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  Bürger und Industrie im Werk Gustav Freytags.
(Jürgen Matoni)

Die zwei hier in Rede stehenden Bücher haben eigentlich kaum etwas mit Industrie und Industrialisierung zu tun; doch sie haben beide etwas mit Entwicklung zu tun, mit der Entwicklung die es ermöglichte, daß Industrialisierung entstand und, daß sie so entstand, daß sie nicht überall und in jeder Spielart in Industrialisierung im negativen Sinne ausartete.

In diesen beiden Büchern - 'Marcus König'(1) und 'Soll und Haben'(2) - wird die Entwicklung der bürgerlichen Schicht in Deutschland dargestellt. Der bürgerlichen Schicht, die die Industrialisierung ermöglichte und letztlich auch trug. Beide Bücher handeln von dieser Entwicklung.

Das eine 'Marcus König' zur Zeit der Reformation, das andere 'Soll und Haben' um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. 'Marcus König' ist aus Gustav Freytags Zyklus 'Die Ahnen', der davon handelt, wie sich ein Geschlecht durch die Jahrhunderte entwickelte, bis es in der bürgerlichen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts mündet. 'Soll und Haben' zeigt die Entwicklung eines jungen Menschen bis zum erfolgreichen Kaufmann auf.

Da 'Die Ahnen' um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts enden, kann man, wenn man den pädagogischen Aspekt und die geistigen Entwicklungslinien berücksichtigt (und das möchte ich hier tun), 'Soll und Haben' als zeitlich logische Entwicklung sehen, obwohl 'Soll und Haben' früher entstand als 'Marcus König'.

Gustav Freytag war ein Vertreter des deutschen Bildungsbürgertums.(3) Dieses Bildungsbürgertum ist die einzige Formation des Bürgertums, die sich leicht von anderen Gruppierungen abgrenzen läßt. Während bei den Begriffen 'Bürgertum', 'Klein- und Großbürgertum' die versuchten Abgrenzungen und Definitionen oft schwankend und diffus - oder auch gegensätzlich sind -, wird das Bildungsbürgertum durchgängig im wesentlichen gleich bestimmt und abgegrenzt. Unterschiede ergeben sich in der Forschung in bezug auf die 'Höhe' der erforderlichen Bildung und den Finanz- und anderen Mitteln, die zum Bildungsbürgertum gehörten. (So sind z. B. die notwendigen Finanzmittel abhängig vom Wohnort, da in einer Kleinstadt - im Gegensatz zu einer Großstadt wie Berlin - nicht soviel Kapital notwendig war, um 'dazuzugehören'.)

Zu diesem Bildungsbürgertum des neunzehnten Jahrhunderts gehörten die Schichten mit höherer Bildung und der Möglichkeit, einen entsprechenden - bürgerlichen Lebensstandard zu halten. Aus diesem Grund findet man unter ihnen natürlich Professoren aber auch höhere Staatsbeamte, Kaufleute, Verleger, Zeitungs- und Zeitschriftenherausgeber, Bankleute usw.(4)

Für dieses Bildungsbürgertum war das Einkommen eigentlich ein sekundäres Merkmal - jedenfalls in der Innenansicht: Geld hat man, man spricht nicht darüber.

Diese Bildungsbürger brauchten sich nicht gegen das Proletariat abgrenzen, denn dieses trat bis weit in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nicht in ihr Blickfeld. (Wenn dies doch geschah, dann z. B. in Form von Hilfestellung bei Arbeiterbildungsvereinen, die oftmals von Bürgerlichen initiiert wurden, wie eben auch Gustav Freytag selbst, um das Bildungsniveau zu heben.) Sie hatten auch keine Probleme mit dem Kleinbürgertum. Dieses gehörte bei entsprechender Bildung und frei verfügbarer Zeit dazu - dann waren auch diese Bildungsbürger(5); und mit dem Industriebürgertum schon allein deshalb nicht, da dieses in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kaum als (zahlenmäßig) relevante Gruppe ins Gewicht fiel, abgesehen von den Magnaten von Ruhr, Saar und Schlesien, von denen gerade die Schlesiens um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ihre Aktivitäten ausweiteten z. B. in die Kohleförderung oder, wie ein Teil des schlesischen Landadels, in die Lebensmittelindustrie. Dies war aber in Deutschland eine Ausnahme, und diese Großgrundbesitzer wurden als "industrialisierter Großadel"(6) beschrieben und traten so eben nicht ins allgemeine Blickfeld der bürgerlichen Schichten, sondern waren eigentlich wie der Adel selbst als abzulehnende Schicht einzustufen, besonders da sie, wenn sie nicht adelig waren, es meist anstrebten und dann auch oft wurden.

