"Ingo
und Ingraban", der erste Band der 'Ahnen'. (Jürgen Matoni 1995) Gustav Freytag starb vor einhundert Jahren am 30. April 1895. Für das neunzehnte Jahrhundert war er ein gefeierter Autor, Journalist und Publizist. Für das Nachkriegsdeutschland ein überholter Autor, ein Nationalist und Antisemit - fast ganz vergessen, nur noch in Kontroversen lebendig, die sich z. B. über die Verfilmung seines Romans "Soll und Haben" 1977 entwickelt hatte. Regie sollte Rainer Werner Fassbinder führen. Die hitzige Debatte, die sich um diese Verfilmung entspann, führte zur Aufgabe des Projektes durch den WDR. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb zu diesem Projekt:
Zu seinem hundertsten Todesjahr sind viele seiner Werke neu aufgelegt worden. "Soll und Haben" gleich in zwei Ausgaben; einmal in der Reihe "Die deutschen Klassiker"(2), dann noch als Reprint im Klotz-Verlag, bei dem auch die "Bilder aus der deutschen Vergangenheit" ebenfalls als Reprint und leider nur in Auswahl erschienen sind. Leider, muß man sagen, denn diese Drucke sind nicht sehr zuverlässig und die Wiederabdrucke richten sich nach Ausgaben, bei denen man nicht verstehen kann, warum gerade diese als Grundlage gedient haben, wie z. B. der Nachdruck der 'Verlorenen Handschrift' - ebenfalls im Klotz-Verlag - nach der Ausgabe von 1925. Der Zeitpunkt des Erscheinens und einige Preise der Bücher ("Die verlorene Handschrift" bei Klotz 120 DM) lassen darauf schließen, daß wohl mehr Interesse an lukrativen Schmuckauflagen bestanden hat als an korrekter Wiedergabe der Texte. Diese Bedenken können leider auch teilweise für die Herausgabe des ersten Bandes Der 'Ahnen'(3) des Donhof Verlages gelten, der mit 18 DM nicht zu teuer wäre, wenn er zuverlässig wäre, was er leider nicht ist. Doch das Interesse an Freytag ist meist eher eine Vereinnahmung oder Ablehnung als eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Texten. Vereinnahmt wurde er häufig als Oberschlesier, obgleich u. a. auch Otto Warnatsch zugeben muß, daß Freytags engere Beziehung zu Oberschlesien sich "mit dem Besuch der Universität Breslau" immer mehr löste, aber Warnatsch fügt fast beschwörend hinzu: "[...] aber seine oberschlesische Heimat hat Freytag nicht vergessen."(4) Freytag, der nur einen kurzen Teil seiner Jugend in Oberschlesien verbrachte, der in Breslau und Berlin studierte, in Leipzig und Siebleben wohnte und in Wiesbaden starb, hat - für ihn als Patriot natürlich - seine Heimat nicht vergessen. Aber seine Heimat war Deutschland, für dessen Vereinigung er immer gekämpft hat. Von seiner Einstellung her war Freytag Preuße in positivem, geistigem Sinne. Das blieb er sein Leben lang. Auch als er ab 1848 abwechselnd in Leipzig und in Siebleben bei Gotha lebte, bis er dann 1876 nach Wiesbaden zog. Als er gothaischer Staatsbürger werden mußte, um einem preußischen Haftbefehl zu entgehen, hat ihn das tief getroffen:
Abgesehen von dieser Einstellung (eigentlich seiner Lebenshaltung von Pflichterfüllung und hohem moralischem Anspruch) gab es für ihn keine Unterschiede in der Bewertung der Menschen in bezug auf ihr Herkommen. Er hat zwar Eigenheiten gesehen, sie aber immer freundlich und humorvoll geschildert:
Zwar hat Freytag den Ort Siebleben und dessen Umgebung geliebt, und seinen Freund Salomon Hirzel mit der folgenden Darstellung zu sich nach Siebleben eingeladen:
Er hat aber seine Herkunft nie verleugnet und immer darauf bestanden, daß seine direkten Vorfahren aus Schlesien stammten:
Diese seine Herkunft aus Schlesien hat ihn nicht zu einem 'Heimatdichter' gemacht, nicht zu einem Schriftsteller, der von einer Landschaft abhängig war. Trotzdem - oder gerade aus diesem Grunde - hat er die Handlungen seiner Romane immer in bestimmten Landschaften spielen lassen, aber nicht immer so, daß man nur auf die Landkarte blicken muß, um zu wissen, wo der eine oder andere Schauplatz zu finden ist. So gibt es z. B. immer noch die Kontroverse, welches Ostrau "unweit der Oder" er gemeint hat, in dem Anton Wohlfart, der Held aus "Soll und Haben", geboren wurde. Freytags Roman "Ingo und Ingraban" wurde im November 1872 ausgegeben. Über diesen Roman schreibt er in einem Brief an Baudissins vom 15. Dezember 1872:
Eine genaue Darstellung der Orte der Handlung - aber es wäre jetzt einfach zu sagen, daß sich der Dichter diese Orte vorgestellt habe, seine Erzählung aber nichts mit diesen Orten zu tun hätte. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß Freytag realistischer Schriftsteller war, daß er zum 'Bürgerlichen Realismus' gezählt wird, daß also seine Texte so nah wie möglich an die Wirklichkeit angelehnt sind. Theodor Fontane hatte schon in seiner Rezension zu "Soll und Haben" diese Genauigkeit gerühmt:
Fontane hat zwar in späteren Jahren, wohl aus persönlichen (in seiner eigenen künstlerischen Entwicklung liegenden) Gründen seine Meinung über Freytag geändert, aber an Freytags Präzision läßt auch er in seiner Rezension von 1874 zu den ersten Bänden der 'Ahnen' keinen Zweifel:
Das neunzehnte Jahrhundert könnte auch das Jahrhundert des Historismus genannt werden. Ranke mit seiner "Weltgeschichte" (Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott) und Mommsen mit seiner "Römischen Geschichte" prägten mit ihrer Geschichtsauffassung die Meinung des Bürgertums. Und auch Freytag schrieb mit seinen "Bildern aus der deutschen Vergangenheit" Geschichtsbücher. Victor von Scheffel mit "Ekkehard" und Felix Dahn mit "Ein Kampf um Rom" um nur zwei zu nennen, popularisierten Geschichtsdarstellungen und Freytag wird mit seinen 'Ahnen' oft in diesem Zusammenhang gesehen. Wenn die 'Ahnen' auch in ihrer literarischen Qualität kaum akzeptiert werden, wird Freytag im "frühen Kanon des historischen Romans" eine "Spitzenstellung" eingeräumt.(12) Dieser 'Kanon' entstand in der Nachfolge von Walter Scott, die Aust so definiert:
Dieser 'erste Typus' wie Aust ihn nennt, hat Julian Schmidt zufolge (ein Freund Freytags, der von Aust zum Beleg zitiert wird) eine 'doppelte Aufgabe':
Freytag und Schmidt werden
gemeinhin als die Repräsentanten des 'programmatischen
Realismus' bezeichnet, der sich unter anderem dadurch
auszeichnete, daß der pädagogische Aspekt der Literatur
stark betont wurde, was oft bei der ästhetischen Wertung
der Werke Freytags 'vergessen' und als Argument gegen ihn
gewendet wurde. Sein Stil wurde als professoral
gekennzeichnet und, wie Fontane es ausdrückte als
'ledern' empfunden.
Daß gerade die historischen Romane (wie geschichtliche Werke überhaupt) in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts so großen Anklang fanden, läßt sich u. a. aus dem Wunsche heraus erklären, sich nach der staatlichen Einigung 1871 einer eigenen Geschichte zu vergewissern, da die Deutschen ein 'lebhaftes Nationalbewußtsein' hatten, aber kaum eine 'historische Tradition'.(16) Warum aber schreibt Freytag dann einen historischen Roman, der in einer Provinz Deutschlands spielt und nicht ein 'Gesamtdeutsches' Werk? Freytag selbst gibt eine einfache Erklärung:
Das kleine Gebiet und der Reichthum des Details beschreiben das Vorgehen Freytags sehr deutlich. Und Schmidt hebt die Berechtigung der 'Provinzialisierung' noch hervor die, für ihn die Möglichkeit der vielfältigen 'Farbgebung' und "festere Zeichnung"(18), also eine Verdeutlichung der Strukturen. Das Eine, wie das Andere sind für Fontane trotz aller Bewunderung eher ein Ärgernis:
Freytags historische Genauigkeit, seine Fähigkeit den gewählten Stoff darzustellen, seine Charakteristik der historischen Persönlichkeiten, sogar deren 'Darbietungsform' (wir würden heute eher Stil sagen), überzeugen auch Fontane. Es bleibt nur ein Kritikpunkt über - Freytag ist für Fontane kein 'Dichter' weil er Figuren nur 'nachbildet' und nicht 'gestaltet'. Aber die hier vorgetragene Kritik Fontanes mißversteht das Anliegen des realistischen 'Geschichtsautors' Freytag. Gerade das Typische, die historische Person als Möglichkeit war das, was Freytag darstellen wollte oder vielmehr, was er im Bewußtsein seiner Leser verankert wissen wollte. Sein Anliegen war eben nicht die Gestaltung 'neuer' Figuren, sondern er wollte charakteristische Eigenschaften personifizieren, "Menschen der Vergangenheit für die Poesie verwerten"(20) und seine Frage war: "Wir aber, haben wir auch ein Recht, uns als Söhne der alten Germanen zu betrachten [...]?"(21) Für ihn war das keine Frage, für ihn war das Realität. Für Freytag waren die Germanen die Vorfahren der Deutschen und dieses Bewußtsein, das Bewußtsein einer Tradition, einer Zusammengehörigkeit jenseits aller Stammesgrenzen war das, was er darstellen wollte und in seinen 'Ahnen' dargestellt hat. Und Ingo war keine schlecht erdichtete literarische Figur, sondern für ihn ein typischer Vertreter der Germanen, wie er sie sah. "Sie waren die Eingeborenen [...], das Volk, [...] sie erkannten einander sämmtlich als Stammgenossen, welche in vielen Mundarten dieselbe Sprache redeten, auf demselben Götterglauben und denselben Rechtsanschauungen ihre Familie, Gemeinde und Dichtkunst entfaltet hatten."(22) Unter diesem Blickwinkel sind seine Gestalten entgegen Fontanes Meinung 'selbständige lebenswahre Figuren'. Gerade weil er Charakteristisches zeigen wollte, dies aber nicht wie in seinen 'Bildern' als Geschichtsbuch, sondern als Roman, mußte und wollte er als realistischer Schriftsteller Menschen darstellen die er kannte, unter und mit denen er lebte. Ein Weiteres kommt für Freytag hinzu. Ihm war es immer ein Anliegen das Bürgertum als das tragende Element Deutschlands zu stärken. Er selber war stolz darauf Bürger zu sein und lehnte auch eine angebotene 'Erhöhung' in den Adelstand - im Gegensatz zu vielen anderen - kategorisch ab. Als Publizist und Politiker kämpfte er für die Bürgerrechte und gegen die Vorrechte des Adels. Er sah im Bürgertum die moralische Instanz, die aus eigener Kraft das war, was der Adel allein aufgrund der Herkunft zu sein vermeinte. Den Ursprung dieses moralischen Anspruches sieht Freytag bei den Germanen zur Zeit der Völkerwanderung:
Dieser 'Verwilderung' sieht Freytag noch in seiner Gegenwart und will ihr mit seinen Büchern entgegentreten. Er hat mit seinen Ahnen einen Bogen gespannt, der bei Ingo 'den Ahnen aus früher Zeit beginnt' und in der Gegenwart endet, bei "einem frischen Gesellen, der noch jetzt unter der deutschen Sonne dahin wandelt, ohne viel um Thaten und Leiden seiner Vorfahren zu sorgen."(24) Es mag Zufall gewesen sein, daß Freytag gerade eine bestimmte Gegend Deutschlands für seinen Roman gewählt hat, Zufall, weil er dort gewohnt hat. Aber diese Frage ist müßig, angesichts der Tatsache, daß er ein Beispiel für Deutschland geben wollte. Daß sein 'Provinzialismus' ihm dazu diente, dieses Deutschland, das gerade erst zur politischen Einheit gefunden hatte, im Bewußtsein seiner Mitmenschen zu einer geistigen Einheit werden zu lassen. So wird es nicht ganz falsch sein zu sagen, daß bei Gustav Freytags Liebe zu seiner Heimat, seine Orte und Schauplätze von realen Schauplätzen inspiriert wurden - aber es doch gelten muß, was er in seiner Widmung in "Soll und Haben" an Herzog Ernst II schrieb:
Anmerkungen: (1) Frankfurter Allgemeine
Zeitung, Samstag, 26. Februar 1977; Nr.48, S. 23: Ist
Gustav Freytag neu zu entdecken? "Soll und
Haben", Aus Anlaß eines Fernsehprojekts, Von Hans
Mayer. Die FAZ geht in diesem Artikel auch auf den
vorgesehenen Regisseur Raienr Werner Fassbinder mit dem
Hinweis ein, daß dieser der Autor von 'Die Stadt, der
Müll und der Tod' ist, "gegen das - auch in dieser
Zeitung - der Vorwurf des aggressiven Antisemitismus
erhoben wurde." |