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  "Ingo und Ingraban", der erste Band der 'Ahnen'.
(Jürgen Matoni 1995)

Gustav Freytag starb vor einhundert Jahren am 30. April 1895. Für das neunzehnte Jahrhundert war er ein gefeierter Autor, Journalist und Publizist. Für das Nachkriegsdeutschland ein überholter Autor, ein Nationalist und Antisemit - fast ganz vergessen, nur noch in Kontroversen lebendig, die sich z. B. über die Verfilmung seines Romans "Soll und Haben" 1977 entwickelt hatte. Regie sollte Rainer Werner Fassbinder führen. Die hitzige Debatte, die sich um diese Verfilmung entspann, führte zur Aufgabe des Projektes durch den WDR. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb zu diesem Projekt:

[...] Freytags Roman ist voll antisemitischer und antislawischer Akzente. Kein Zweifel, daß 'Soll und Haben' auf das Verhältnis mehrerer Generationen deutscher Buchleser zu Juden und Polen einen verheerenden Einfluß ausgeübt hat. Haben die Verantwortlichen im Westdeutschen Rundfunk diesen Roman tatsächlich gelesen?(1)

Zu seinem hundertsten Todesjahr sind viele seiner Werke neu aufgelegt worden. "Soll und Haben" gleich in zwei Ausgaben; einmal in der Reihe "Die deutschen Klassiker"(2), dann noch als Reprint im Klotz-Verlag, bei dem auch die "Bilder aus der deutschen Vergangenheit" ebenfalls als Reprint und leider nur in Auswahl erschienen sind. Leider, muß man sagen, denn diese Drucke sind nicht sehr zuverlässig und die Wiederabdrucke richten sich nach Ausgaben, bei denen man nicht verstehen kann, warum gerade diese als Grundlage gedient haben, wie z. B. der Nachdruck der 'Verlorenen Handschrift' - ebenfalls im Klotz-Verlag - nach der Ausgabe von 1925. Der Zeitpunkt des Erscheinens und einige Preise der Bücher ("Die verlorene Handschrift" bei Klotz 120 DM) lassen darauf schließen, daß wohl mehr Interesse an lukrativen Schmuckauflagen bestanden hat als an korrekter Wiedergabe der Texte. Diese Bedenken können leider auch teilweise für die Herausgabe des ersten Bandes Der 'Ahnen'(3) des Donhof Verlages gelten, der mit 18 DM nicht zu teuer wäre, wenn er zuverlässig wäre, was er leider nicht ist.

Doch das Interesse an Freytag ist meist eher eine Vereinnahmung oder Ablehnung als eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Texten. Vereinnahmt wurde er häufig als Oberschlesier, obgleich u. a. auch Otto Warnatsch zugeben muß, daß Freytags engere Beziehung zu Oberschlesien sich "mit dem Besuch der Universität Breslau" immer mehr löste, aber Warnatsch fügt fast beschwörend hinzu: "[...] aber seine oberschlesische Heimat hat Freytag nicht vergessen."(4) Freytag, der nur einen kurzen Teil seiner Jugend in Oberschlesien verbrachte, der in Breslau und Berlin studierte, in Leipzig und Siebleben wohnte und in Wiesbaden starb, hat - für ihn als Patriot natürlich - seine Heimat nicht vergessen. Aber seine Heimat war Deutschland, für dessen Vereinigung er immer gekämpft hat.