So ist die Frontstellung gegen den Adel die eigentlich einzig bewußte des Bildungsbürgertums, dessen Entwicklung von Freytag auch mit dieser Frontstellung dargestellt wird.

Er sieht diese Entwicklung schon zur Zeit der Reformation und schildert sie in 'Marcus König', wo ein verarmter Landadeliger auf die Bürgersöhne herabsieht, da deren Adel, wenn es ihn denn gegeben haben sollte "durch Tinte befleckt und durch die Gewandschere zerschnitten sei."(7) Dagegen argumentiert der Lehrer der Bürgersöhne, Magister Fabricius, daß der deutsche Ritter im Gegensatz zu den römischen ungeschickt und barbarisch sei, denn "die römischen Ritter vergeudeten nicht, sondern sammelten Geld und hielten auch für ehrenvoll, durch Kaufmannschaft vorwärts zu kommen."(8) Geld hatten sie, die geschilderten Bürger von Thorn, Handel trieben sie auch, sie besaßen Grundbesitz wie Marcus König und die Bildung brachte den Söhnen der erwähnte Magister Fabricius.

Man kann sich natürlich fragen, wieso gerade dieses Bildungsbürgertum für die Entwicklung im neunzehnten Jahrhundert so wichtig war, wenn doch dagegen gerade die Industrialisierung als das wichtige Merkmal des neunzehnten Jahrhunderts angesehen wird - und das fast ohne Gegenstimme in der Wissenschaft.

Jedoch benötigt Industrialisierung auch Voraussetzungen, z. B. Erfindungen wie die Dampfmaschine oder der automatische Webstuhl, aber auch eine Bevölkerung, die lesen, schreiben und rechnen kann, allein schon um Bedienungsanleitungen der immer komplizierteren Maschinen lesen und verstehen zu können oder auch um Lagerhaltung zu betreiben. Diese Reihe ließe sich fortsetzen.

Besonders wichtig aber war für diese Entwicklung eine Arbeitshaltung, die darauf ausgerichtet war, mehr zu produzieren als für den direkten privaten Gebrauch und Verbrauch notwendig war. Die Vermittler und nicht selten auch die Anreger für Produktion und Qualitätskontrolle waren auch die Händler und Verleger (9). Z. B. das Handelshaus T. O. Schröter, wie es in Freytags Roman 'Soll und Haben' dargestellt wird und dessen Grobstruktur Freytag von seinem Freund Molinari übernommen hatte, der ein solches Handelshaus in Breslau führte, ist eines dieser Handelshäuser. Ein Prinzipal, eben T. O. Schröter, Büro- und Hausangestellte, Arbeiter und Buchhalter.

Warum gerade ein Handelshaus und warum gerade in Breslau? Warum Breslau ist leicht gesagt. Freytag war Schlesier (genauer Oberschlesier aus Kreuzburg) und das Handelshaus seines Freundes Molinari befand sich in Breslau. Hinzukommt, wie wir noch sehen werden, der Bezug zu Polen, der für Freytag wichtig wird.

Warum gerade ein Handelshaus ist nicht so leicht zu beantworten. Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit, ist das Motto, das Freytag seinem Roman voranstellte. Doch das wurde und wird angezweifelt, denn, erstens wird nicht 'das Volk' dargestellt, sondern nur ein kleine Gruppe und zweitens bezweifelten viele, daß in dem Roman wirklich gearbeitet wird:

" 'Soll und Haben' will das deutsche Volk bei seiner 'Arbeit' aufsuchen. Wir sehen uns um, was und woran in diesem Roman das deutsche Volk arbeitet"(10), schreibt schon 1855 Karl Gutzkow in einer Rezension zu 'Soll und Haben' und findet nicht viel, was seinem Verständnis von Arbeit entspricht:

Wir hören bei all' dieser "Arbeit" allerdings fortwährend Fässer karren, wir sehen auch Waarenballen mit dem Pinsel signiren, wir leben die mit sehr unerquicklicher Breite geschilderten philisterhaften Zustände einiger fünf bis sechs uns sehr gleichgültigen und formlos durcheinanderschwimmenden Contoristen mit; allein mit einer auf jeder Seite bestätigten Befugniß kann man dennoch fragen: Wo ist hier die Arbeit? Individuelle, der Poesie und nicht der Statistik angehörende Arbeit?(11)

