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  Ein Dank für Charles Dickens.

In der Westminsterabtei ist die Hülle des Dichters beigesetzt, der so reichlich und tief auf seine Zeitgenossen gewirkt hat, wie wenige; und die Totenklage in der Presse Englands rühmt mit Recht, daß der Gestorbene Millionen das Herz gerührt, das Leben schöner gemacht habe. Er war uns Deutschen kaum weniger vertraut als seinen Landsleuten, er war auch uns ein guter Freund, zuweilen ein liebevoller Erzieher.

Ja er hat in mancher Hinsicht uns mehr gegeben als den Engländern. Denn dort ist die Literatur, welche Charaktere und geheimstes Empfinden der Menschen darzustellen weiß, ungleich älter und reicher an volksthümlichen Talenten. Wir entbehren aus den Jahrhunderten von Shakespeare bis Addison nur zu sehr die entsprechenden Dichterkräfte, und selbst die edle Kunst Goethe’s und Schiller’s gab der deutschen Schriftsprache nicht sofort den Reichthum an Farben und dem schildernden Stil nicht die behagliche Fülle, welche für die künstlerische Behandlung des modernen Lebens unentbehrlich sind.

Es war in Deutschland um 1837, wo Boz zuerst unter uns bekannt wurde, eine Zeit frostigen Mißbehagens. Das Volk saß noch in der alten Getheiltheit, in engem Hause, und arbeitete sich langsam zu größeren Wohlstand herauf; es merkte ein wenig die größere Freiheit des Binnenverkehrs, die neue Dampfkraft an Landstraßen und Fabriken, aber es bildete über den Grundlagen seiner Kraft und Größe noch ohne jedes Selbstvertrauen. Die Gefühle des Hauses waren stark, die Charakterbildung durch den Staat sehr schwächlich. Das junge Geschlecht hatte nichts, was ihm Begeisterung und Hingabe leicht machte, und geberdete sich deshalb widerwärtig, krittlich, revolutionär. Die heimische ästhetische Literatur, diese zarteste Blüthe des Volkslebens, siechte an demselben Mangel von Wärme. Das letzte Geschlecht deutscher Lyriker zwischen verblaßter Romantik und unreifen politischen Wünschen fand reizvoll, in sein inniges Lied neue Mißtöne zu mischen; wer von den Jüngern die Zeit schilderte, stand in Abhängigkeit von französischen Wesen, das er ungeschickt nachahmte; statt zu plaudern schrieb er Klatsch und geärgert durch das Hausbackene höherer Weiblichkeit in seiner Heimat quälte er sich, Pariser Cocotten und Gäfinnen mit ganz unbegreiflichen und sehr verzwickten Gefühlen zu erdenken.

Da kamen die Pickwickier in das Land. Man muß jene Zeit in gebildeten bürgerlichen Familien durchlebt haben, um die schöne Wirkung zu begreifen, welche das Buch auf Männer und Frauen ausübte. Die fröhliche Auffassung des Lebens, das unendliche Behagen, der wackere Sinn, welcher hinter der drolligen Art hervorleuchtete, waren dem Deutschen damals so rührend, wie dem Wandrer eine Melodie aus dem Vaterhause, die unerwartet in sein Ohr tönt. Und Alles war modernes Leben, im Grunde alltägliche Wirklichkeit und die eigene Weise zu empfinden, nur verklärt durch das liebevolle Gemüth eines echten Dichters. Hunderttausend gab das Buch frohe Stunden, gehobene Stimmung. Jeder bekannte ältliche Herr mit einem Bäuchlein wurde von den Frauen des Hauses als Herr Pickwick aufgefaßt, sogar dem ausgewetterten Droschkenkutscher kam bei Rückgabe kleiner Münze zu Gute, daß man sich ihn als Vater eines Sam Weller dachte, knorrig doch treuherzig. Ernste Geschäftsmänner, welche sich sonst um Romane wenig kümmerten, vergaßen über der Dichtung die Nachtruhe und fochten mit Feuer für die Schönheiten des Werkes, junge Damen und Herren fanden in der Freude über die Charaktere des Romans einander sehr liebenswerth, und wenn Boz alle Kuppelpelzlein hätte auftragen müssen, die er sich damals in Deutschland verdient, er wäre bis an sein Lebensende einhergewandelt rauh und vermummt wie ein Eskimo.

