zurück zur Textauswahl zurück zur Textauswahl
  Demaskierung der Macht
Margret Galler: Orbis Linguarum, Bd. 2, Legnica 1995, S. 99 – 104.

Gustav Freytag zählt heutzutage zu den weitgehend vergessenen Dichtern. Zu seiner Zeit und noch bis in die ersten Dezennien dieses Jahrhunderts galt er als einer der Hauptvertreter des "Bürgerlichen Realismus". Sein bekanntestes Werk, der Roman "Soll und Haben" (1855) war im neunzehnten Jahrhundert ein Bestseller. Dieser Roman thematisiert, wie Freytags literarisches Werk insgesamt, die Bedeutung des Bürgertums in bezug auf Zukunft und Fortschritt und dies in bewußter Gegenüberstellung zum Adel. Der "bürgerlichen Tüchtigkeit" des Kaufmannsstandes, "welcher die Zukunft gehört", wird - wie der zeitgenössische Rezensent Rudolf Gottschall schreibt - "die Aristokratie des Grundadels mit all ihrem verlockenden Reiz, aber auch mit ihrer in Verfall gerathenen Herrlichkeit gegenübergestellt".(1) Freytags Zeichnung des Adels wurde nicht von allen kritiklos hingenommen. Fontane zum Beispiel schreibt in seiner Rezension zu "Soll und Haben", obwohl Freytag "einen Teil des Adels richtig schildert, so behaupten wir doch, es fehlt dem echten Bürgertum gegenüber die Schilderung des echten Adels".(2) Diese Kritik stellt eine Verkennung des Freytagschen Anliegens dar. Weil Freytag in ererbten Standesprivilegien und unverdienten Machtpositionen eine Gefahr, ein Hindernis des Fortschritts sah, mußte er da, wo er Adel darstellte, ihn auch als etwas Untergehendes und Überwindbares zeigen. Bereits seine frühen Dramen zeugen, wie die folgende Erörterung zeigen soll, von dieser Opposition zum Adel.

In seinem Schauspiel "Graf Waldemar" läßt Freytag den gleichnamigen Helden des Stückes die Worte sprechen: "ich fange bereits an, einen kleinen Beigeschmack von Fäulniß zu bekommen."(3) Eine Auffassung, hier auch als Einsicht übermittelt, welche die Richtung von Freytags Frontstellung gegen den Adel charakterisiert. Freytags "Bewußtsein vom Wandel der Verhältnisse, der dem Adel immer mehr die Lebensgrundlage entzieht"(4), äußert sich in aller Regel recht unverblümt in seinen Werken. In der Vergleichung von Adel und Bürger oder, wie Mayrhofer schreibt, "von gedankenlosem Schmarotzertum und tätiger Kraft"(5), ist es der Bürger, dem Freytags Sympathie gilt. Es ist der ohne Standesprivilegien ausgestattete Mensch, der sich als edel erweist und durch sein Bewußtsein von Ehre, durch sein sittlich moralisches Verhalten und durch seine für die Existenzerhaltung notwendigerweise entwickelten Fähigkeit einer tätigen Lebensbewältigung letztendlich den Adel als Instanz der Macht bezwingt.

Daß für Freytag der Untergang des Adels in seiner politischen Machtstellung nicht nur ein Desiderat, sondern bereits eine kalkulierbare Zukunft darstellte, zeigt sich zum Beispiel in dem einleitenden Satz seines Aufsatzes in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Die Grenzboten" aus dem Jahre 1868, wo er - wie auch der Titel des Aufsatzes lautet - gegen "Die Ertheilung des Adels an Bürgerliche" votiert.

Ueber den politischen Werth, welchen das Institut des deutschen Adels für die Nation hat, mag die Nachwelt urtheilen, welche diese sociale Erfindung als eine geschichtliche Erscheinung vom Anfang bis zur Vollendung übersehen wird.(6)

Fast sarkastisch klingt seine Aussage, wenn er die Rolle des Adels auf den "Sophaplatz" der Hausfrau reduziert. Denken wir an die Praxis heutiger Massenblättchen, die uns mit Neuigkeiten über gegenwärtige Königshäuser und andere Mitglieder des Adels informieren und uns Mitteilung über ihre Sorgen und Problemchen machen, so scheint - zumindest für Deutschland - dieses Ziel erreicht.

