Bernhard
Ehrenthal - ein 'unnützes' Mitglied der Gesellschaft Jürgen Matoni, in: Gustav Freytag Blätter Nr. 47 (1989), S. 17 - 27. Spätestens in dem Moment, da ein Schriftsteller aufhört nur schöngeistige oder nur unterhaltsame Literatur zu machen, also nicht mehr nur "l'art pour l'art", wird er mit anderen Augen gesehen, mit anderen Maßstäben gemessen. Wenn dann auch noch ein politischer Anspruch erhoben wird - und welche gute Literatur wäre nicht politisch - wird dieser Anspruch mit sehr kritischen Augen überprüft. Freytag ist ein solcher Schriftsteller. Keines seiner Bücher kann den Anspruch verhehlen, auch Einfluß nehmen zu wollen auf das Denken und Handeln seiner Leser. Und seit seinem ersten Romanerfolg ist neben den Lobeshymnen auch die Kritik nicht verstummt. Schon mit den ersten Rezensionen seines Romans "Soll und Haben" wird gerade diesem Buch und damit dem Autor ein zumindest latenter Antisemitismus unterstellt und dies bis in die jüngste Zeit. Wenn wir einige seiner Schriftstellerkollegen nehmen, beginnt die Kritik bei Fontane und endet z.B. bei Améry. Wo der erstere noch das Buch in fast jeder Hinsicht - bis eben auf den unterstellten Antisemitismus - lobt, weist Améry das ganze Buch brüsk zurück und besonders wegen diesem unterstellten Antisemitismus. Wenn jetzt dieses Buch antisemitisch ist, kann es nicht gerettet werden, auch wenn es literarisch noch so gut wäre.(1) Jedoch bleiben trotz (oder gerade wegen) der vielen, die diesen Antisemitismus konstatieren, genug Zweifel, um nicht gleich jede Begegnung mit Freytag abzulehnen. Denn in neuerer Zeit wird dieser Vorwurf fast immer damit gekoppelt, daß Freytag literarisch überholt und auch aus diesem Grund nicht mehr lesbar ist und nicht mehr gelesen wird. Wenn dem so ist, dann ist dieses Credo zumindest fraglich, denn um das festzustellen, muß man seine Bücher lesen. Und wenn man aus seinen Büchern heraus Antisemitismus an Freytags Person selbst festmachen will, dann muß man sich eingehend mit Freytag beschäftigen, was wieder gegen seine Unwichtigkeit spricht. Einer, der sich trotz dieser Einwände mit Freytag beschäftigt, ist Michael Schneider. Er ist auf den Antisemitismus eingegangen und hat versucht an 'Soll und Haben' zu zeigen, daß davon keine Rede sein kann. Aber, wie bei vielen anderen Versuchen dieser Art, ist es auch ihm nicht gelungen, die Zweifel zu zerstreuen. Michael Schneider beginnt seine Analyse von 'Soll und Haben' bei der "Wirksamkeit" und seiner späteren "Unwirksamkeit" bis hin zum - von ihm konstatierten - geschwundenen Interesse an Freytag überhaupt. (Für Schneider dadurch dokumentiert, daß im Sammelband "Deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts" Freytag nicht mehr erwähnt wird.)(2) Für Schneider ist es ausgemacht, daß der 'Ansehensverlust'(3) von 'Soll und Haben' daraus resultiert, daß man
Schneider verweist in bezug auf diese Entwicklung auf Laaths, der in seiner Untersuchung von 1934 versuchte, Freytag für die völkische Argumentation zu reklamieren:
Dagegen bringt er Argumente die gegen Freytags Antisemitismus sprechen. Er verweist auf Freytags positiven Artikel zur Judenfrage(6), seine "Indifferenz" in religiösen Dingen, auf seine dritte (jüdische) Ehefrau und nicht zuletzt auf die "durchaus positiven jüdischen Romanfiguren..."(7) Er stellt aber doch fest:
In der weiteren Analyse belegt Schneider, daß die Judendarstellung in 'Soll und Haben' "als realistische Darstellung akzeptiert werden"(9) kann, mit einer Einschränkung allerdings:
Mit einer brillanten Analyse zeigt Schneider, daß es sich bei der Problematik des Romans um den Antagonismus Adel - Bürgertum und Juden - Bürgertum handelt, wobei die Juden als in jeder Hinsicht der Ideologie des liberalen Bürgertums entgegenstehen. - alle negativen Komponenten erhalten. Aber, daß nicht 'reale' Juden gemeint seien, sondern 'metaphorische':