Von seiner Einstellung her war Freytag Preuße in positivem, geistigem Sinne. Das blieb er sein Leben lang. Auch als er ab 1848 abwechselnd in Leipzig und in Siebleben bei Gotha lebte, bis er dann 1876 nach Wiesbaden zog. Als er gothaischer Staatsbürger werden mußte, um einem preußischen Haftbefehl zu entgehen, hat ihn das tief getroffen:

Man ist hier darauf aus, zu beweisen, daß ich Gothaischer Unterthan bin. Dieser Beweis würde der gerichtlichen Verfolgung von Berlin aus ein Ende machen, aber nicht den Verhaftbefehl Westphalens von mir nehmen. Und ich bin in der Lage, so auf die allernichtswürdigste Weise mein preuß. Staatsbürgerrecht zu verlieren. [...] Es war immer noch ein stiller Stolz von mir, Preuße zu sein - Unter Blinden ist der Einäugige König -, u. ich habe dies Recht in Leipzig durch Jahre conservirt [...](5)

Abgesehen von dieser Einstellung (eigentlich seiner Lebenshaltung von Pflichterfüllung und hohem moralischem Anspruch) gab es für ihn keine Unterschiede in der Bewertung der Menschen in bezug auf ihr Herkommen. Er hat zwar Eigenheiten gesehen, sie aber immer freundlich und humorvoll geschildert:

[...] ich hatte eine junge Person aus Gotha für die ersten Wochen zur Gesellschaft meiner armen Kranken engagirt, das ging aber nicht besonders, die Person war eine ächte Thüringerin, sprach wenig außer hm! - welches hier zu Lande bedeutet "ganz wie Sie wünschen", obgleich sie sonst recht willig u. ordentlich war.(6)

Zwar hat Freytag den Ort Siebleben und dessen Umgebung geliebt, und seinen Freund Salomon Hirzel mit der folgenden Darstellung zu sich nach Siebleben eingeladen:

Hier ist Siebleben, ein sehr ländliches Dorf, aber voll Begier, Sie zu begrüßen, hier ist der Thüringer Wald, ein kleines, aber nicht schlechtes Gebirge, mit prächtigen Bäumen, Milch, Brod und guten Landstraßen ...(7)

Er hat aber seine Herkunft nie verleugnet und immer darauf bestanden, daß seine direkten Vorfahren aus Schlesien stammten:

Auf Verwandtschaft mit diesen zahlreichen thüringischen etc. Freytagen habe ich keinen Anspruch, unsere schlesischen Bauern sind schon im 13ten Jahrh. aus Thüringen als deutsche Colonisten in den Creutzburger Kreis gekommen. Auf der Scholtisei in Schönwald ist eine Art Stammbaum meiner Sippe der bis c. 1550 zurückgeht, wo dort die Taufbücher etc. eingerichtet sein mögen.(8)

Diese seine Herkunft aus Schlesien hat ihn nicht zu einem 'Heimatdichter' gemacht, nicht zu einem Schriftsteller, der von einer Landschaft abhängig war. Trotzdem - oder gerade aus diesem Grunde - hat er die Handlungen seiner Romane immer in bestimmten Landschaften spielen lassen, aber nicht immer so, daß man nur auf die Landkarte blicken muß, um zu wissen, wo der eine oder andere Schauplatz zu finden ist. So gibt es z. B. immer noch die Kontroverse, welches Ostrau "unweit der Oder" er gemeint hat, in dem Anton Wohlfart, der Held aus "Soll und Haben", geboren wurde.

Freytags Roman "Ingo und Ingraban" wurde im November 1872 ausgegeben. Über diesen Roman schreibt er in einem Brief an Baudissins vom 15. Dezember 1872:

Darf ich noch über das Local der Geschichten sprechen, so ist der Idisbach die Itz (Idisaha, Idaha) die Idisburg da, wo jetzt die Veste Koburg steht, die Waldlauben im Territorium des Answald der District des jetzigen südlichen Gotha, sein Hof am Ausgang des Reinhardsbrunner Thals, der Rabenhof weiter östlich am Thal v. Tambach um Altenberge u. Finsterberge, das freie Moor des Bero das Dorf Frimar, 1 St. v. Siebleben, der letzte Hof Ingrams das jetzige Ingersleben unweit Dietendorf. Die Höhle entweder die Marienhöhle oder eine andere, welche in dieser Gebirgsformation nicht unwahr sind. Der Rennstieg, wie er jetzt heißt, ist der 17 Meilen lange Grenzweg welcher über den Kamm des Thüringer Waldes vom Hörselberg bis zur Saale führt, noch jetzt als breiter Weg von Bäumen frei gehalten wird. Die Sorben des Ratig saßen in Erbersdorf, Reuß, ihr Grenzbach heißt noch heut Sormitz vel Sorbitz. Die Auswandrer fahren aus dem Gothaischen täglich 3 - 4 Meilen bis ins Koburgische.(9)