Über industrielle Arbeit konnte Freytag aus zwei Gründen nicht so ohne weiteres schreiben. Erstens hatte er als Philologe und ehemaliger Privatdozent der Universität Breslau von diesem Bereich wohl nicht viel Kenntnis - im Gegensatz zu den Kenntnissen in bezug auf Handelshäuser durch seinen Freund Molinari. Zweitens war die industrielle Arbeit zur Zeit der Entstehung des Buches noch nicht so weit ins gesellschaftliche Bewußtsein gerückt, als daß sie vom Bildungsbürgertum als tragende Kraft der Gesellschaft gesehen wurde. Wenn wir aber den Ergebnissen der Forschung glauben dürfen, haben wir sehr wahrscheinlich den Grund, den Freytag persönlich hatte, gerade ein Handelshaus für seinen Roman zu verwenden, nämlich die ethisch-moralische Komponente. Denn gerade:

Im kleinen "Gründerboom" der 1850iger Jahre entfaltete sich, so Zunkel, "im Effektenwesen in Rheinland-Westfalen ein ausgeprägtes Gründer- und Spekulantentum. Dabei traten wirtschaftliches Bedürfnis und Rentabilität der neu ins Leben gerufenen Unternehmungen vielfach hinter den Interessen des persönlichen Profits zurück. Viele schreckten selbst vor Täuschungsmanövern, Börsenschacher und Aktienschwindel nicht zurück. Der nachfolgende Wirtschaftskrach enthüllte eine Mehrzahl unsolider und häufig auch betrügerischer Gründungen, an denen sich selbst angesehene Bankiers und Fabrikbesitzer beteiligt hatten."(12)

Richard Tilly fügt hinzu, daß "dieses Phänomen (...) keineswegs auf Rheinland-Westfalen beschränkt"(13) war. Wenn Freytag einen pädagogischen Effekt mit seinem Roman erzielen wollte - und davon gehe ich aus, dann mußte er eine seiner Meinung nach beispielhaft integere Personengruppe vorstellen, die anerkannt war und gesellschaftlich eine wichtige Funktion innehatte, für Freytag eben die deutschen Kaufleute. (Mit seinem Roman 'Die verlorene Handschrift' hat er dies explizit für die Bildungsbürger in der Gestalt Professor Werners getan.)

Ein Reflex auf die Krise neugegründeter Unternehmen war die preußische Konkursordnung von 1855. Diese Unternehmen gerieten häufig aus zwei Ursachen in Konkurs. Erstens aus mangelnden kaufmännischen Fähigkeiten sowie fehlerhafter oder ganz fehlender Buchführung.(14) Und zweitens durch die geringe oder fehlende Moral in den Finanzkreisen, wie sie Gustav von Mevissen rückblickend darstellt:

Meiner Erfahrung nach ist nirgends die Moral so lax, das Gewissen so weit in Europa, als in der Haute-Finance. Diese laxe Moral wird wesentlich dadurch unterstützt, daß die bedenklichen, oft bis an den verschleierten Betrug oder an Untreue mindestens streifenden 'geschickten Manipulationen' sehr verdeckt und den außerhalb des engen Kreises der Fachmänner stehenden Kreisen kaum oder gar nicht verständlich sind.(15)

Einen durch diese Gründe verursachten Konkursfall zeigt Freytag in SuH auf:

Ein armer Teufel von Rittergutsbesitzer hatte schlecht gewirthschaftet und war so lange betrogen worden, bis er sein Gut auf dem traurigen Wege der notwendigen Subhastation verloren hatte.(16)

Dann beschreibt Freytag in kurzen Worten wie dieser Rittergutsbesitzer versuchte, aus seiner verzweifelten Lage herauszukommen, es aber letztendlich nicht schafft, weil auf der Gegenseite Veitel Itzig steht, der alle gesetzlichen und andere Schliche kennt und diesen Rittergutsbesitzer um einen Großteil seines Erbes bringt und das auch, wie Freytag bemerkt, da Veitel Itzig 'das Gesetz energisch half'(17).

