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  Der Politische G. Freytag 
Jürgen Matoni in: Gustav Freytag Blätter S. 32 - 43. 

Wenn wir aus heutiger Sicht Freytag betrachten, kommen wir nicht so ohne weiteres auf den Gedanken, ihn als politischen Menschen - oder sogar als Politiker selbst zu sehen. Wenn wir das aber trotzdem tun, werden wir ihn wohl zu den 'konservativen' Menschen zählen und sein Werk von Jean Améry als: "ästhetisch unbedeutend und politisch gefährlich"(1) denunziert sehen. Und wir kommen nicht umhin zugestehen zu müssen, daß unser 'Dichter' kaum mehr gelesen wird, wie es in einer Sendung zum 70. Todestag Freytags im Hessischen Rundfunk gesagt wurde: 

[...] es ist vielleicht ganz gut, wenn man an Gustav Freytags 70. Todestag 1965 feststellen kann, daß man ihn seit zwanzig Jahren nicht mehr liest.(2)

Diese heutige Sicht verstellt uns viele Möglichkeiten, Einblicke in Handlungsweisen - und Ausblicke auf Möglichkeiten zu gewinnen. Ich möchte keine 'Ehrenrettung' versuchen, die ist meines Erachtens nicht nötig, nur eine Darstellung eines im besten Sinne liberalen Menschen, der so immens politisch war, daß er nicht Politiker sein wollte, sondern auf seinem Gebiet - als (politischer) Publizist und Schriftsteller auf Meinung und Haltung einwirken wollte - und dies mit großem Erfolg tat.

 Viele Wissenschaftler, besonders Lit. Wissenschaftler tun sich meist schwer mit Gustav Freytag und seiner Rolle in Literatur und Politik im 19. Jahrhundert. Nicht genug, daß die 'großen' deutschen Realisten (Fontane, Raabe, Stifter, Storm u. a.) im europäischen Konzert der realistischen Literatur nur eine untergeordnete Rolle spielen - sie fallen fast immer gegen z. B. Zola oder Dickens ab, die zur Weltliteratur gezählt werden -; Freytag macht ihnen gerade aus dem Grunde die größten Sorgen, weil er sich nicht mit den Kriterien der 'hohen' Literatur messen läßt und weil gerade er derjenige war (zusammen mit Julian Schmidt), der die Meinungsbildung im 19. Jahrhundert mitbestimmte. Mitbestimmte als Herausgeber der Grenzboten, einer der bedeutendsten Literatur- und Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts und, was noch mehr irritierte und irritiert, daß seine Werke Erfolge hatten, von denen die 'großen' deutschen Realisten nur träumen konnten. Häufig behilft man sich damit, Freytag fast unter Trivialliteratur zu fassen (dann sind hohe Auflagen kein Qualitätsmerkmal mehr).

Ansonsten sieht man seine Werke "als zeitgeschichtliche, nicht als poetische Dokumente"(3) - und streicht Freytag somit aus dem Kanon der Dichter, die überzeitliche Wirkung beanspruchen können. Schlimmer noch, man disqualifiziert Freytags Werk teilweise nicht nur literarisch, sondern auch politisch. Lassen wir noch einmal Jean Améry zu Worte kommen, der sagte: "Ich halte Freytags Buch [er meint damit Soll und Haben JM] für eine literarische Mißgestalt und eine politische Niederträchtigkeit."(4)

Abgesehen von der negativen Einstellung Amérys und anderer, wird jedoch deutlich, daß Freytags Werk nicht nur unter literarischen Gesichtspunkten gesehen wird sondern eben auch unter politischen. Von den heutigen Kritikern jedoch fast ausnahmslos unter negativen Vorzeichen. Das läßt sich mit vielen Vorwürfen Freytag gegenüber erklären.

