der auf diesen Umstand hinweist:

Dickens, Thackeray und Cooper sind unverkennbare Vorbilder gewesen. Die Judenherberge, Hippus und Veitel Itzig , (...) sie alle könnten in den 'Pickwickern', im 'Oliver Twist' und 'Nikolaus Nickleby' so gut eine Stelle finden, wie in Freytags 'Soll und Haben'.(52)

Daher also Veitel Itzig, daher viele andere Personen in Soll und Haben. Der einzige Vorwurf, der jetzt noch Freytag treffen könnte, wäre der des Plagiats, aber Fontane weist diesen Vorwurf entschieden zurück:

Was den Freytagschen Roman zu einem Sieger über die jenigen macht, die ihn großgezogen haben (...) das ist seine Idee und seine Form. Das künstlerische Zusammenwirken dieser beiden Faktoren erhebt den uns vorliegenden Roman auf die Schulter aller seiner Vorbilder...(53)


Anmerkungen:

(1) Dieser Meinung ist z.B. Améry: "... wenn man ein literarisches Werk zugleich als ästhetisch unbedeutend und politisch gefährlich einschätzt, tut man doch wohl am besten, darüber zu schweigen." Jean Améry, Schlecht klingt das Lied vom braven Mann, Anläßlich der Neuauflage von Gustav Freytags 'Soll und Haben', in: Neue Rundschau, 1978, S. 84-93, hier S. 86.
(2) Michael Schneider: Apologie des Bürgertums. Zur Problematik von Rassismus und Antisemitismus in Gustav Freytags Roman 'Soll und Haben'. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Jg. 25, 1981, S. 385-413, hier S. 385 f. Anm. 2.
(3) a.a.O. S. 386.
(4) a.a.O. S. 386.
(5) a. a. O. S. 386, vgl. Erwin Laaths: Der Nationalliberalismus im Werke Gustav Freytags, (Diss.) Bonn 1934.
(6) Gustav Freytag: Der Streit über das Judenthum in der Musik, Grenzboten 1869, Nr. 22, S. 321-326.
(7) Schneider, a. a. O. S. 388 f.
(8) a. a. O. S. 389.
(9) a. a. O. S. 392.
(10) a. a. O. S. 392.
(11) a. a. O. S. 403.
(12) a. a. O. S. 397.
(13) a. a. O. S. 400.
(14) "Nicht das Judentum konkret ist gemeint, sondern eine Lebensform, die als fremd und damit per se feindlich dargestellt wird." Jansen, Josef: Einführung in die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts, Bd. 2: März-Revolution, Reichsgründung und die Anfänge des Imperialismus, Opladen 1984, S. 87, vgl. auch: a.a.O, S. 93, Anm. 16: "Die Juden sind also vergleichbar den Indianern in vielen Western und den Außerirdischen in vielen Science-Fiction-Romanen".
(15) Schneider, a.a.O. S. 413.
(16) a.a.O. S. 413.
(17) z.B. J. Jansen: "In Deutschland ist es zu einem Rückfall in die Barbarei gekommen, und daran tragen Romane wie Soll und Haben ein erhebliches Maß an Schuld." a. a. O. S. 88.
(18) vgl. Schneiders Anmerkung zu Jean Améry a. a. O. S. 411.
(19) a. a. O. S. 411, Anm. Nr. 75, Jean Améry, Schlecht klingt das Lied vom braven Mann, Neue Rundschau 89 (1978), S. 84-93, hier S. 90.
(20) a. a. O. S. 411, Anm. Nr. 75.
(21) a. a. O. S. 389, vgl. Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1899, S.223.
(22) a. a. O. S. 409.
(23) a. a. O. S. 410.
(24) a. a. O. S. 409.
(25) a. a. O. S. 389.
(26) a. a. O. S. 441, Améry, a. a. O., S. 90.
(27) a. a. O. S. 411, Anm. 77
(28) a. a. O. S. 410.
(29) a. a. O. S. 411.
(30) a. a. O. S. 411.
(31) a. a. O. S. 411.
(32) a. a. O. S. 411.
(33) Laaths, a.a.O. S. 26