Dies ist nur eine kleine Episode in 'Soll und Haben'. Das eigentliche 'Opfer' ist Baron Rothsattel, ein Landedelmann, der auf eine lange Ahnenreihe zurückblicken kann, bis auf die Zeit der Kreuzzüge.(18) Doch inzwischen waren die Güter der Rothsattels durch Mißwirtschaft zusammengeschrumpft, so daß unser Rothsattel nur noch "das eine stattliche Gut" erbte, das sein Vater "aus den Trümmern des Familienvermögens rettete."(19)

Die Einkünfte aus diesem Gut reichten gerade aus, den Unterhalt für sich und seine Familie zu finanzieren. Um Rücklagen zu bilden, reichten sie nicht aus.

Er hatte oft versucht, von seinen Erträgen zurückzulegen, indeß die Gegenwart war dazu wirklich nicht geeignet; überall fing man an mit einer gewissen Reichlichkeit zu leben, mehr auf elegante Einrichtung und den zahllosen kleinen Schmuck des Daseins zu halten.(20)

Seine Ausgaben überstiegen bald seine Einnahmen. (Z. B. um seinem Sohn das standesgemäße Leben eines Offiziers ermöglichen zu können.) Doch da er "das Musterbild eines adligen Rittergutsbesitzers"(21) war, machte er - noch, muß man hinzufügen - "keine Geldgeschäfte"(22). Diese Darstellung entspricht den Befunden der Wissenschaft, wie sie Werner Mosse darlegt:

Die relative Landarmut des zahlreichen preußischen Landadels (des landständisch niederen Adels) bewirkte, daß (...) nur wenige Mitglieder über ein gesichertes wirtschaftliches Fundament verfügten.(23)

Jedoch mußte dies nicht so bleiben, denn auch Rothsattel wußte, daß es

(...) gerade die Zeit [war], wo eine Menge von industriellen Unternehmungen aus dem Ackerboden aufschossen, wo durch hohe Schornsteine der Dampfmaschinen, durch neuentdeckte Kohlen- und Erzlager, durch neue landwirtschaftliche Kulturen große Summen erworben und noch größere Reichtümer gehofft wurden.(24)

Wieder stimmt auch diese Darstellung mit den Ergebnissen der Forschung überein. Wolfgang Jacobeit stellt dazu fest: "Die Junker mit adligem Großgrundbesitz verwandelten sich in kapitalistisch wirtschaftende Unternehmer."(25) Aber die Unwissenheit Rothsattels in finanziellen Dingen, abgesehen von den hart an der Illegalität streifenden Aktivitäten seines Geldgebers Ehrenthal, auf die sich der Baron immer leichter einläßt, je tiefer er sich in sie verstrickt, führt zu seinem Bankrott und bis hin zu einem mißglückten Selbstmordversuch.

Bei beiden, dem oben erwähnten unglücklichen Rittergutsbesitzer und bei Baron Rothsattel, trugen Finanziers und Rechtskundige keinen geringen Anteil an deren Untergang. Über die 'laxe Moral' der Finanzwelt haben wir schon oben gehört. Auch die Rechtsanwälte hatten ihren Teil an der Entwicklung im neunzehnten Jahrhundert und genossen eine gründliche Ausbildung. "Neun Jahre Gymnasium, drei Jahre Rechtsstudium sowie eine vier-bis sechsjährige Referendariatszeit" galten Gneist 1867 zufolge nur "als Vorbedingung der Rechtsanwaltschaft"(26). Dieser Ausbildungsgang sollte Gewähr leisten, daß der Rechtsanwalt sich neben seinen Kenntnissen durch "Feingefühl, Delikatesse und Takt"(27) auszeichnen sollte. Mit den Worten Gneists:

(...) eine Veredelung des Geistes und Charakters durch die reichen Mittel einer humanistischen Bildung, ein freies Erziehungswerk mit so viel Elementen der Selbstdisciplin und Censur, (...) daß auf diesem langen Wege das Unwürdige ausgeschieden, das relativ Bessere und Beste erhalten wird, soweit dies durch menschliche Einrichtungen möglich.(28)

Hohe Anforderungen also an Moral und Ethik dieser Rechtsanwälte, die in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nicht so viele Arbeits- und Wirkungsmöglichkeiten hatten, wie es heute der Fall ist. Den ersten "Nachfrageschub" brachte den Advokaten die Entfeudalisierung, den zweiten und uns hier interessierenden