Da ist zum einen sein vorgeblicher Rassismus, zum anderen sein Nationalismus. Gegen Freytags Rassismus sprechen u. a. die vielen Übersetzungen seiner Werke, die zu seiner Zeit im Ausland genauso positiv aufgenommen und gelesen wurden, wie in Deutschland (Auch in Russland erschien eine Ausgabe von Soll und Haben.)(5)

Gustav Freytag war kein Demokrat in heutigem Sinne. Er faßte Politik als Pädagogik und Pädagogik als umfassende Einwirkung auf Menschen auf, die geleitet und gebildet werden müssen. Seine Stoßrichtung war für das Bürgertum und gegen den Adel: 

Wer mit u[nd] durch Fürsten regieren will, muß entweder sie mit innerer Nichtachtung leiten, indem er ihren Schwächen schmeichelt, oder er muß sie trotz ihrer Schwächen ehren, indem er sie besser macht. Das erstere ist bequemer, zum zweiten muß man ein recht konstantes Bedürfnis haben, brav zu sein.(6)

Er glaubte, daß das Bildungsbürgertum berufen sei, die Führung im Staate zu erlangen und auszuüben. Die 'kleinen' Leute sah er nicht als urteilsfähig und gebildet genug an, um an Wahlen und allgemein an verantwortlicher Stelle im Staate mitzusprechen. Als er sich zur Wahl für den Reichstag(7) aufstellen ließ, schrieb er in diesem Sinne an seinen Freund den Herzog von Coburg: 

[...] dies allgemeine Wahlrecht [ist] das leichtsinnigste aller Experimente, welche Graf Bismarck jemals gewagt hat. Niemand weiß, ob er gewählt wird. Und das wird in den nächsten Jahren noch schlimmer. Denn die Wahl liegt in den Städten in der Hand der Arbeiter, auf dem Lande in der der kleinen Leute, Tagelöhner und Knechte.(8)

Um gewählt zu werden, mußte Freytag erst einen Wahlkampf bestehen. Und etwas widerwillig stellte er sich in seinem Wahlkreis Erfurt dem gemeinen Volk, seinen Wählern, die er auch einmal als 'gute Kerlchen' apostrophierte und wurde dann mit großer Mehrheit gewählt.(9) Über diesen Wahlkampf schreibt er an den Herzog von Coburg: 

Von allen Seiten kommen die Forderungen meiner Herren Wähler, daß ich zu ihnen komme und ihnen eine Abendunterhaltung schaffe, und die Korrespondenz mit einflußreichen Rechtsanwälten und Gastwirten wird riesenhaft. Ach dies allgemeine Wahlrecht ruiniert den Charakter, fünfzig Jahre habe ich mich um Popularität nicht gekümmert, und jetzt sende ich einen Blumenstrauß an eine Wöchnerin, von der ich nicht weiß, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen taufen läßt, und schüttle hundert guten Freunden die Hand, deren Namen ich nicht weiß und niemals wissen werde. Pfui, Bismarck, das war kein Meisterstreich!(10)

Sein öffentlicher Auftritt als Politiker war nur von kurzer Dauer. Am 21. März 1867 versuchte er in der Debatte um die Bundesgestzgebung für das Miltär- und Marinewesen eine Rede zu halten.(11) Doch da er in diesem Zusammenhang über eine Petition Leipziger Studenten reden wollte - was nicht auf der Tagesordnung stand - wurde ihm das Wort entzogen.(12) Was im Bewußtsein der Zeitgenossen über diese Zeit im Reichstag überblieb, war eine Karikatur, die ihn zusammen mit seinem Sitznachbarn dem "König der Millionäre"(13) Bankier Rothschild zeigte mit der Unterschrift: "Soll und Haben". So war ihm denn auch die praktische Politik, "Die großen Geschäfte", wie er es nannte, verleidet und er schreibt an einen Freund: "Ich freue mich, daß ich von hier fortkomme." Und am 25.07. 1867 an den General von Stosch: 