Eine genaue Darstellung der Orte der Handlung - aber es wäre jetzt einfach zu sagen, daß sich der Dichter diese Orte vorgestellt habe, seine Erzählung aber nichts mit diesen Orten zu tun hätte. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß Freytag realistischer Schriftsteller war, daß er zum 'Bürgerlichen Realismus' gezählt wird, daß also seine Texte so nah wie möglich an die Wirklichkeit angelehnt sind. Theodor Fontane hatte schon in seiner Rezension zu "Soll und Haben" diese Genauigkeit gerühmt:

In diesen Details nun ist Gustav Freytag Meister. Da wird im ersten Bande kein Nagel eingeschlagen, an dem im dritten Bande nicht irgend etwas, sei es ein Rock oder ein Mensch aufgehängt würde, und der blaue Ölfarbentopf, mit dem Karl Sturm die Leiterwagen anstreicht, hat seine spätere Bedeutung.(10)

Fontane hat zwar in späteren Jahren, wohl aus persönlichen (in seiner eigenen künstlerischen Entwicklung liegenden) Gründen seine Meinung über Freytag geändert, aber an Freytags Präzision läßt auch er in seiner Rezension von 1874 zu den ersten Bänden der 'Ahnen' keinen Zweifel:

Die Lokalität, um die es sich handelt, ist der nach Norden hin dem Thüringer Walde unmittelbar vorgelegene, drei bis vier Meilen breite Landstreifen auf der Strecke zwischen Weimar und Eisenach - der Rennsteig und die Walddörfer, Gotha und die Wartburg, werden an verschiedenen Stellen genannt. Die am meisten in Betracht kommenden Örtlichkeiten liegen indessen nicht an dieser ebengenannten Horizontallinie, auf der sich die Erzählung (sogar, bis nach Hersfeld hin, westlich übergreifend) allerdings zeitweilig auf und ab bewegt, sondern auf einer schräg durchschneidenden Vertikale, auf der Linie zwischen Ohrdruf und Erfurt. Um Dorf Ingersleben, das den Namen Ingrams noch erkenntlich festhält, haben wir den Hauptschauplatz dieser Erzählungen zu suchen. Hier befanden sich die ersten christlichen Ansiedelungen, über die in "Ingraban" berichtet wird, hier erhob sich der alte und bald darauf auch der neue "Rabenhof", hier ragte die "Mühlburg" auf, und hier lagen jene freien bäuerlichen Gemeinwesen, über die die Nachkommen Ingrams wie kleine Erbkönige herrschten. Nur die erste Erzählung, "Ingo" wechselt in ihrem Verlauf das Lokal und führt uns vom Nordabhang an den Südabhang des Thüringer Waldes.(11)

Das neunzehnte Jahrhundert könnte auch das Jahrhundert des Historismus genannt werden. Ranke mit seiner "Weltgeschichte" (Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott) und Mommsen mit seiner "Römischen Geschichte" prägten mit ihrer Geschichtsauffassung die Meinung des Bürgertums. Und auch Freytag schrieb mit seinen "Bildern aus der deutschen Vergangenheit" Geschichtsbücher. Victor von Scheffel mit "Ekkehard" und Felix Dahn mit "Ein Kampf um Rom" um nur zwei zu nennen, popularisierten Geschichtsdarstellungen und Freytag wird mit seinen 'Ahnen' oft in diesem Zusammenhang gesehen. Wenn die 'Ahnen' auch in ihrer literarischen Qualität kaum akzeptiert werden, wird Freytag im "frühen Kanon des historischen Romans" eine "Spitzenstellung" eingeräumt.(12) Dieser 'Kanon' entstand in der Nachfolge von Walter Scott, die Aust so definiert:

Verändert ist der erste Typus gegenüber Scott insofern, als die Rolle des 'mittleren Helden' eine bedeutende Wandlung vom distanzierten Perspektiventräger zum aktiven, sympathischen Mitstreiter im historisch-dramatischen Prozeß erfährt [...](13)

Dieser 'erste Typus' wie Aust ihn nennt, hat Julian Schmidt zufolge (ein Freund Freytags, der von Aust zum Beleg zitiert wird) eine 'doppelte Aufgabe':

[...] das Gemälde seines Zeitalters so zu entwerfen, daß wir die Kluft, die uns von demselben trennt, lebhaft empfinden, und uns doch zugleich den Weg bahnen, der uns das Verständniß desselben eröffnet.(14)

Freytag und Schmidt werden gemeinhin als die Repräsentanten des 'programmatischen Realismus' bezeichnet, der sich unter anderem dadurch auszeichnete, daß der pädagogische Aspekt der Literatur stark betont wurde, was oft bei der ästhetischen Wertung der Werke Freytags 'vergessen' und als Argument gegen ihn gewendet wurde. Sein Stil wurde als professoral gekennzeichnet und, wie Fontane es ausdrückte als 'ledern' empfunden.
Das vehinderte jedoch nicht, daß Freytags Ahnen einen ungeahnten Erfolg hatten und er - selber davon überrascht - ironisch an seinen Freund den Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha schrieb:

Dieser Erfolg wird auch dem Autor mehrfach angenehm, ich habe jetzt Einnahmen, wie ich mir nie hätte träumen lassen, und wenn das so fortginge, würde ich ein reicher Mann werden.(15)

Daß gerade die historischen Romane (wie geschichtliche Werke überhaupt) in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts so großen Anklang fanden, läßt sich u. a. aus dem Wunsche heraus erklären, sich nach der staatlichen Einigung 1871 einer eigenen Geschichte zu vergewissern, da die Deutschen ein 'lebhaftes Nationalbewußtsein' hatten, aber kaum eine 'historische Tradition'.(16) Warum aber schreibt Freytag dann einen historischen Roman, der in einer Provinz Deutschlands spielt und nicht ein 'Gesamtdeutsches' Werk? Freytag selbst gibt eine einfache Erklärung:

Man kann über die Berechtigung des historischen Romans verschiedener Ansicht sein, will man einen schreiben, so muß man sich nach meiner Ueberzeugung auf ein kleines Gebiet beschränken und durch Reichthum des Details zu fesseln suchen.(17)

Das kleine Gebiet und der Reichthum des Details beschreiben das Vorgehen Freytags sehr deutlich. Und Schmidt hebt die Berechtigung der 'Provinzialisierung' noch hervor die, für ihn die Möglichkeit der vielfältigen 'Farbgebung' und "festere Zeichnung"(18), also eine Verdeutlichung der Strukturen. Das Eine, wie das Andere sind für Fontane trotz aller Bewunderung eher ein Ärgernis:

Nach der Seite des Studiums und der Komposition, der Landschafts- und Situationsschilderung, insonderheit auch der Charakteristik historischer Figuren hin, ist er ersten Ranges; der eigentliche Erzählungsstoff interessiert, teils durch sich selbst, teils durch die Art, wie er gegeben wird; aber überall da, wo es gilt, über das bloß Typische oder über die geschichtliche Überlieferung oder über die geschickte Nachbildung hinaus selbständige, lebenswahre Figuren zu gestalten, scheitert der Dichter, weil er kein Dichter ist.(19)

Freytags historische Genauigkeit, seine Fähigkeit den gewählten Stoff darzustellen, seine Charakteristik der historischen Persönlichkeiten, sogar deren 'Darbietungsform' (wir würden heute eher Stil sagen), überzeugen auch Fontane. Es bleibt nur ein Kritikpunkt über - Freytag ist für Fontane kein 'Dichter' weil er Figuren nur 'nachbildet' und nicht 'gestaltet'.