(...) der Aufschwung von Gewerbe und Handel, der Ausbau des Verkehrs- und Transportwesens sowie die Expansion von Versicherungen und Banken. (...) Allgemein läßt sich feststellen, daß die Advokaten über wirtschaftsnahe Tätigkeiten zuerst in die Funktions- und Beziehungsfelder jenes Bürgertums eintraten, das mit Geld, Immobilien oder Transport zu tun hatte.(29)

Wenn wir uns den Rechtsanwalt in 'Soll und Haben' ansehen, finden wir diese Angaben bestätigt. Hippus war Rechtsanwalt in der Hauptstadt, sein guter Ruf brachte ihm die guten Kunden. Er hatte "bei dem Geschäfte treibenden Publicum (...) einen bestimmten Ruf". Er galt bei ihnen "für sehr gewandt und zuvorkommend im Verkehr mit den Parteien und für den entschiedensten und kühnsten Mann, um ein mißliches Recht in ein Gutes zu verwandeln." Aber durch einen ausschweifenden Lebensstil - "Mit Hülfe des Rothweins erlangte er die Fertigkeit viel Geld auszugeben und gerieth in die Lage viel einnehmen zu müssen.(30)" Durch diese 'Fertigkeiten', die wohl kaum zum Kanon der bürgerlichen Wertvorstellungen gehörten, geriet Hippus auf die schiefe Bahn und vertrat nun Klienten, die er vormals nie betreut hätte, denn "es liefen ihm Alle zu, welche eine schlechte Sache zu vertheidigen hatten.(31)" Zuerst wehrt er sich noch gegen diesen Abstieg, aber zuletzt "fehlte ihm ein klein wenig Kraft", "immer kleiner" wurde "sein Gewissen", bis er irgendwann "dem Gesetze ein Blöße" gab. Hippus genügte nicht den hohen Moralvorstellungen, dem Ehrenkodex der bürgerlichen Gesellschaft und seines eigenen Berufsstandes. "Er wurde verurtheilt, mit Schimpf cassiert und verschwand als ein gefallener Stern aus dem Kreise seiner Amtsgenossen"(32), um dann als Leitstern und Lehrer Veitel Itzigs wieder aufzutauchen.

Mit Veitel Itzig sind wir bei den Juden in 'Soll und Haben' angelangt. Über diese Juden ist viel geschrieben worden - zumeist negatives, und eine antijüdische oder antisemitische Tendenz wurde oft ausgemacht, aber das zu unrecht.

Für uns ist die Position und Entwicklung des Judentums in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wichtig. In dieser Zeit sehen wir ein Judentum in Deutschland, das sich sehr stark an das bürgerliche Ideal angepaßt hat und bestrebt ist, sich zu integrieren und zu 'Akkulturisieren'(33). Eines wird in den Untersuchungen zu Juden und Judentum in Deutschland besonders deutlich. Das Judentum selbst war bestrebt sich anzupassen; es wurde nicht so sehr dazu gedrängt, was auch geschah. Es gab z. B. viele jüdische Zeitungen, die sich mit dieser Integration befaßten und diese publizistisch forcierte und unterstützte. Dazu gehörten u. a. "Sulamith" (1806 - 1833) und die "Allgemeine Zeitung des Judentums" (Leipzig 1837 - 1922). Diese und die jüdischen Publizisten und Schriftsteller stellten aus ihrer Sicht die Entwicklung und Assimilation der Juden in Deutschland dar und stellten überwiegend fest, daß der bürgerliche (deutsche) Lebensstil die Art und Weise war zu leben:

"Die Juden haben sich nicht etwa an 'das' deutsche Volk assimiliert, sondern an eine bestimmte Schicht desselben, an den neu entstandenen Mittelstand", schrieb Jacob Katz, einer der bahnbrechenden jüdischen Sozialhistoriker[...](34)

Diese Publizisten zeigten ebenfalls auf, daß die jüdische Religion gerade die Werte favorisierte, die zur Bürgerlichkeit gehörten:

Welche Rolle Mäßigung, Bescheidenheit, Sparsamkeit, Reinlichkeit und Fleiß tatsächlich für den jüdischen Lebensstil spielten, ist schwer einzuschätzen. Als Teil des religiösen Regelkanons beanspruchten sie aber zumindest partielle Geltung, so daß spätere bürgerliche Standards, die solche Regeln in mannigfaltiger Weise aufnahmen, relativ leicht und zwanglos akzeptiert und internalisiert werden konnten.(35)