[...] Jetzt muß ich wieder einmal meine Flederwische umbinden und in mein luftiges Reich fliegen, wo ich König bin, Bismarck und Opposition, alles zugleich [...](15)

Dies war nur sein kleines Intermezzo in der großen Politik. Vorher war Freytag bis zu seiner Zeit als Privatdozent an der Universtät in Breslau kaum als politischer Mensch in Erscheinung getreten, nur mit Literatur und etwas Lyrik, die er später dann doch nicht mehr so gern sah - und z. B. mit seiner Eitelkeit, bei Vorlesungen mit weißen Handschuhen(16) aufzutreten. Erst der Ekklat um Hoffmann von Fallersleben läßt Freytag halb - öffentlich Stellung beziehen. Als Fallersleben wegen seiner 'Unpolitischen Lieder', die alles andere als unpolitisch waren, aus dem Universitätsdienst entlassen wurde, sprach gerade Freytag in einer Vorlesung über diese Lieder. Hoffmann von Fallersleben schreibt dazu: 

Nur ein Privatdocent wagte sich schriftlich gegen mich auszusprechen: Dr. Freytag. Er war verhindert selbst zu kommen, weil ihn eben damals seine Vorlesungen zu sehr in Anspruch nahmen. Er las auf der Börse vor einem sogenannten gebildeten Publicum über neuere Litteratur. Als ich an die Reihe kam, wollte er sich keine polizeiliche Unannehmlichkeiten zuziehen und fragte vorher den Polizeipräsidenten Heinke, ob er denn auch wol über die U. L. reden dürfe? 'O ja, meinte der Herr Präsident, wenn Sie sie weiter nicht loben wollen!' - Freytag schrieb mir: '.... Gott tröste Sie und Ihre Kraft. Sie haben Ihrer Gesinnung Ihr äußeres Sein geopfert, Sie werden darin am Ende, wenn die ersten heftigen Eindrücke der Kränkung und des Unmuthes vorüber sind, einen Trost finden. Freilich würde der schneller und vollständiger sich einfinden, wenn Sie kein Dichter wären, denn die weiche, nervöse und reizbare Empfänglichkeit für Eindrücke, welche Ihnen eigen ist, so wenig das die Welt glauben mag, wird Ihnen fürchte ich den Kampf erschweren. Doch Muth und Fassung, mein lieber Freund. Wenn Ihnen die herzlichste Theilnahme eines Mannes, der Ihnen bei allem Entgegengesetzten in seiner Natur warm und herzlich ergeben ist, auch nur auf einen Augenblick tröstend ist, werde ich glücklich sein.'(17)

Wie später seine Karriere als Politiker, war auch seine Universitätslaufbahn nur von kurzer Dauer. Als er eine Vorlesung über Kulturgeschichte halten wollte - also zu dieser Zeit in fremden Gefilden wildern wollte -, verbot man ihm dies und er schrieb rückblickend: 

Ich habe keinen Grund, zu bedauern, daß allmählich die Freude, selbst Dichterisches zu bilden, stärker ward, als der Drang, über dem zu verweilen, was andere in alter und neuerer Zeit geschaffen haben, und ich darf mit Fug behaupten, daß ich nicht in jugendlicher Selbstüberschätzung dem erwählten Gelehrtenberuf entsagte; denn ich war 28 Jahre alt, als ich mich entschloß, meine Vorlesungen einzustellen. Die Weigerung der Fakultät, mir eine beabsichtigte Vorlesung über deutsche Kulturgeschichte zu gestatten, gab die Veranlassung.(18)

Man muß dabei berücksichtigen, daß die Universitäten immens politisch waren. Es war noch nicht so lange her, daß der erste Lehrstuhl nur für Deutsch 1810 an der Universität Berlin eingerichtet wurde.(19) Die Brüder Grimm gehörten zu den Professoren die in Göttingen mit anderen als die "Göttinger Sieben" von der Universtät verwiesen wurden, da sie sich gegen ihren Landesherren stellten und sich 1837 nicht mit der Abschaffung der Hannoverschen Verfassung einverstanden erklärten.