Diese Wirkung des ersten Werkes, das den Deutschen übertragen wurde, hielt an, und sie wurde fast durch jeden der späteren Romane bis zu «David Copperfield» gesteigert. In jedem fand der Leser einen oder mehre Charaktere, die ihm Menschennatur liebenswerth und ehrwürdig machten, und in jedem einige gewaltige Schilderungen von Schuld und Strafe, von menschlichen Thorheiten und Lastern, von dem innern Verderb, den diese in den Seelen hervorbringen, und von der gerechten Vergeltung, welche durch die Missethat selbst in die Verbrecher geführt wird. Überall kündeten seine Bücher, daß eine ewige Vernunft und Weisheit in den Schicksalen der Menschen sichtbar wird, und daß der Einzelne nicht nur unter den eigenen Fehlern, auch unter der Verbildung seines Volkes krankt. Und das war nicht trockene Lehre, sondern nur stiller Hintergrund einer Erfindung, die an lustigen Situationen, drolligen Käuzen und spannenden Momenten fast überreich ist. Fast aus jedem Roman blieben rührende oder lebensfrische Gestalten fest in der Seele des Lesers, welche ihm unmerklich selbst die innige Auffassung alles Lebenden, das ihn umgab, und die gute Laune im eigenen Kampf mit dem Leben steigerten.

Denn wer da meint, daß die Traumgebilde eines Dichters nur wie flüchtige Schatten durch die Seelen der Leser gleiten, der verkennt die beste Wirkung der Poesie. Wie Alles, was wir erleben, so läßt auch alles Wirksame, das wir gern lasen, seinen Abdruck in unserer Seele zurück. Aus der Sprache des Dichters geht in unsere über, seine Gedanken werden unser Eigenthum, auch der Humor lebt in uns fort, er färbt immer wieder unsere Betrachtung der Menschen und erhöht uns zu heiterer Freiheit, so oft die empfangene Stimmung in uns lebendig wird. Sehr ernst ist unser Leben zwischen deutschen Wintern und Sommern, Vielen wird es ein schwerer Kampf, leicht wird unsere Hingabe in einem engen Kreis von Standesinteressen beschränkt. Da ist uns die Mahnung an eine ewige Vernunft der Dinge, die Vorführung anderer Lebenskreise, vor Allem ein fröhliches Herz, das aus der Überfülle seiner warmen Empfindung Freude mittheilt, fast unentbehrlich. Solche bildende Gewalt über die Zeitgenossen erhält freilich nur der wahre Dichter, der aus dem Vollen gibt und wie mühelos seine Schätze spendet. Und er bildet am kräftigsten an der Jugend und an denen, die verhältnißmäßig wenig lesen.

Daß die kräftige Einwirkung des englischen Dichters uns Deutschen gerade in den Jahren half, wo die eigene schöpferische Kraft schwach, das nationale Leben krank, das Einströmen der französischen Oppositionsliteratur, socialistischer Ideen und frecher Hetärengeschichten übermächtig zu werden drohte, das ist sehr Vielen der jetzt thätigen Generation ein Segen geworden, für den wir dem Toten recht innigen Dank schulden.