Daß sie mit diesem Versuch der Assimilation auf Schwierigkeiten stießen, ist u. a. auf das Selbstverständnis des christlichen Bürgers zurückzuführen, der z. B. auch Frauen und Arbeiter nicht gerne in Vereinen bürgerlicher Provenienz sah. (Von einigen Autoren zusammen mit Juden als 'Minderheiten' apostrophiert) Gegen diese Schwierigkeiten stellte sich aber eine ganz andere für die Juden viel problematischer zu bewältigende heraus. Die Abgrenzung zu den 'Ostjuden', den Juden aus Rußland oder Polen z. B.:

Das große Problem der deutschen und der westeuropäischen Juden bestand seit dieser Zeit darin, sich von den osteuropäischen Juden zu unterscheiden und zu distanzieren, um ihre eigene Aufnahme in die bürgerliche Gesellschaft zu rechtfertigen.(36)

Unter diese 'Ostjuden' fällt bei Freytag Schmeie Tinkeles(37), für den schon fast assimilierten Juden steht Hirsch Ehrenthal, der alles versucht, sich der bürgerlichen deutschen Welt anzugleichen und für seinen Sohn Bernhard das letzte Glied zu schließen versucht - die Bildung.

Wir können wieder feststellen, daß die Darstellung in 'Soll und Haben' den Ergebnissen der Wissenschaft entspricht. Sogar die 'falsche' Sprache der Juden in 'Soll und Haben', Freytag immer wieder vorgeworfen, es quasi denunzierend zu verwenden, wurde gerade vom städtischen jüdischen Bildungsbürgertum an den neueinwandernden Juden aus Galizien, Schlesien und Rußland bemängelt und war für sie eine "Quelle der Verlegenheit".(38)

Diese Assimilationsprobleme allein würden noch nicht den Unterschied in der Handlungsweise z. B. zwischen Schröter, dem deutschen Kaufmann und Ehrenthal dem schon fast assimilierten jüdischen Kaufmann erklären. Entwicklung, Industrialisierung setzt moralische Normen voraus und "bürgerliche Rechtsnormen" mußten sich mit der Industrialisierung herausbilden, da Handel und Industrialisierung nicht zuletzt auf Vertrauen basiert.(39)

Für das Europa des 19. Jahrhunderts spricht Alexander Gerschenkron von einem Ost-West-Gefälle, wonach die wirtschaftliche Rückständigkeit Osteuropas in Verbindung mit "abysmally low standards of business honesty" stand.(40)

Dieses Ost-West-Gefälle, diesen absolut niederen Standard an 'Geschäftsredlichkeit' stellt Freytag dar. Hirsch Ehrenthal tut alles für seine Familie und für das Geschäft. Ihm fehlen aber noch die moralischen Wertvorstellungen des 'idealen' deutschen Bürgertums, die sein Sohn Bernhard bei ihm einklagt, ohne Erfolg, da er zu früh stirbt. Veitel Itzig, der Jude aus Ostrau, wird verdorben durch einen deutschen heruntergekommenen Advokaten, und Schmeie Tinkeles, der noch 'echte' Ostjude ist für Freytag die Brücke zu Polen, in das Freytag seine Helden Wohlfart und Schröter schickt, um erst Schröters Handelswaren zu retten und dann noch einmal Anton Wohlfart, um dem ruinierten Baron Rothsattel ein polnisches Gut zu erhalten. Auf diesem Gut treffen sich Fritz von Fink und Anton wieder. Fink, der adelige, Sohn eines Handelshauses aus Hamburg und Erbe seines reichen Onkels in Amerika, lernt im Hause Schröters das Geschäft und nebenbei die Werte und Moralvorstellungen des Bürgertums. In Amerika kämpft er um sein Erbe gegen Grundstücksspekulanten, kehrt angewidert von den Geschäftspraktiken der neuen Welt zurück und kämpft nun mit Anton gegen polnische Aufständische. Freytags negative Darstellung der Polen wurde ihm natürlich auch vorgeworfen, und sehr freundlich ist er mit ihnen nicht gerade umgegangen.

Schon in 'Marcus König' ist ein wichtiger Teil die Auseinandersetzung des deutschen Ritterordens mit Polen.