Wie Lachmann und Fallersleben forschten die Grimms über deutsche Sprache und Kultur und definierten den Nationalstaat als Vereinigung der Menschen gleicher Sprache und Kultur(20) - nicht getragen von Fürsten und der Kirche, die ihn als ihren Besitz betrachteten -, was sie natürlich in Gegensatz zu Staat und Kirche brachte.

Er gab also seine Universätslaufbahn auf und wurde erfolgreicher freier Schriftsteller und mit seiner Zeitschrift den Grenzboten erfolgreicher Journalist. Zu dieser Zeit war es nicht einfach eine Zeitung oder Zeitschrift zu machen. Mit einem Beine war man, wenn man es ernst meinte, immer im Gefängnis, denn die Zensurbehörden verfolgeten jeden gnadenlos, der sich nicht an die Vorgaben hielt, der nicht 'regimetreu' war. Das war Freytag natürlich in keinster Weise. Seine Zeitschrift, eine Kulturzeitschrift mit starkem politischen Anspruch, profilierte sich als absoluter Gegner der rigiden Politik Preußens und späterhin auch auch der Politik Bismarcks. Und das rief natürlich einen Herrn namens Hinkeldey auf den Plan. Dieser war der Chef der politischen Polizei Berlins.

Um der Zensur und den Verboten der Berichtstattung aus dem preußischen Landtag zu entgehen gründeten seine liberalen Freunde in ihrem literarisch - politischen Verein und mit Hilfe des Herzogs von Coburg eine autographierte Correspondenz. Diese sollte, wie ihr Vorbild der 'lithographischen Correspondenz' aus London, von der fast alle größeren deutschen Zeitungen ihre Nachrichten über England empfingen, das gleiche für Deutschland leisten. Natürlich wußte jeder, daß diese Nachrichten auf Widerstand der Behörden stoßen würde. Deshalb erschien sie nicht offiziell, sondern anonym. Freytag schreibt an seine Freund den Herzog: 

Endlich ist die vielbesprochene 'Autographirte Correspondenz für deutsche Zeitungen' durchgesetzt worden. Dieselbe erscheint hier in Leipzig, unter einem Strohmann als Redacteur und Verleger, wird einmal wöchentlich gratis versendet in ca. 50 Exemplaren für Zeitungen [...].(21)

Dieses Unternehmen war bei der sächsischen Regierung angemeldet - und diese hatte nichts dagegen, denn es ging nur um preußische Belange. Doch da Freytag preußischer Untertan war, war es für ihn doch gefährlich. In Berlin sah man die Korrespondeenz überhaupt nicht gerne und Berichterstattung aus dem Landtag war verboten. Seiler, ein Biograph Freytags, schreibt dazu: 

Ein Anlaß gegen ihn einzuschreiten, bot sich bald. Die Korrespondenz brachte eines schönen Tages die kurze Mitteilung, daß der preußische Mobilmachungsplan an Rußland verraten sei, und verurteilte diese Schändlichkeit mit einigen scharfen Worten. Die Thatsache des Verrats ließ sich nicht leugnen, aber die Veröffentlichung erregte den grimmigsten Zorn.(22)

Die Emittlungen der politischen Polizei unter Hinkeldey ergaben, daß nur Freytag wußte, wer den Artikel geschrieben hatte. Doch Freytag weigerte sich, diesen zu verraten. Eher nebenbei - Freytag hatte noch nicht das Gefühl, daß ihm Gefahr drohe - schreibt er am 4. Juni 1954 an Salomon Hirzel:

Von Politik weiß ich nichts. Halt! Doch etwas. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat jetzt beantragt, mich in Gotha zu vernehmen. Es ist, wie ich muthmaße, Hr. von Westphalen, dem sein Portrait, das die AC. so oft entworfen, keine Ruhe läßt. Ich werde hier Meibom in den Termin senden.(25)