In der Deutung der Juden als 'metaphorische' sieht Schneider für sich die Möglichkeit, die von ihm konstatierte 'Diskrepanz' aufzuklären. Er gelangt zu dieser Einschätzung, indem er der Entwicklung des Gebrauchs dieses Begriffs nachspürt und mit Verweis auf die einschlägigen Untersuchungen feststellt:
Er verweist auf den Gebrauch des Begriffs bei Heine und Marx und deklariert nur einen graduellen Unterschied des Gebrauchs bei Freytag:
Diese Interpretation findet sich auch bei anderen Autoren, die auch ein Art 'Metaphorik' im Gebrauch des Begriffs Jude und jüdisch(14) feststellen. Für Schneider ist es 'Freytags Tragik',
Diese 'Tragik' liegt darin, daß Freytag
'Ganz gegen seine Absicht' kommt also auch Schneider (wie viele andere Autoren (17)) zu dem Schluß, daß Freytag 'Propagandahilfe' geleistet hat. Was bleibt ist eine differenziertere Sicht auf das Problem der Judenfeindlichkeit in 'Soll und Haben'. Die Entwicklung dieser Einschätzung hat Schneider stringent aufgezeichnet - sichtbar gemacht, daß die historische Komponente bei der Einschätzung vielfach ausgeklammert wurde, daß Inanspruchnahme durch die Nationalsozialisten teilweise fraglos übernommen wurden und, nicht zuletzt, daß das emotionale Element gegen die Analyse oft in den Vordergrund getreten ist.(18) Es bleibt aber auch die Judenfeindlichkeit - ob real oder metaphorisch, es bleibt ein 'bornierter' Gustav Freytag, der dem Nationalsozialismus 'Propagandahilfe' leistete. Schneider läßt Freytag von einem bewußten Judengegner zu einem bornierten Realisten werden, der sich der Wirkung seines Textes nicht bewußt war und so dem Nationalismus und in der Zukunft dem Nationalsozialismus Vorschub leistete. Auch dieses 'Ergebnis' würde Freytag nicht retten können. Doch so luzid und kenntnisreich die Analyse Schneiders auch ist, seine Ergebnisse sind aufgrund einiger Auslassungen und Gewaltsamkeiten nicht ganz hinreichend. Fast alle Analysen zu 'Soll und Haben' verweisen auf Bernhard Ehrenthal, dem jüdischen Wissenschaftler, der kaum als negativ gezeichnet gelten kann, der aber trotzdem auch als jüdische Negativfigur gesehen wird oder bei der Wertung als 'quantité négligeable' behandelt wird, da er untüchtig und krank ist, und im Verlauf des Romans stirbt. Hierauf verweist auch Schneider und zitiert dazu Améry:
Schneider bemerkt mit Recht dazu:
Er verweist darauf, daß Bernhard ein "Porträt von Freytags jüdischem Freund Jacob Kaufmann" ist(21) und somit kaum von Freytag negativ gesehen wurde. Für all die Autoren, denen generell jeder Jude in 'Soll und Haben' negativ erscheint, ist der junge Ehrenthal kein Problem. Sie gehen an den von Schneider konstatierten Fakten vorbei und argumentieren wie z.B. Améry. Für Schneider hingegen wird gerade diese Erkenntnis zum Problem. Ehrenthal jetzt doch noch der negativen Seite zuzuschreiben, bedarf einer komplizierten Argumentation. Schneider konstatiert die Sonderstellung Ehrenthals im Roman und grenzt ihn einfach aus:
Bernhard ist für Schneider als
Sein Tod kann von Schneider nur durch eine forcierte Interpretation in sein Schema integriert werden. Der junge Ehrenthal gehört für Schneider 'in den Kontext des Optimismus um jeden Preis'.(24) Schneider zeichnet das Bild dieses 'jungen, jüdischen, polyglotten' Intellektuellen an dem nichts Negatives feststellbar ist, außer daß er 'unnütz' und 'todgeweiht` ist - wie im Buch vorgegeben - positiv. Lassen wir außer acht, daß Schneider selbst darauf verweist, daß Bernhard 'das Porträt von Freytags jüdischem Freund Jacob Kaufmann' ist(25) und aus diesem Grund allein schon kaum eine negative Komponente enthalten kann; und sehen wir davon ab, daß Schneider die Interpretation Amérys 'der einzig gute Jude ist ein toter Jude'(26) vehement abweist (nebenbei mit dem impliziten Hinweis auf fehlenden 'Sachverstand' bei Améry(27)), doch auch dann kann Schneider seine Interpretation nur dadurch stützen, daß er konstatiert:
Um seine Interpretation schlüssig zu halten, muß Schneider unterstellen, daß Freytag nicht wußte, was er schrieb. Die von Freytag postulierte Gesellschaft ist für ihn nicht
Da dieser 'Geist' aber repräsentiert wird durch Bernhard, der zur "Sphäre der 'Juden' zählt"(30), ist er "in der Erkenntnis der Inferiorität des 'Jüdischen' ... einer Meinung mit dem Geist des Romans".(31) Somit wird, Schneider zufolge, "die 'Geistfeindschaft' den vorwürfeverkörpernden 'Juden' zugeschlagen."(32) Eine Figur des Romans ist 'einer Meinung mit dem Geist des Romans' - was Freytag nicht wußte! Mit dieser Argumentation scheint es Schneider zu gelingen, die für ihn im Roman unnütze, 'autonome' Gestalt Bernhards zu integrieren - aber mit einem Aufwand an Umwegen und Unterstellungen, die sich so kaum halten lassen. Nicht nur, daß er den 'metaphorischen' Juden postuliert, er wendet auch eine positive jüdische Gestalt negativ, da ja ein positiver Jude, seiner Argumentation zufolge, nicht metaphorisch sein kann. An dieser Stelle trifft sich Schneiders Argumentation in der Struktur mit der Argumentation Laaths, der auch postuliert, daß auf der 'bewußten' Ebene Freytag "getreu der liberalen Weltanschauung, niemals Antisemit gewesen"(33) ist, daß er dagegen - nicht bewußt - 'instinktmäßig' 'Antipathien hegte'(34) Schneider gerät in dieses Dilemma, weil er zwei wichtigen Aspekten nicht genug Beachtung schenkt. Entgegen der Unterstellung Schneiders hat Bernhard eine 'Funktion'. Schneider selbst verweist darauf, daß Bernhard die "Vorwegnahme der tragenden positiven Personen"(35) in der 'Verlorenen Handschrift' ist, natürlich (für Schneider) ohne deren Denken in 'Praxisbezügen'.(36) Freytag hat aber nicht nur platten Materialismus und nur vordergründige Nützlichkeitserwägungen im Sinne, wenn er an Wissenschaft und Bildung denkt. Herrmann zeigt in ihrer Arbeit sehr deutlich auf, daß Freytag beiden Seiten, der wirtschaftlichen Arbeit und der Wissenschaft und Bildung einen hohen Stellenwert zumißt:
Sie stellt aber auch mit Recht fest, daß für Freytag
Bildung und Wissenschaft waren aus Freytags Selbstverständnis heraus für ihn genau so wichtig (wenn nicht noch wichtiger) wie die wirtschaftliche Seite. Für Freytag war der Aspekt der Bildung aber mehr als nur praktisch verwertbares Wissen. Für Anton Wohlfahrt ist das Kaufmannsgeschäft nicht ohne Poesie(39), das Leben als Kaufmann nicht langweilig:
Zwar kann Anton dem "Geschäft" seine poetischen Seiten abgewinnen, doch mit Poesie hat er bis zu seiner Begegnung mit Bernhard nicht viel Bekanntschaft gemacht. Darum wird ihm gerade die Bekanntschaft mit Bernhard Ehrenthal wichtig, ebenso wichtig, wie sie für Bernhard wird, und das gerade aus dem Grund, weil sie sich ergänzen, weil der eine bei dem anderen das findet, was ihm zu fehlen scheint:
Wenn man diesen Aspekt des Verhältnisses Anton - Bernhard berücksichtigt, kann man kaum noch sagen, daß Bernhard Ehrenthal 'unnütz' ist, 'unnütz für die Struktur des Romans zudem' - wie Schneider behauptet.(42) Bernhard Ehrenthal ist wichtig, wichtig weil er den Aspekt der Bildung und Poesie verkörpert, der für Freytag wichtig ist. Er ist aber auch für Anton Wohlfahrt wichtig und somit für die Struktur des Romans, denn entgegen der Meinung Schneiders hat Freytag kaum eine für die Handlung des Romans unwichtige Figur eingeführt.(43) Er ist für Anton wichtig, weil er ihm eine andere Art der Poesie zeigt und weil er ihm in der Bildung (beide lernen gemeinsam englisch) voraus ist. Sein Tod ist die Ausnahme in SuH. Wie Fontane bemerkt, glückt es Freytag