Aber die hier vorgetragene Kritik Fontanes mißversteht das Anliegen des realistischen 'Geschichtsautors' Freytag. Gerade das Typische, die historische Person als Möglichkeit war das, was Freytag darstellen wollte oder vielmehr, was er im Bewußtsein seiner Leser verankert wissen wollte. Sein Anliegen war eben nicht die Gestaltung 'neuer' Figuren, sondern er wollte charakteristische Eigenschaften personifizieren, "Menschen der Vergangenheit für die Poesie verwerten"(20) und seine Frage war: "Wir aber, haben wir auch ein Recht, uns als Söhne der alten Germanen zu betrachten [...]?"(21) Für ihn war das keine Frage, für ihn war das Realität. Für Freytag waren die Germanen die Vorfahren der Deutschen und dieses Bewußtsein, das Bewußtsein einer Tradition, einer Zusammengehörigkeit jenseits aller Stammesgrenzen war das, was er darstellen wollte und in seinen 'Ahnen' dargestellt hat. Und Ingo war keine schlecht erdichtete literarische Figur, sondern für ihn ein typischer Vertreter der Germanen, wie er sie sah. "Sie waren die Eingeborenen [...], das Volk, [...] sie erkannten einander sämmtlich als Stammgenossen, welche in vielen Mundarten dieselbe Sprache redeten, auf demselben Götterglauben und denselben Rechtsanschauungen ihre Familie, Gemeinde und Dichtkunst entfaltet hatten."(22) Unter diesem Blickwinkel sind seine Gestalten entgegen Fontanes Meinung 'selbständige lebenswahre Figuren'.

Gerade weil er Charakteristisches zeigen wollte, dies aber nicht wie in seinen 'Bildern' als Geschichtsbuch, sondern als Roman, mußte und wollte er als realistischer Schriftsteller Menschen darstellen die er kannte, unter und mit denen er lebte. Ein Weiteres kommt für Freytag hinzu. Ihm war es immer ein Anliegen das Bürgertum als das tragende Element Deutschlands zu stärken. Er selber war stolz darauf Bürger zu sein und lehnte auch eine angebotene 'Erhöhung' in den Adelstand - im Gegensatz zu vielen anderen - kategorisch ab. Als Publizist und Politiker kämpfte er für die Bürgerrechte und gegen die Vorrechte des Adels. Er sah im Bürgertum die moralische Instanz, die aus eigener Kraft das war, was der Adel allein aufgrund der Herkunft zu sein vermeinte. Den Ursprung dieses moralischen Anspruches sieht Freytag bei den Germanen zur Zeit der Völkerwanderung:

Es ist ein radikaler Irthum, den zu widerlegen der Historiker berufen ist, daß die Germanen beim Beginn der Völkerwanderung - Ingo - rohe u. ungeschlachte Gesellen gewesen sind. Sie standen damals unter der Herrschaft einer Sitte, die eisenfest war, deren Forderungen uns nach mancher Richtung wild u. barbarisch erscheinen, die aber ihrem ganzen Leben Haltung u. den besseren Naturen Sittlichkeit und Adel gab. Leider ging ihnen bei der Berührung mit römischer Civilisation u. in der socialen Auflösung ihrer Wanderzeit dieser heimische Schatz in Trümmer. In drei Generationen verwilderten sie auf Römergrund: Gothen, Vandalen, Franken. Und Gestalten wie Brunhild u. Fredegunde sind specifische Producte des eingetretenen Verderbs.(23)

Dieser 'Verwilderung' sieht Freytag noch in seiner Gegenwart und will ihr mit seinen Büchern entgegentreten. Er hat mit seinen Ahnen einen Bogen gespannt, der bei Ingo 'den Ahnen aus früher Zeit beginnt' und in der Gegenwart endet, bei "einem frischen Gesellen, der noch jetzt unter der deutschen Sonne dahin wandelt, ohne viel um Thaten und Leiden seiner Vorfahren zu sorgen."(24)