Da Freytag sich weigerte, seine Korrespondenten zu verraten, und die 'Autographierte Korrespndenz' weiterhin Unliebsames veröffentlichte, wurde durch Hinkeldey ein geheimer Haftbefehl gegen Freytag erlassen, der so geheim nicht gewesen sein konnte, denn Freytag zitiert aus ihm:

Es sind bereits einige Aufsätze einer in Leipzig erschienenen autographirten Correspondenz durch verschiedene Königliche Gerichte und namentlich durch von dem Stadtgericht zu Berlin ergangene Erkenntnisse vernichtet worden. Der Dr. G. Freytag, der sich dem Vernehmen nach in Gotha aufhält, war der Verfasser einiger derselben. Da es sehr wünschenswerth ist, denselben zur Bestrafung zu ziehen, so werden sämmtliche Polizei-Verwaltungen aufgefordert, den Dr. G. F., sobald derselbe sich im Preuß. Staate betreffen läßt, sofort zu verhaften.(26)

Das war eine ziemlich unangenehme Sache, denn Freytag konnte sich nicht mehr auf preußischen Boden wagen, ohne Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden. Er, der sich selbst einmal als "kleiner Reaktionär"(27) bezeichnete, wurde von den richtigen Reaktionären ernsthaft verfolgt. Nicht einmal von Siebleben - wo er im Sommer wohnte - nach Leipzig traute er sich, da er nicht wußte ob er nicht vom König von Sachsen in Leipzig an die Preußen ausgeliefert wurde. Er fühlte sich "bereits sehr unheimlich"(28), da alle Versuche das Problem zu lösen oder irgendetwas Definitives zu erfahren gescheitert waren. Auch eine persönliche Bitte an Hinkeldey auf Niederschlagung des 'schwebenden Verfahrens' war ablehnend beantwortet worden. Das einzige, was ein ungenannter Freund ihm sagen konnte, war, wie Freytag an Hirzel schreibt: 

[...] ich möge durchaus nicht nach Leipzig gehn, solange ich nicht unbedingte Sicherheit habe auf Requisition von Berlin aus nicht ausgeliefert zu werden, denn sobald ich in Leipzig angekommen sei, werde ich unfehlbar requirirt werden. Nun würde zwar die Staatsanwaltschaft mich, sobald sie von meinem Eintreffen in Berlin Kenntniß erhielte, sofort wieder von der Polizei requiriren, aber ob die Polizei mich herausgebe, sei sehr die Frage. Im Fall der Herausgabe werde ich nach 24 St. frei sein, aber ob mich die Polizei nicht wieder festhielte, sei ebenfalls unsicher.(29)

Er, der sich ganz als Preuße fühlte, wurde von Preußen verfolgt. Das für seine journalistische, politische Arbeit im Dienste der Pressefreiheit, die er mit Bürgerfreiheit gleichsetzte. Von dem Preußen, das er verabscheute, nicht von dem Preußen, das er sich vorstellte, das die Führung in Deutschland übernehmen sollte, das für Freytag die Kulturnation war. Was blieb ihm über?

Er mußte Gothaischer Staatsbürger werden, um vor der Verfolgung Preußens sicher zu sein, seine preußische Staatsangehörigkeit, auf die er so stolz war, ablegen. Schlimmer noch, er mußte seinen Freund, den Herzog von Sachsen Coburg Gotha Ernst II. bitten, ihn in seine Dienste zu nehmen, um das zu erreichen. Er, der so stolz auf seine bürgerliche Unabhängigkeit war, der sich bis an sein Lebensende weigerte, geadelt zu werden in die Dienste eines Adeligen, eines Herzogs treten. Er schreibt an Hirzel: 