[...] wir erklären eifrig, daß wir durchaus in der Ordnung finden, wenn deutsche Hausfrauen bei jedem geselligen Vergnügen ihrer adligen Freundin den besten Sophaplatz und die erste Tasse Kaffe anbieten. Wir halten allerdings für kein Glück, wenn einzelnen unserer Adligen die Phantasie begehrlich auf Zuständen der Vergangenheit haftet, wo die Privilegien des Adels zahlreicher, seine Herrenstellung im Volke unzweifelhaft war [...](7)

Betrachten wir jedoch Freytags Bild des Adels, wie er es in seinen beiden frühen Schauspielen "Graf Waldemar" und "Die Valentine" übermittelt, etwas genauer. Für die Zeichnung des Adels ist es dabei nebensächlich, ob man diese Stücke als "jungdeutsch" ansehen will oder nicht, als Bühnenstücke haben sie jedoch den Vorteil, daß bestimmte Aussagen wesentlich prägnanter formuliert werden müssen. Die Schauspiele "Graf Waldemar" aus dem Jahre 1847 und "Die Valentine", bereits ein Jahr zuvor geschrieben,(8) behandeln das Leben am Hofe. Dieses Hofleben wird nicht in einer direkt politischen Dimension gesehen, sondern die Höflinge werden in ihrem 'Intriguantentum' und in ihrem Mängelverhalten gezeigt, die besseren - zur Läuterung fähigen - in ihren Schwächen. Keine der Hofnaturen ist moralisch integer. Mayrhofer versteht den von Freytag praktizierten Blick auf die "menschliche Seite" und die "satirisch[e]" Beleuchtung des Adels als "demokratische[n] Zug der Zeit"(9), ohne daß er diese Perspektive jedoch auch gleichzeitig konkret als Entpolitisierung im Sinne von Verlust der Vormachtstellung des Adels benennen würde.

Graf Waldemar, "ein durch wilden Genuss bis zum Ekel übersättigter Aristokrat"(10), der später durch die Gärtnerstochter Gertrud Hiller Läuterung und Rettung erfährt, wird gleich zu Beginn des Stückes als wenig vorausschauend und in seinem Verhalten verantwortungslos dargestellt, wenn der Stallmeister ihn bezichtigt, dem "beste[n] Pferd der Residenz" "durch reinen Uebermuth" eine qualvolle Verwundung zugefügt zu haben. In seinem Zorn über das Verhalten des Grafen urteilt er weiter:

O es ist schändlich; wenn Zwei zusammen einen dummen Streich machen, der bessere von beiden muß immer die Zeche bezahlen.(11)

Das Pferd wird in seiner Wertigkeit höher angesetzt als der Graf. Die Figur des Waldemar als eine, die für die Zukunft und für die die Zukunft selbst noch nicht gänzlich verloren ist, wird weniger als bösartig, sondern eher als ein nichtsnütziger Lebemann dargestellt. Anders verhält es sich mit dem Fürsten Udaschkin, er ist hinterhältig und bösartig. Freytag läßt ihn, als er erfährt, daß Graf Waldemar sein verwundetes Pferd durch einen Schuß von den Qualen befreien will, den Satz sagen: "Also zur Execution und dann zum Frühstück."(12)

Udaschkin wird einerseits als Barbar, als "ruchlos", "lächerlich" und "abgeschmackt" bezeichnet, auch als jemand gezeigt, der 'mit falschen Karten spielt'(13), andererseits aber ist die Gefahr, die von ihm ausgehen kann, sehr gering. Diese Negierung einer potentiellen Gefahr für andere aufgrund von Machtstellung verdeutlicht Freytag in der Figur Udaschkins durch einen Mangel an Bildung und durch fehlende Cleverness. Udaschkin wird der Falschspielerei überführt (14), und Graf Waldemar umgibt sich mit ihm aus einer Laune heraus, sieht in ihm eher ein Objekt der Belustigung. Auf die Frage seines Vetters Hugo, warum er Fürst Udaschkin in seiner Nähe dulden würde, antwortet Waldemar:

Warum nicht? Seine Bestialität ist mir ein ewiger Ableiter schlechter Laune, bei unsern kleinen Soupers ist er das Stichblatt für die besten Scherze.(15)

Wollte man in dem unehrenhaften Verhalten bzw. Charakter beider eine Unterscheidung in mehr oder weniger vornehmen, so käme man in Begründungsnot. Der eine ist verrucht aus Eigennutz, und dem anderen dient dessen "Bestialität" zum spaßigen Zeitvertreib.