(34) "Die Lösung dürfte wohl darin zu suchen sein, daß oft ein Unterschied besteht zwischen der gewillkürten, bewußten Meinung einerseits und der angeborenen, gefühlsmäßigen Haltung andererseits." Laaths, a. a. O. S. 28.
(35) Schneider, a.a.O. S. 409.
(36) a. a. O. S. 409.
(37) R. Herrmann: Gustav Freytag, Bürgerliches Selbstverständnis und preußisch - deutsches Nationalbewußtsein, Ein Beitrag zur Geschichte des national-liberalen Bürgertums der Reichsgründungszeit, (Diss.) Würzburg 1974, S. 101.
(38) a.a.O. S. 101. "...das äußere Leben ist enge, das innere anspruchsvoll", Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift, 78. Aufl., Leipzig 1922, Teil I. S. 238.
(39) z.B.: "...und die Stunde, in welcher Anton zuerst in das Magazin des Hauses trat..., wurde für seinen empfänglichen Sinn die Quelle einer eigentümlichen Poesie, die wenigstens ebensoviel wert war, als manche andere poetische Empfindung..." Soll und Haben, Roman in sechs Büchern, hrsg. von J. M. Metzger, Hamburg o. J., I. Buch, Kapitel 5, S. 59.
(40) SuH, a.a.O., II. Buch, Kapitel 6, S. 219
(41) a.a.O., II. Buch, Kapitel 6, S. 223.
(42) vgl. Anmerkung 21.
(43) Gleich welche Kritik an SuH geübt wird, keiner der Kritiker wirft Freytag gerade in dieser Hinsicht vor, ungenau zu sein. Eher wird ihm diese Akribie ein wenig zum Vorwurf gemacht: "In diesen Details nun ist Gustav Freytag Meister. Da wird im ersten Bande kein Nagel eingeschlagen, an dem im dritten Bande nicht irgend etwas, sei es ein Rock oder ein Mensch aufgehängt würde," Th. Fontane: Literarische Essays und Studien, München 1963, S. 219.
(44) a.a.O. S. 218.
(45) Hirsch Ehrenthal verliert den Prozeß um die Hypothek auf das Gut und somit auch die Ansprüche auf das dem Baron geliehene Geld. vgl. SuH, a.a.O., III. Buch, Kapitel 8, S. 438.
(46) vgl. z.B. Über den Antisemitismus, Eine Pfingstbetrachtung, Berlin 1893, zuerst erschienen in der Wiener "Neuen Freien Presse" 21.05.1893 und "Die Juden in Breslau", in: "Die Grenzboten" Nr. 30, 8. Jg., 2. Sem. 1849, S. 144-149.
(47) "Die Juden in Breslau" a.a.O. S. 145.
(48) SuH, a.a.O., III. Buch, Kap. 3, S. 344. vgl. auch SuH, a.a.O., I. Buch, 5. Kap., S. 53-55, sowie II. Buch, Kap. 7, S. 247: "...wer einmal das Behagen gesehen hat, mit welchem Fink den Schmeie Tinkeles behandelt, der weiß, wieviel von dem schwächlichen deutschen Gemüth auch bei ihm zutage kommt. Es ist so viel drollige Laune in seinem Wesen, daß das Kontor durch solche Stunden entzückt wird, und, was die Hauptsache ist, Tinkeles selbst ist geradezu in ihn verliebt."
(49) Die Juden in Breslau, a.a.O. S. 147.
(50) Es sei vielleicht noch darauf hingewiesen, daß der Aufsatz Freytags "Über den Antisemitismus" durch den "Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" veröffentlicht wurde, was nicht gerade darauf schließen läßt, daß die Darstellung Freytags als falsch oder antijüdisch angesehen wurde.
(51) vgl. Roland Freymond, Der Einfluß von Charles Dickens auf Gustav Freytag. Mit besonderer Berücksichtigung der Romane 'David Copperfield' und 'Soll und Haben'. In: Prager deutsche Studien 19 (1912), S. 1-97.
(52) Fontane, a.a.O. S. 215.
(53) Fontane, a.a.O. S. 216.

Zurück nach oben