Ich habe dem Herzog vorgeschlagen mich entweder bei seinen Cigarren anzustellen, oder zum Büchsenspanner zu machen. Was er zu Stande bringen wird, weiß ich nicht, u. bin auf Alles gefaßt, da ich in der That keine Wahl habe. [...] Da es möglich ist, daß Sie in diesen Tagen durch die Zeitungen erfahren, daß ich in irgend einer Qualität Höfling geworden bin, so bitte ich Sie, mein treuer Freund, mir bei Lectüre dieser Notiz alle die Gefühle zu gönnen, welche bei solcher Veranlassung einem Mitmenschen nicht versagt werden dürfen.(30)

Freytag mußte nicht Büchsenspanner zu werden. Herzog Ernst machte ihn zu seinem Vorleser und damit zum Hofrat und Gothaischen Staatsbürger, was ihn vor der Verfolgung der preußischen Behörden befreite. Seine weitere Laufbahn ist ohne solche Probleme geblieben. Er wurde Reichstagsabsgeordneter, arbeitete weiterhin an der Demokratiesierung Preußens, blieb ein Gegner Bismarcks, obwohl er dessen politische und militärische Erfolge anerkannte, sie aber immer kritisch begleitete, bekam viele Orden und Ehrungen, hat sich aber nie - auch nicht durch solche Ehrungen - von seiner bürgerlich - liberalen Anschauung abbringen lassen. Seine Bücher 'Soll und Haben', 'Die verlorene Handschrift' und auch sein Lustspiel 'Die Journalisten' stehen im Dienste dieser Überzeugung. Seine Arbeit im und für den literarisch - politischen Verein, seine Geschichtsschreibung - seine "Bilder aus der Deutschen Vergangenheit" und sein "Ahnen" - alle stehen im Dienste des Zieles der Bewußtmachung der Wertigkeit des Bürgers gegen die Überheblichkeit des Adels. Bei Freytag gibt es nicht den Helden, keine Einzel-Helden-Verehrung, sondern eine Gesellschaftsanalyse der wirtschaftstragenden Schichten und eine Darstellung des moralischen Handelns. 

Auch in seinem persönlichen Verhalten hat Freytag hohe moralische Ansprüche an sich selbst gestellt. Wie es ihm eine Qual war, ein Amt bei seinem Freund Ernst II. - wenn auch ohne Bezahlung - anzunehmen, so war er auch in Geldangelegenheiten äußerst zurückhaltend. Als Mitglied der Schillerpreiskommission zur Auswahl des besten zeitgenössischen dramatischen Werkes des preuß. Kultusministerums stand ihm für seine Aufwendungen eine Entschädigung zu. Da jedoch der preußische Staatshaushalt im Parlament umstritten war, lehnte Freytag die Annahme der Gratifikation mit folgenden Worten ab: 

Ew. Excellenz haben mir als einem Mitgliede der Commission zur Ertheilung des dramatischen Schillerpreises die Summe von Hundert Thalern geneigtest zu bestimmen geruht, und die Kassenverwaltung eines Hohen Staatsministeriums hat mich wiederholt zur Erhebung des Betrages aufgefordert.

Um diese Angelegenheit für die Kasse zu erledigen, gebe ich mir die Ehre Ew. Excellenz hierdurch ganz gehorsamst anzuzeigen, daß ich außer Stande bin diesen Betrag oder irgend eine Gratification anzunehmen, so lange die Königliche Staatsregierung nicht in der Lage ist, ihre Ausgaben auf Grund eines von der Volksvertretung bewilligten Etats zu machen. Denn es ist sehr zweifelhaft ob diese Gratification unter die durch sich selbst legalisirten Ausgaben gehört, welche, wie die Gehalte der Beamten, ein Contractverhältniß der Einzelnen mit dem Staate zur Voraussetzung haben.