Es mag Zufall gewesen sein, daß Freytag gerade eine bestimmte Gegend Deutschlands für seinen Roman gewählt hat, Zufall, weil er dort gewohnt hat. Aber diese Frage ist müßig, angesichts der Tatsache, daß er ein Beispiel für Deutschland geben wollte. Daß sein 'Provinzialismus' ihm dazu diente, dieses Deutschland, das gerade erst zur politischen Einheit gefunden hatte, im Bewußtsein seiner Mitmenschen zu einer geistigen Einheit werden zu lassen. So wird es nicht ganz falsch sein zu sagen, daß bei Gustav Freytags Liebe zu seiner Heimat, seine Orte und Schauplätze von realen Schauplätzen inspiriert wurden - aber es doch gelten muß, was er in seiner Widmung in "Soll und Haben" an Herzog Ernst II schrieb:

Glücklich werde ich sein, wenn Eurer Hoheit dieser Roman den Eindruck macht, daß er wahr nach den Gesetzen des Lebens und der Dichtkunst erfunden und doch niemals zufälligen Ereignissen der Wirklichkeit nachgeschrieben ist.


Anmerkungen:

(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung, Samstag, 26. Februar 1977; Nr.48, S. 23: Ist Gustav Freytag neu zu entdecken? "Soll und Haben", Aus Anlaß eines Fernsehprojekts, Von Hans Mayer. Die FAZ geht in diesem Artikel auch auf den vorgesehenen Regisseur Raienr Werner Fassbinder mit dem Hinweis ein, daß dieser der Autor von 'Die Stadt, der Müll und der Tod' ist, "gegen das - auch in dieser Zeitung - der Vorwurf des aggressiven Antisemitismus erhoben wurde."
(2) Freytag, Gustav: Soll und Haben, Kehl 1993 (Swan).
(3) Freytag, Gustav: Die Ahnen. Bd. 1, Ingo und Ingraban, Arnstadt 1992. Kürzlich hat der Verlag mit dem "Nest der Zaunkönige" auch den zweiten Band dieses Zyklus herausgegeben.
(4) Warnatsch, Otto: G. Freytag und seine Heimat. In: Oberschlesien, ein Land deutscher Kultur, Gleiwitz 1921, S. 146 - 149, hier S. 146.
(5) Margret Galler / Jürgen Matoni (Hrsg.) Gustav Freytags Briefe an die Verlegerfamilie Hirzel, Teil 1, 1853 - 1864, Berlin 1994. Brief Nr. 11, 27. 8. 1854. Wie Freytag am 6. August 1854 dem Herzog mitteilt, hatte er eine anonyme Nachricht erhalten, in der ihm mitgeteilt wurde, daß eine Verfügung an alle preußischen Polizeibehörden ergangen sei. Die Verfügung lautet, wie Freytag schreibt, sinngemäß: "Es sind bereits einige Aufsätze einer in Leipzig erschienenen autographirten Correspondenz durch verschiedene Königliche Gerichte und namentlich durch von dem Stadtgericht zu Berlin ergangene Erkenntnisse vernichtet worden. Der Dr. G. Freytag, der sich dem Vernehmen nach in Gotha aufhält, war der Verfasser einiger derselben. Da es sehr wünschenswerth ist, denselben zur Bestrafung zu ziehen, so werden sämmtliche Polizei-Verwaltungen aufgefordert, den Dr. G. F., sobald derselbe sich im Preuß. Staate betreffen läßt, sofort zu verhaften. Es ist um so weniger zu bezweifeln, daß er die diesseitige Grenze ungescheut betreten werde, da er mit einem Heimathschein auf 3 Jahre seit dem 5ten Februar 1852 versehen ist, wenn nur die sehr anzuempfehlende Verschwiegenheit von den Behörden beobachtet wird, damit demselben nicht vorzeitige Mittheilung von seiner beabsichtigten Verhaftung gemacht werde." Tempeltey, Eduard (Hrsg.): Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893. Leipzig 1904, S. 29. Freytag hatte zu befürchten, daß auch im Königreich Sachsen aufgrund der Verträge seine Auslieferung nicht ausgeschlossen sein würde, und selbst in Gotha schien wenigstens eine gerichtliche Verfolgung möglich zu sein, so lange er nicht dort wirklicher Untertan war.