Er hat darum auch einen politischen Einfluß geübt, den wir wohl zu würdigen wissen und dem die Engländer Anerkennung zollen mögen. Vornehmlich durch ihn wurde englisches Wesen heimisch und vertraulich in Jahren, wo uns die englischen Politiker keineswegs freundlichen Antheil bewiesen. Freilich leitete nicht er allein diese geheime Mission zu Gunsten einer politischen Annäherung. Viele bedeutende Dichter Englands sind auch die unsern geworden: Shakespeare, Walter Scott, Byron, noch kurz vor ihm und neben ihm war Bulwer in derselben Richtung sehr thätig. Aber seit seinem Auftreten darf doch er den größten Antheil an solchem Liebeswerk beanspruchen. Sein London hat er uns so nahe gelegt, daß wir zuweilen besser darin Bescheid wissen, auch wenn wir nie dort waren, als der Süddeutsche in Berlin, der Rheinländer in Wien. Diese schlauen Taschendiebe und das Stäbchen der hilfreichen Constabler, Verkehr und Schrecken der Themse, die unübertreffliche Schlauheit der Entdeckungsbeamten! Durch ihn kennen wir freilich auch genau gewisse sociale Leiden der Vettern von drüben: die Heuchelei, die Vornehmthuerei, die unbehilfliche Rechtspflege. Aber das Licht ist in den besten seiner Romane so hell und kräftig über die Schatten gesetzt, daß die Summa der Eindrücke, die er uns gibt, doch starke gemüthliche Annäherung an sein Volk und Land hervorbringt. Jedem Engländer, der als Gast in unsere Familien trat, wurde ein Willkommen wie einem guten Bekannten, er war uns ein Neffe des Herrn Pickwick, der liebe arme Pinch, einer von den Gebrüdern Wohlgemuth, oder gar bei struppigem Haar der treue Traddles, und wenn der Deutsche noch heute geneigt ist, jeden vorgestellten Engländer als einen guten und tüchtigen Kerl zu achten, vielleicht steif, aber von sehr tiefem Gemüth, wahrhaft, zuverlässig, treu, so ist diese poetische Auffassung zum großen Theil daher zu erklären, daß der Fremde ein Landsmann von Charles Dickens ist.

Aber solche Anschauungen aus den Büchern eines Dichters gezogen, welchen Anspruch auf Wahrheit und Werth vermögen sie gegenüber realer Wirklichkeit zu ergeben? Wer zweifelnd so frägt, dem sei zur Antwort eine andere Frage gestellt: aus welchem Schrein entnehmen wir denn ein besseres Urtheil über fremde Menschen und Verhältnisse? Ist das Urtheil über neue Bekannte, das wir aus der Form ihrer Nase, dem Ton ihrer Stimme, aus Äußerungen einer Stunde abziehen genauer und zuverlässiger? Ist die Ansicht, die sich der Mann der Geschäfte nach Hörensagen, zum Theil aus schlechtem Geschwätz über Andere bilden muß, in der Rege sicherer? Ja sind selbst sorgfältige Beschreibungen eines Lebens, einer Gegend, die Daguerrotypen der Wirklichkeit, in der Hauptsache belehrender, als die poetische Wahrheit des Dichters, der das Vorrecht seines Handwerks zu gebrauchen versteht: auf wenig Seiten mehr von den innersten Geheimnissen der Menschennatur auszuplaudern, als der Philolog, Historiker und Naturforscher in vielen Bänden darzustellen im Stande sind? Was er uns gibt, das mag in allen Einzelheiten ganz anders erscheinen, als es in Wirklichkeit aussieht. In der Hauptsache hat doch er, und nur er die höchste Wahrheit gefunden, welche dem Menschen darzustellen verstattet ist. Er hat die ungeheure, furchtbare, unverständliche Welt in Menschliche umgedeutet nach den Bedürfnissen eines edlen und sehnsuchtsvollen Gemüthes.

Jetzt sind wir betroffen, weil der Dichter, der so reich und machtvoll über den Geheimnissen des Erdenlebens waltete, selbst das eigene Leben dem alten Zwang des Todes hingeben mußte. Aber der Tod, der ihn entzog, vermochte dennoch nichts von dem Leben zu nehmen, welches Charles Dickens unvergänglich in Millionen fortlebt. Und das ist der erhebende Humor beim Tode dieses guten Dichters.

 

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