Daher bitte ich Ew. Excellenz sich in hoher Geneigtheit gefallen zu lassen, daß ich mir selbst die peinliche Empfindung fern halte, welche mir eine Annahme der Summe bereiten würde, u. daß ich, soweit an mir ist, Ew. Excellenz Kassenverwaltung vor einer Auszahlung bewahre, deren Gesetzlichkeit nach meiner Ueberzeugung ernsten Bedenken unterliegt.

In geziemender Verehrung
Ew. Excellenz
gehorsamster
Dr. G. Freytag(31)

Freytag war kein Politiker wie wir ihn heute als Berufspolitiker kennen. Aber er war ein durch und durch politischer Mensch. Politik war kein 'Job' für ihn, sondern eine Aufgabe. Ziel war es, die Menschen sich ihrer Wertigkeit bewußt werden zu lassen, aber sie auch auf diese Werte zu verpflichten. Das heißt in den Handlungen nicht nur das Tun zu sehen, sondern auch die Gründe zu hinterfragen und auf ihre Wertigkeit zu prüfen. In diesem Sinne könnten wir uns heute immer noch freuen, wenn wir mehr von diesen - politischen - Menschen hätten.


Anmerkungen:

(1) J. Améry: Schlecht klingt das Lied vom braven Mann. In: Neue Rundschau,  Jg. 89, 1987,        S. 84 - 93, hier S. 86.
(2) Klaus Schröter: Mehr Soll als Haben. Ein Saldo zu Gustav Freytags 70. Geburtstag. Manuskript des Hessischen Rundfunks, 26. 4.1965, S. 21.
(3) Richter, Claus: Leiden an der Gesellschaft. Vom literarischen Liberalismus zum poetischen Realismus. Königstein/Taunus, 1978 S. 255.
(4) Améry, a. a. O., S. 86.
(5) In den Heften der Zeitschrift "Otetschestwennyja Sapiski (1857), Vgl. Alberti, Conrad: Gustav Freytag, Sein Leben und Schaffen, Mit einem Bilde des Dichters. Leipzig 1885, S. 152.
(6) Gustav Freytags Briefe an Albrecht v. Stosch, S. 7 (Brief v. 17. 1. 1866).
(7) Wahlen zum konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes am 12.02.1867.
(8) Tempeltey, Eduard (Hrsg.): Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893. Leipzig 1904. Brief an Herzog Ernst vom 21. Januar 1867.
(9) Freytag 8.265 Stimmen, Graf Keller 4.782, von Schweizer rund 500; Abgegebene Stimmen: 13.600. Vgl. Gresky, Wolfgang: Gustav Freytag als reichstagsabgeordneter. In. Gustv Freytag Blätter, Nr. 28, S. 8 - 15.
(10) Tempeltey, a. a. O., Brief an Herzog Ernst vom 30. Januar 1867.
(11) 17. Sitzung Des Norddeutschen Reichstags am 31. März 1867. (Das Freytag betreffende Stenogramm in Gresky, a. a. o., S. 12 - 14. Datum bei Seiler, S. 159: 21. März 1867, Donnerstag; der 31. März ist ein Sonntag)
(12) Vgl. z. B. Seiler, Friedrich: Gustav Freytag, Leipzig 1898, S. 159.
(13) Glagau, Otto: Reichstagsbilder aus der Vogelschau. In: Daheim, 3. Jg. (1867), S. 380.
(14) Hoffmann, Johannes (Hrsg.): Gustav Freytag als Politiker, Journalist und Mensch. Mit unveröffentlichten Briefen von Freytag und Max Jordan. Leipzig 1922. Brief an Jordan 16. April 1867.
(15) Gustav Freytags Briefe an Albrecht v. Stosch. Herausgegeben und erläutert von Hans F[erdinand] Helmolt, Stuttgart und Berlin 1913, S. 21 f.
(16) Freytag "[...] betrat nicht selten mit hellen Handschuhen das Katheder, was ihm von seiten der älteren Kollegen Kränkungen genug zuzog." Alberti, a. a. O., S. 35.