Bernhard stirbt denn auch an einer zentralen Stelle des Romans. Er ist derjenige, der versucht hat, seinen Vater davon abzubringen, sich das Gut des Barons anzueignen. So wie Hirsch Ehrenthal für seinen Sohn dieses Gut begehrte, so ist er auch für seinen Sohn bereit, auf es zu verzichten. Nur durch die Intrigen Veitel Itzigs gelingt dies Bernhard nicht. Sein Tod vernichtet die letzte Hoffnung des Freiherrn, sein Gut zu erhalten, stürzt den alten Ehrenthal in Verzweiflung und den Bankrott.(45) Gleichzeitig wird Veitel Itzig durch den von ihm veranlaßten Diebstahl der Hypothek unabänderlich schuldig. Bernhards Tod ist also eine ganz wichtige 'Schaltstelle' im Romangeschehen. Die nachfolgenden Teile sind ohne diese Ereignisse kaum denkbar. Mit diesem Befund ist aber auch der Teil der Argumentation hinfällig, die Bernhards 'Nutzlosigkeit' benötigte, um den angeblichen 'Antisemitismus' in SuH durch die durchgängige Konstatierung 'metaphorischer Juden' hinfällig zu machen. Bernhard Ehrenthal ist ein 'guter' Jude. Er ist aber nicht die Ausnahme. Auch der Vater Bernhards ist nicht von vornherein schlecht zu nennen. Seine Handlungsweise ist nicht nach den von Freytag aufgestellten bürgerlichen Regeln über jeden Zweifel erhaben. Freytag hat in mehreren Aufsätzen seine Haltung zum Judentum dargelegt. Er hat gegen Judenhetze und -haß angeschrieben. Er hat dargestellt wie die Entwicklung der Juden in Deutschland dazu geführt hat, daß sie immer mehr Teil Deutschlands wurden.(46) In dem Artikel der Grenzboten "Die Juden in Breslau" wird der Integrationsvorgang der Juden dargestellt. Es wird die Entwicklung der Juden aufgezeigt, ein Bildungsprozeß, der zur fast völligen Assimilierung führt:
Diese Entwicklung wird auch in SuH dargestellt. Schmeie Tinkeles ist ein solcher galizischer 'Schacherjude'. Aber er wird nicht bösartig oder widerwärtig dargestellt, sondern mit viel Liebe und Verständnis:
Hirsch Ehrenthal ist ein schon weitgehend assimilierter Jude, der sich bemüht, so zu werden, daß er von den deutschen 'ehrbaren' Kaufleuten akzeptiert wird. Auch er ist keine vollständig negative Figur. Die Gründe für seine Handlungsweise sind oben schon dargestellt worden (er tut alles, um seinen Kindern den Eingang in die Gesellschaft zu ebnen). Die Gründe für sein Scheitern liegen auf der Hand:
Kein Antisemitismus, sondern Einsicht in die Problematik der Juden in Deutschland zu Freytags Zeit, realistische Darstellung zumal.(50) Von den Hauptpersonen des Romans bleibt nur ein wirklich "böser Jude" über - Veitel Itzig, aber auch er mehr ein Getriebener als ein aus eigenem Antrieb Handelnder. Nun ist ein jüdischer Schurke in der Literatur nicht gerade eine Erfindung Freytags. Es ist vielleicht nicht notwendig auf Shakespeares Shylock im 'Kaufmann von Venedig' zu verweisen, aber z.B. Fagin, der jüdische Schurke in Dickens 'Oliver Twist', sollte man nicht übersehen. Gerade die Beziehung Freytags zu Dickens ist offensichtlich(51), und Fontane ist wohl einer der ersten, der auf diesen Umstand hinweist:
Daher also Veitel Itzig, daher viele andere Personen in Soll und Haben. Der einzige Vorwurf, der jetzt noch Freytag treffen könnte, wäre der des Plagiats, aber Fontane weist diesen Vorwurf entschieden zurück:
Anmerkungen: (1) Dieser Meinung ist
z.B. Améry: "... wenn man ein literarisches Werk
zugleich als ästhetisch unbedeutend und politisch
gefährlich einschätzt, tut man doch wohl am besten,
darüber zu schweigen." Jean Améry, Schlecht klingt
das Lied vom braven Mann, Anläßlich der Neuauflage von
Gustav Freytags 'Soll und Haben', in: Neue Rundschau,
1978, S. 84-93, hier S. 86. |