Für Freytag, der sich als Liberaler und Bildungsbürger verstand, war Bildung ein zentrales Moment des Fortschritts. So ist es nicht verwunderlich, daß in seiner Zeichnung von Adligen auch ein Verweis auf deren Ungebildetheit nicht fehlt. Alker spricht zum Beispiel vom "verrucht-dämliche[n] Fürst"(16) der 'Verlorenen Handschrift', und Freytag selbst äußert über diesen Roman gegenüber Treitschke:

Der dritte Theil ist nicht ganz so harmlos, als er gern sein möchte. Unsere Fürsten werden sich doch nicht getroffen fühlen, die Mehrzahl ist ganz anders, die kriegen die Cäsarenkrankheit nicht so, daß sie zum Ausbruch käme, es ist zu wenig vorhanden, was verwüstet werden könnte.(17)

Auch im "Waldemar" werden, wie bereits angedeutet, Adlige durch Dummheit gekennzeichnet. Fürst Udaschkin hat sich eine Sphinx bestellt, kann diese Skulptur aber weder richtig benennen, er spricht von ihr als "mein Pinx"(18), noch kennt er ihre mythologische Bedeutung als Todesdämon; er hat sich "das Ding" besorgt, weil es "jetzt in der Mode" (19) ist. Es ist möglich, daß Freytag hier ganz bewußt für den Verweis auf "Ungebildetheit" auf das Symbol der Sphinx zurückgreift. Ist doch die Antwort auf ihr Rätsel - "Was ist am Morgen vierfüßig, zu Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig?" - "der Mensch". Versteht man Menschsein in seiner humanitären Dimension, dann ermangelt es dem Fürsten auch an Humanismus, mangelt es ihm am Menschsein. Sein Bildungsdefizit steht gleichsam für sein humanitäres Defizit.

Bei Freytag ist es der Bürgerliche, der die Werturteile abgibt, ist der Bürger derjenige, der sich durch Ehrgefühl, Mut, Tugend, Moral und Verantwortungsbewußtsein auszeichnet. Die Charakterisierung des Grafen Waldemar durch die Gärtnerstochter Gertrud thematisiert die nicht nur inakzeptablen, sondern auch unduldbaren Wertevorstellungen des Adels, wenn sie über Waldemar urteilt: "Er lacht, wo wir weinen, er verspottet, was uns heilig ist".(20) Denkler spricht in diesem Zusammenhang vom "gelangweilte[n], übersättigte[n], ruchlose[n], zynische[n] Titelheld[en], der mit Wort und Tat gegen alle Moralvorstellungen tugendhafter Normalmenschen verstößt".(21)

Neben dem untätigen Lebenswandel Adliger - so läßt Freytag Waldemar die bezeichnende Frage stellen: "was thun wir, die Zeit zu töten?"(22) - sieht Freytag in dem moralischen Verfall der Aristokratie ein Hauptargument für die Inakzeptanz des Adels in seiner Vormachtstellung.

Besonders deutlich wird dieser sittliche Verfall in der Figur der Fürstin Georgine herausgestellt, eine Schwägerin des Fürsten Udaschkin. Erst durch ihre Heirat ist sie in den Adel 'aufgestiegen'. Georgine, oder mit bürgerlichem Namen Luise Peters, einst ein armes Mädchen aus dem Volk, wurde früh Waise. Ein Musiker holte sie an die Oper, wo Graf Waldemar sie entdeckte und Gefallen an ihr fand. Georgine wurde schwanger und suchte Zuflucht bei der Gärtnerfamilie Hiller. Als sie einen alten Fürsten, den Fürst Udaschkin, kennenlernt, zieht sie als seine Geliebte mit ihm nach Paris, denn, wie sie Gertrud gegenüber bekennt, "was verstand ich von eurer Arbeit". Ihr Kind ließ sie bei Gertrud. Kurz bevor der Fürst stirbt, nachdem sie ihn "fünf Jahre gequält hatte", "zwang" sie ihn zur Heirat. Durch die Eheschließung wurde sie zur "Erlaucht" und durch den Tod des Fürsten "reich".(23) Sieben Jahre nach der Geburt ihres Kindes kehrt sie zurück, um sich, indem sie ihm Liebe vortäuscht, an Graf Waldemar zu rächen:

War es Haß, war es Liebe, ich weiß es nicht, aber mein Wille stand fest, er muß mein werden, er muß sühnen, was er an mir verbrochen hat, er muß, er muß, und sollte ich ihn dabei erwürgen mit meinen Händen.(24)

Graf Waldemar, der Georgine nicht wiedererkennt, - dies auch ein Indiz für seinen ungezügelten und verantwortungslosen Lebenswandel - geht ein Liebesverhältnis mit ihr ein. Aber ihr Racheplan wird durchkreuzt, als Waldemar sich zu Gertrud hingezogen fühlt. Sie versucht Gertrud zum Verlassen des Ortes zu überreden und mit Geld zu bestechen. Als Gertrud das Angebot nicht annimmt, droht sie ihr:

Gehst du nicht, so höre meine Rache. Das Kind ist mein, und kein Gesetz auf Erden kann der Mutter ihr Kind verweigern. Und gehst du nicht, so fordere ich mein Kind von dir; dann gehe ich und nehme mein Kind mit mir. Und dann, Gertrud, schwöre ich dir zu, dann werde ich vergessen, daß das Kind unter meinem Herzen gelegen hat, ich werde nur wissen, daß es sein Sohn, meines Todfeindes Sohn ist, und daß du das Kind vergötterst, du, die mich elend gemacht hat. Dann siehe zu, was ich aus eurem Liebling mache.(25)

Georgine ist bereit, das eigene Kind als Mittel ihrer Rache zu mißbrauchen. Drastischer kann der Vorwurf der Unmoral kaum formuliert werden. Warum Freytag gerade Georgine einen derart verwerflichen Charakter zuschreibt, ist weniger darin zu sehen, daß sie selber keine adlige Herkunft besitzt, als vielmehr darin, daß sie, - wie Mayrhofer zu Recht anmerkt - "eine Bürgerliche, sich diesem Stande dauernd entfremdet hat."(26)

Nach Freytags politischem Verständnis erfordert das Recht auf Machtbefugnis von demjenigen, der diese Machtposition innehat, auch die Pflicht zum vorbildlichen Verhalten. Weil aber die herrschende Aristokratie selbst "marode"(27) ist und amoralisch handelt, kann ihr Verhalten auf die sie Umgebenden auch nur negative Folgen haben. Diese Negativbeeinflussung thematisiert Graf Waldemar in einem Gespräch mit dem Bezirksvorsteher, obwohl er dies, vom Handlungsverlauf her gesehen, eher ironisch verstanden wissen will:

Ich bekenne Ihnen mit Beschämung, bis jetzt noch nicht gewußt zu haben, daß die Bekanntschaft mit meiner unwürdigen Person solch schnelles Verderben der bürgerlichen Ehre herbeiführt [...].(28)

Daß sich hinter dieser ironisch vorgetragenen Auffassung aber eine ernstzunehmende Aussage verbirgt, ist unzweifelhaft, wenn man das Dienstpersonal am Hofe näher betrachtet. Die Dienerschaft hat "in der ungesunden Luft der Aristokratie das sittliche Feingefühl eingebüsst."(29) Der Kammerdiener des Grafen Waldemar, Boz, ist jemand, der seinen Herrn bestiehlt(30) - im Unterschied zum kleinen Gauner Benjamin aus der "Valentine" tut er dies jedoch nicht aus einer Not heraus -, der keine Scheu davor hat, die Briefe anderer zu öffnen - "versiegelte Briefe lese ich nur im äußersten Nothfalle"(31) - und der bestechlich ist.(32) Ähnliches trifft auch auf die Kammerfrau der Fürstin Udaschkin zu. Sie läßt sich von deren Schwager bestechen, der Auskunft über das Tun der Fürstin wünscht.(33)