(17)
Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben, I. - IV. In: Hoffmann's von Fallersleben Gesammelte Werke, hrsg. v. Heinrich Gerstenberg, Berlin 1892, Bd. 7, S. 330.
(18) Freytag, Gustav: Erinnerungen aus meinem leben. Leipzig 1887, Hirzel (Separatausgabe),       S. 189 f
(19) Erste, ausschließlich der deutschen Sprache gewidmete Fachprofessur, erster Professor: Friedrich Heinrich von der Hagen
(20) "Was haben wir denn Gemeinsames alss unsere Sprache und Literatur? [...] Wenn nach dem Gewitter von 1848 Rückschläge lang und schwerfällig die Luft durchziehen, können Sprache und Geschichte am herrlichsten ihre unerschöpfliche Macht der Beruhigung gewähren." (J. Grimm, Vorrede zu: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, 1854).
(21) Tempeltey, a. a. O., Freytag an Herzog Ernst, Brief vom 18. Januar 1854.
(22) Seiler, a. a. O., S. 99.
(23) Ende 1853 war mit Hilfe der 'Autographirten Correspondenz' eine Mittheilung in der Presse erschienen, in der berichtet wurde, daß der preußische Mobilmachungsplan dem Kaiser von Rußland verrathen worden sei. Die preußische Polizei versuchte von Freytag den Namen desjenigen zu erhalten, der die Mittheilung gemacht hatte. Freytag weigerte sich, den Namen zu nennen. In seinen 'Erinnerungen' beschreibt er die Situation folgendermaßen: "Solch thörichter Zumuthung gegenüber war dasjenige Verhalten geboten, welches man das aufschiebende nennt, zumal man annehmen konnte, daß zu Berlin mit der Zeit ruhigere Betrachtung eintreten würde." Freytag, Gustav: Erinnerungen aus meinem Leben, a. a. O., S. 258 - 259. Dies war jedoch nicht der Fall. Im Frühjahr/Sommer 1854 wurde von Berlin aus bei dem Gothaer Gericht ein Verfahren gegen Freytag eingeleitet, von welchem er aber annahm, daß auch dieses keinen Erfolg haben würde. Deshalb hier auch die eher nebensächliche Erwähnung der Angelegenheit Hirzel gegenüber.
(24) Westphalen, Ferdinand Otto Wilhelm von (*23. April 1799 - +2. Juli 1876), preußischer Minister des Inneren von 1850 - 1858.
(25) Galler, Margret/Matoni, Jürgen (Hrsg.): Gustav Freytags Briefe an die Verlegerfamilie Hirzel, Teil 1, 1853 - 1864, Berlin 1994, Brief Nr. 8 an Hirzel vom 4. Juni 1854, S. 42.
(26) Tempeltey, a. a. O., Brief Freytags an Herzog Ernst vom 6. August 1854, S. 29.
(27) Gustav Freytags Briefe an Albrecht v. Stosch, S. 7, Brief v. 17. Januar 1866.
(28) Galler/Matoni, a. a. O., S. 55, Brief an Hirzel vom 20. Nov. 1854.
(29) Ebd.
(30) Ebd., S. 52, Brief an Hirzel vom 18 September 1854. Freytag, der zeit seines Lebens Adel und Hofämtern eher kritisch gegenüber gestanden hat, schreibt in diesem Zusammenhang noch in seinen 'Erinnerungen': "Der Fall wurde dem Herzog von Gotha vorgetragen, und dieser half gütig aus der Verlegenheit, indem er mich zu seinem Vorleser ernannte. Seitdem war ich Hofrath, nicht parceque, sondern quoigue." Freytag, Gustav: Erinnerungen aus meinem leben, a. a. O., S. 260.
(31) Galler/Matoni, a. a. O., S. 289 f. Beilage zum Brief vom 10. Juli 1864.

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