(6) Gustav Freytags Briefe an die Verlegerfamilie Hirzel, Teil 2, 1865 - 1877 (im Druck). Brief Nr. 36, Juni 1873. Seinem Neffen Gustav gegenüber schildert Freytag die Person ähnlich: "Die Tante hatte unbequeme Zeit, wir hatten ein Fräulein aus Gotha engagirt, die von <Ida> und dem Doctor empfohlen war, sie kam mit wallenden Locken u. einem Posteleven als Bräutigam, sprach wenig u. wußte sich bei Tante gar keinen Rath." Brief vom 10. Juni 1873. Das Original befindet sich im Besitz des Gustav Freytag Archivs in Wangen im Allgäu.
(7) Gustav Freytags Briefe an die Verlegerfamilie Hirzel, Teil 1, Brief Nr. 49, 23.05.1856.
(8) Ebd. Brief Nr. 96, 02.08.1858. Über seine schlesischen Vorfahren, angefangen mit Simon Freytag (geb. 1578) und die Scholtisei in Schönwald berichtet Freytag in seinen 'Erinnerungen'. Vgl. Freytag, Gustav: Erinnerungen aus meinem Leben. Leipzig 1887, Hirzel (Separatausgabe), S. 3 - 31.
(9) Freytag, Willibald, Gustav: Aus Gustav Freytags Briefwechsel mit Graf und Gräfin Baudissin. In: Süddeutsche Monatshefte, August 1929, S. 824 - 834, hier S. 834. Vgl. zur Verortung der Schauplätze im Roman ebenfalls den Brief Freytags an Herzog Ernst II. vom 2. Dezember 1872. In: Tempeltey, Eduard (Hrsg.): Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893. Leipzig 1904, S. 255.
(10) Fontane, Theodor: Literarische Essays und Studien. Erster Teil, S. 219 f. In: Ders., Sämtliche Werke, Band XXI/1 München 1963.
(11) Ebd. S. 231 f.
(12) Aust, Hugo: Der historische Roman. Stuttgart/Weimar 1994, S. 90.
(13) Ebd. S. 88.
(14) Schmidt, Julian: Geschichte der deutschen Literatur im neunzehnten Jahrhundert. Bd. III, Die Gegenwart. 2, durchaus umgearbeitete, um einen Band vermehrte Auflage, Leipzig 1855, S. 251. (Aust, a. a. O., S. 86).
(15) Tempeltey: Brief an Ernst II, 08.12.1873, S. 257.
(16) Vgl. J. Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur im neunzehnten Jahrhundert. Bd. III, S. 250.
(17) Tempeltey: Brief an Ernst II, 08.12.1873, S. 256.
(18) Schmidt, J.: Geschichte der deutschen Literatur im neunzehnten Jahrhundert. Bd. III, S. 251.
(19) Fontane, S. 247.
(20) Freytag, Gustav: Gesammelte Werke, Leipzig 1910 (dritte Auflage), Bd. 8, Ingo und Ingraban, Vorwort.
(21) Ebd. Bd. 17, Bilder aus der deutschen Vergangenheit I, S. 34.
(22) Ebd. Bd. 17, S. 37 f.
(23) Freytag, Gustav Wilibald: Aus Gustav Freytags Briefwechsel mit Graf und Gräfin Baudissin, a. a. O., S. 834.
(24) Freytag, Gustav: Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 8, Ingo und Ingraban, Vorwort.

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