In 'Soll und Haben' macht Freytag deutlich, warum er so stark gegen Polen eingestellt ist. "Sie [die Polen JM] haben keinen Bürgerstand", läßt er Anton Wohlfart sagen und den Kaufmann fortfahren: "Das heißt, sie haben keine Cultur."(41)

Wie wir gesehen haben, ist Kultur für Freytag immer bürgerliche Kultur; und so ist auch dieser Angriff nicht so sehr abwertend gemeint, sondern eher als Selbstversicherung der eigenen Werte, denn in diesem Zusammenhang läßt er Schröter erklären, warum für ihn (und mit ihm für Freytag) die Zivilisation, die Kultur bürgerlich ist:

"(...) die Urzeit sah die Einzelnen frei und in der Hauptsache gleich, dann kam die halbe Barbarei der privilegierten Freien und der leibeigenen Arbeiter, erst seit unsere Städte groß wuchsen, sind civilisirte Staaten in der Welt, erst seit der Zeit ist das Geheimniß offenbar geworden, daß die freie Arbeit allein das Leben der Völker groß und sicher und dauerhaft macht."(42)

Polen, als das noch nicht vollständig verbürgerlichte - für Freytag gleichbedeutend mit unzivilisiert - Land, dessen Entwicklung von den Städten und für ihn von den deutschen Einwanderern ausgeht.

Eine solche Stadt ist Thorn, mit deutschen Bürgern, aber auf polnischem Gebiet, strittig zwischen dem deutschen Ritterorden und dem polnischen König. Die meisten Bürger neigen zum polnischen König, von dem sie Ruhe und Ordnung erwarten. Nur Marcus König schlägt sich auf die Seite der Ordensritter, finanziert sogar den Krieg gegen den polnischen König, da er es schmachvoll findet, "einem fremden Volke dienstbar" zu sein(43). Doch muß er mitansehen, wie der Hochmeister ein weltlicher Fürst und als Herzog Vasall des polnischen Königs wird. Daß damit der Streit nicht beendet war, wissen wir und wußte auch Freytag. So läßt er Martin Luther sagen:

"(...) und wie ein Wirt Weizen und Hafer, so säet er Deutsche und Polen nacheinander auf denselben Grund, gerade die Frucht, welche er für die himmlische Wirthschaft bedarf."(44)

Wir haben gesehen, daß die Wirklichkeitsnähe, der Realismus Freytags weitreichender ist, als von vielen dargestellt. Dieser Realismus, der bis in die Einzelheiten hinein Strukturen und Figuren seiner Romane bestimmt, ist - wie nicht anders möglich - zeitgebunden. Seine utopische Komponente, einerseits die rückwärts gewendete Utopie seiner 'Ahnen' und die idealisierende Utopie von 'Soll und Haben' andererseits, diente zur Stärkung des deutschen Bürgertums. Ethik, Arbeitsmoral, Rechtschaffenheit und Bescheidenheit standen für Freytag an erster Stelle. Mit dem Verschwinden des Gegensatzes Adel - Bürgertum und dem Verflachen der bürgerlichen Ideale in dieser Form geriet auch sein Werk mehr und mehr in Vergessenheit, bis auf die Vorwürfe gegen ihn, die durch das fehlende Verständnis seines Wollens entstanden sind. Sein Kaufmann Schröter sollte der 'steifleinene Herr' sein, den man ihm vorwirft, die fehlende Entwicklung Anton Wohlfarts liegt darin begründet, daß Anton kein Suchender ist, sondern ein Bürgersohn, der den Weg zu seiner Bestimmung geht. Er ist immer positiv und deshalb für viele langweilig, weil er die Ideale verkörpert, die oft als 'philisterhaft' verschrien sind, was Freytag auch eingesteht, aber eben nicht negativ sieht. Seine Idealbürger sind dazu da, den Staat aufzubauen und zu konsolidieren. Sein Nationalismus, zur Zeit des Nationalsozialismus ausgebeutet und oft noch heute unter diesem falschen Blickwinkel gesehen, galt einer zu schaffenden Nation, die er mit Recht sehr gefährdet sah, doch er hat immer an die moralische Kraft Deutschlands geglaubt - und an die Arbeit. Mit den Worten seines Kaufherren Schröter:

Jede Thätigkeit, welche neue Werthe schafft, ist zuletzt Thätigkeit des Fabrikanten; sie gilt überall in der Welt für die aristokratische. Wir Kaufleute sind dazu da, diese Werthe populär zu machen.(45)


Anmerkungen:

(1) Gustav Freytag: Die Ahnen, Bd. IV, Marcus König. In: Gustav Freytag, Gesammelte Werke, Bd. 11, Leipzig 31910. Im folgenden zitiert als MK.
(2) Gustav Freytag: Soll und Haben, Roman in sechs Büchern. In: Gustav Freytag, Gesammelte Werke, Bd. 4/5, Leipzig
31910. Im folgenden zitiert als SuH.
(3) Alle Verweise auf Bürgertum und Industrialisierung sind, wenn nicht anders vermerkt, aus: Kocka, Jürgen (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 2, München 1988. Die Artikel werden im folgenden mit Kocka und dem Autor des entsprechenden Artikels zitiert.
(4) Das Großindustriebürgertum wird von der Wissenschaft als eigene Gruppe angesehen und behandelt.
(5) In diesem Zusammenhang ist ganz interessant, daß ein Abgrenzungsmerkmal oft in den Darstellungen des Bürgertums auftaucht, das aber nicht zur Definition verwendet wird. Das Halten, besser die Beschäftigung von Dienstboten. (vgl. z. B. Kocka, Mario König, S. 248). Diese Beschäftigung ließ sich natürlich nur durchhalten bei entsprechenden finanziellen Mitteln, aber sie markiert doch eigentlich die Differenz zwischen Besitzbürgertum und Kleinbürgertum und, was für unseren Zusammenhang wichtiger ist, kommt bei Freytag kaum oder nur beiläufig vor, war also wohl im Bewußtsein des Bürgertums entweder unwichtig oder selbstverständlich.
(6) Kocka, Werner Mosse, S. 286.
(7) MK, S. 80.
(8) MK, S. S.81.
(9) Vgl. z. B. Kocka, Heinz-Gerhard Haupt, S. 254 f.
(10) Gutzkow, Karl: Ein neuer Roman. Unterhaltungen am häuslichen Herd, Nr. 35, Bd. 3, Leipzig 1855, S. 559.
(11) a. a. O., S. 559. Hans Mayer ist in seinem Nachwort zur Neuausgabe von 'Soll und Haben' erstaunlich undifferenziert der gleichen Meinung: "Die Arbeit des deutschen Volkes war also Arbeit im Kontor. Handarbeit war nichts als Handlangerei für das einzig arbeitsame Leben des deutschen Bürgers". Gustav Freytag. Soll und Haben, München 1978, Nachwort von H. Mayer, S. 840.
(12) Kocka, Richard Tilly, S. 50.
(13) Kocka, Richard Tilly, S. 50.
(14) Kocka, Richard Tilly, S. 53.
(15) Zitiert nach Kocka, Richard Tilly, S. 51.
(16) SuH, S. 317.
(17) Vgl. SuH, S. 317 ff.
(18) SuH, S. 24.
(19) SuH, S. 25.
(20) SuH, S. 27.
(21) SuH, S. 26.
(22) SuH, S. 33.
(23) Kocka, Werner Mosse, S. 288.
(24) SuH, S. 33 f.
(25) Kocka, Wolfgang Jacobeit, S. 320.
(26) Zitiert nach Kocka, Hannes Siegrist, S. 95.
(27) Kocka, Hannes Siegrist, S. 121.
(28) Zitiert nach Kocka, Hannes Siegrist, S. 95.
(29) Kocka, Hannes Siegrist, S. 106.
(30) SuH, S. 130.
(31) SuH, S. 131.
(32) SuH, S. 131.
(33) Vgl. hierzu Kocka, Shulamit Volkov, S. 347.
(34) Kocka, Moshe Zimmermann, S. 372.
(35) Kocka, Shulamit Volkov, S. 362.
(36) Kocka, Moshe Zimmermann, S. 378.
(37) Dieses Ostjudentum wurde als "mittelalterlich, unecht, ergo nichtbürgerlich in idealtypischem Sinne dargestellt.", Kocka, Moshe Zimmermann, S. 381. Vgl. dazu die Beschreibung Tinkeles durch Freytag mit den Locken des orthodoxen Juden, dem mittelalterlichen Kaftan (SuH, S. 440) und dem grammatikalisch 'abscheulichen' falschen Deutsch. (SuH, S. 60 ff)
(38) Kocka, Shulamit Volkov, S. 354.
(39) Vgl. hierzu Kocka, Richard Tilly, S. 39 f.
(40) Kocka, Richard Tilly, S. 38.
(41) SuH, S. 383.
(42) SuH, S. 383.
(43) MK, S. 110.
(44) MK, S. S.338 f.
(45) SuH, S. 357.

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