Der Verruchtheit des Adels stellt Freytag den Bürger gegenüber. Waldemar, der sich bereits auf dem Weg der Läuterung befindet, kommentiert die Hilfsbereitschaft und Aufrichtigkeit Gertruds ihm gegenüber mit den Worten:

Dies Mädchen sticht mich mit ihrer Ehrlichkeit wie mit Nadeln.(34)

Aber Freytag geht noch einen Schritt weiter. Er beschränkt sich nicht darauf, den Seelenadel über den Geburts- oder Geldadel zu stellen, sondern bestimmt den Adel als vom Bürger abhängig. Nur durch Bürgerliche ist eine Rettung für Adlige möglich. In der "Valentine" ist es der aus Amerika heimgekehrte Saalfeld, der die Baronin von Geldern "der bösen Hofluft" entreißt(35), im "Waldemar" ist es Gertrud, durch die der Graf zu einem "neue[n] Leben voll freier, gesunder Thätigkeit" gelangt.(36)

Gertruds Vater, der Gärtner Hiller, bestimmt in einer mehr satirischen Begründung den Adel als vom Bürger abhängig.

[...] denn genau genommen, sind alle die vornehmen und reichen Leute nur unsertwegen da. - Wer würde uns die Kamelien abkaufen, oder unsern feinen Savoyerkohl, oder die Frühschoten, wenn es keine Reichen gäbe? Wir haben den Vortheil davon, ein gesundes kräftiges Leben, sie leiden darunter, denn sie essen sich Leib und Seele krank.(37)

Es würde zu kurz greifen, wollte man in dieser Aussage lediglich eine konservative Beschwichtigung des Volkes sehen, sich mit seiner bescheidenen Rolle zufrieden zu geben und eine Befriedigung durch das Selbstwertgefühl zu erzielen. Die Argumentation ist vielmehr in einem doppelten Sinne zu begreifen. Zum einen beinhaltet sie eine Degradierung des Adels zum - in der Sprache der Wirtschaft gesprochen - Kunden des Bürgers, und thematisiert somit dessen Abhängigkeit vom Bürger. Zum anderen aber ist die Aussage, der Adel sei nur für die Bürger da, als Mahnung an diesen zu verstehen, daß er sich seiner Pflicht und seiner Verantwortung dem Bürger gegenüber bewußt wird. Dieser zweite Gehalt der Aussage läßt an heutige "demokratisch" gewählte Volksvertreter denken, die sich ebenso schnell in ihre Macht verlieben und in relativ kurzer Zeit vergessen, wessen Interessen sie eigentlich zu vertreten haben.

Eine Negierung der Vormachtstellung des Adels zeigt sich ebenfalls im Aufbau des Stückes. Der dritte Akt, und damit "der Mittelakt, in dem die Weichen für den Wandel des Grafen gestellt werden, spielt im Garten der bürgerlichen Familie".(38)

Freytag ist sich in seiner Ablehnung des Adels als politische und richtungsweisende Instanz zeitlebens treu geblieben, und dies, obwohl er in späteren Jahren eine Anzahl Adliger zu seinen Bekannten oder gar Freunden zählte. Er lehnte sie nicht als Menschen ab. Wogegen er votierte, war ihr Anspruch auf politische Vormachtstellung aufgrund ihres Standes. 1866 schrieb er an seinen Freund, den General von Stosch:

Wer mit u[nd] durch Fürsten regieren will, muß entweder sie mit innerer Nichtachtung leiten, indem er ihren Schwächen schmeichelt, oder er muß sie trotz ihrer Schwächen ehren, indem er sie besser macht. Das erstere ist bequemer, zum zweiten muß man ein recht konstantes Bedürfnis haben, brav zu sein.(39)

Programmatisch für sein eigenes Leben und seinen politischen Kurs, der das selbstbestimmende, freie Bürgertum als richtungsweisend verstand und somit Machtansprüche aufgrund von Standesprivilegien zurückwies, können in diesem Sinne auch die Worte Gertruds aus dem Stück "Graf Waldemar" gelten, wenn sie dem Machtansinnen der Fürstin Udaschkin entgegenhält:

Meine Zukunft aber lege ich nicht in deine Hand, frei will ich bleiben von jedem Zwange, und keinem Arm will ich gestatten, mich fortzureißen von dem Wege, den ich mir selbst finde.(40)


Anmerkungen:

(1) Gottschall, Rudolf: Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch und kritisch dargestellt, vierte vermehrte und verbesserte Auflage, vierter Band, Breslau 1875, S. 255.
(2) Fontane, Theodor: Literarische Essays und Studien. Erster Teil. In: ders.: Sämtliche Werke, Band XXI/1, München 1963, S. 214 - 249, hier S. 228.
(3) Freytag, Gustav: Graf Waldemar. In: Gesammelte Werke, 22 Bde., Hirzel 31910, hier Bd. 2, S. 295. Im folgenden zitiere ich Freytag nach dieser Ausgabe (GW).
(4) Sagarra, Eda: Tradition und Revolution. Deutsche Literatur und Gesellschaft 1830 bis 1890, (Aus dem Englischen von Herbert Drube), München 1972, S. 295.
(5) Mayrhofer, Otto: Gustav Freytag und das Junge Deutschland, Marburg 1907, S. 47 (Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von E. Elster).
(6) GW, Bd. 15, S. 324 - 334, hier S. 324.
(7) Ebd., S. 325.
(8) Als Buchausgabe erschien "Die Valentine" 1847 in Leipzig, Verlagsbureau, und erlebte bereits im selben Jahr noch zwei weitere Auflagen. Das Schauspiel "Graf Waldemar" erschien 1849 in der von Freytag zusammen mit Julian Schmidt herausgegebenen politischen und literarischen Zeitschrift "Die Grenzboten". Beide Stücke waren, wie Freytag schreibt, als "Gegenstücke" konzipiert, beiden gelang der Einzug ins Theater und beide blieben - wie Freytag 1886 in seinen 'Erinnerungen' anmerkt - "bis jetzt Repertoirestück". Vgl. Erinnerungen aus meinem Leben. In: GW, Bd. 1, S. 141 und 143.
(9) Mayrhofer, a. a. O., S. 34.
(10) Ebd., S. 40.
(11) Graf Waldemar, GW, Bd. 2, S. 225 f.
(12) Ebd., S. 234.
(13) Ebd., S. 231 u. 296.
(14) Ebd., S. 296.
(15) Ebd., S. 231.
(16) Alker, Ernst: Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert (1832 - 1914), 2. verbesserte und veränderte Auflage, Stuttgart 1962, S. 372 (1. Auflage unter dem Titel: Geschichte der deutschen Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart, 2 Bände, 1949/50).
(17) Dove, Alfred (Hrsg.): Gustav Freytag und Heinrich von Treitschke im Briefwechsel. Mit einem Vorwort von Alfred Dove, Leipzig 1900, S. 35. Brief vom 12. 12. 1864.
(18) Graf Waldemar, GW, Bd. 2, S. 233.
(19) Ebd., S. 234.
(20) Ebd., S. 253.
(21) Denkler, Horst: Restauration und Revolution. Politische Tendenzen im deutschen Drama zwischen Wiener Kongress und Märzrevolution, München 1973, S. 319.
(22) Graf Waldemar, GW, Bd. 2, S. 299.
(23) Ebd., S. 288.
(24) Ebd.
(25) Ebd., S. 290.
(26) Mayrhofer, a. a. O., S. 45.
(27) Vgl. Kafitz, Dieter: Grundzüge einer Geschichte des deutschen Dramas von Lesssing bis zum Naturalismus, Bd. 2, Frankfurt/M. 1982, S. 251.
(28) Graf Waldemar, GW, Bd. 2, S. 276.
(29) Mayrhofer, a. a. O., S. 44.
(30) Graf Waldemar, GW, Bd. 2, S. 240 f.
(31) Ebd., S. 227.
(32) Ebd., S. 271.
(33) Ebd., S. 249 f.
(34) Ebd., S. 271.
(35) Alker, a. a. O., S. 374.
(36) Graf Waldemar, GW, Bd. 2, S. 312.
(37) Ebd., S. 261.
(38) Kafitz, a. a. O., S. 251.
(39) Gustav Freytags Briefe an Albrecht von Stosch, Herausgegeben und erläutert von Hans F. [Ferdinand] Helmolt, Stuttgart und Berlin 1913, S. 7 (Brief vom 17. 1. 1866).
(40) Graf Waldemar, GW, Bd. 2, S. 290.

Zurück nach oben