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  Neue epische Dichtungen auf dem deutschen Büchermarkt

Es ist charakteristisch für die veränderte Art, poetisch zu empfinden, daß in den letzten Jahren die Zahl der Iyrischen Gedichte junger Talente auf unserem Büchermarkt abgenommen hat und dagegen eine Zunahme kleiner epischer Dichtungen zu bemerken ist. Während noch vor zehn Jahren der erste Schritt, den ein Dichter in die Öffentlichkeit that, kaum anders geschehen konnte, als durch ein Heft Gedichte in Heine‘s oder im schwäbischen Ton, lockt jetzt vorzugsweise die glänzende Färbung, der längere Fluß und der, wenn auch lockere, doch mit einiger Berücksichtigung des gesunden Menschenverstandes zu ordnende Zusammenhang einer epischen Begebenheit. Die Anschauungen der Dichter fahren nicht mehr vorzugsweise auf den kurzen Wogen persönlicher Empfindungen daher, sondern sie zeigen sich in längerer Strömung, in gestaltenreichem Erfindungen. Insofern ein Streben nach eigenartigem Bilden auch dieser Richtung zu Grunde liegt, muß sie mit Theilnahme verfolgt werden; nur ist dabei selbst für ein nennenswerthes Talent das Mißlingen viel bedenklicher, als bei kurzen Gedichten.

Zwar war es einer jungen Dichterseele bei lyrischen Gedichten sehr schwer geworden, die eigne Empfindung originell darzustellen. Denn die Fülle von vorhandenen Formen, Stoffen, lyrisch zubereiteten Ideen, von Bildern und Pointen ist gegenwärtig so groß, daß unsere Dichtersprache ganz damit gesättigt ist, und dem neuen Dichter, ohne daß er es ahnt, sich bereits in andern Gedichten vorhandene Rhythmen, Stoffe, Gedanken und Phrasen unterschieben, so daß sein Gedicht für den kühlen Leser in der Regel nichts Anderes wird als die neue Variation eines bekannten Themas. Und obgleich der Zauber, welchen nach Schiller der Stil Uhlands und Heines ausübte, die Phantasie der Schaffenden vorzugsweise in die Bahnen dieser Dichter zog, so haben doch auch andere namhafte Talente der neuern Zeit, die selbst zum großen Theil an Vorgänger sich anlehnen, wie Lenau, Freiligrath, Herwegh, ähnliche übermächtige Einwirkung auf Einzelne ausgeübt, und es ist interessant zu betrachten, wie die Flut der lyrischen Poesie, seit Goethes Jugend aus wenigen starken Quellen entsprungen, in die reihenweise hintereinander aufgestellten Schalen hinabfließt bis zur Gegenwart. Aus einer Schale in die andere, aus der ältern Dichterseele in die jüngere, oft anders gefärbt, durch manchen neuen Zufluß bereichert, im Ganzen aber sich immer mehr zertheilend bis zu feinem Staub und dem Rinnen einzelner Tropfen. Aber wie sehr wir deshalb auch in den lyrischen Dichtungen der jungen Generation die Ursprünglichkeit vermissen, es war doch noch möglich, in dem einzelnen Gedicht mit tadelloser Form Artiges und Erfreuliches auszudrücken, und es ist sehr zu verwundern, daß unsere Lyrik, fünfzig Jahr nach Goethe, neben wenigen sicheren, melodienreichen Talenten, wie Geibel, schon eine solche Masse unbehilflicher, schülerhafter und roher Versuche zeigt.

Dagegen steht die epische Poesie ganz anders. Auch wenn sie sich nicht die unlösbare Aufgabe stellt, breite Heldenstoffe in der Art der großen epischen Dichtungen alter Zeit zu behandeln, kann sie größere Bildung und Selbständigkeit der Dichter, eine durch künstlerische Technik geregelte Phantasie, kurz ein stärkeres Talent nicht entbehren. Schon der Vers eines solchen Gedichts bietet erhebliche Schwierigkeiten. Unsere Sprache hat bis jetzt keine Versform, welche durch häufige und erfolgreiche Behandlung für epische Zwecke so ausgebildet wäre, daß sie dem Schaffenden einen wirksamen Ausdruck seiner Anschauungen leicht machte. Was unsere Lyrik nach langer Blüthenzeit zu viel hat, Zurichtung und Vorbilder, das hat unser Epos, welches solche Stützen vielleicht länger ertragen könnte, noch zu wenig. Weder der Hexameter von Hermann und Dorothea, noch die italienischen Stanzen der Übersetzer, noch die Nibelungenstrophe in den kleinen Cabinettsstücken von Uhland, noch irgend ein anderes strophisches Maß sind nach den metrischen Gesetzen unserer Sprache überall praktisch. Der Hexameter ist einst bei einem fremden Volk aus Klangverhältnissen der Wortsilben entstanden, die wir durch unsere Hebungen und Senkungen nur unvollständig nachahmen können, er macht, wenn seine Schulregeln streng beobachtet werden, den Redegang unvermeidlich steif und geschraubt und er wird durch den trochäischen Fall, den er im Deutschen erhält, bei nachlässiger Behandlung nur zu leicht einförmig. Es gehörte der feine Sprachsinn Goethes dazu, ihn mit Freiheit zu gebrauchen. Die italienischen Strophen sind noch schlimmer; der starke Versklang und die Reimfülle stören dem deutschen Dichter die Individualisirung und verführen zu Sentenzen und poetischen Phrasen. Der Nibelungenvers hat bei dem modernen Verhältniß der deutschen Hoch- und Tiefbetonungen eine große Monotonie erhalten, die er im Mittelalter nicht hatte. Die Cäsur in der Mitte theilt ihn leicht in zwei klappernde Theile, und die Verbindung des Langverses zu vierzeiliger Strophe vermehrt bei langathmigen Gedichten noch diese geräuschvolle Eintönigkeit. Hier und da hat man eine freiere Behandlung desselben ohne Strophen in fortlaufendem Flusse versucht, nicht ohne Glück. Immer aber bleibt ihm eine starke, eigenthümliche Farbe, welche zu vielen Stoffen nicht paßt. Da nun die Wörter unserer Sprache einen vorwiegend trochäischen Fall haben und längere trochäische Verse deshalb nicht in festem Band zusammenzuhalten sind, sondern unvermeidlich in Stücke auseinanderfallen, so bleibt zuletzt dem epischen Dichter kein anderes Maß übrig, welches einen bequemen Gebrauch verstattet, als derselbe Vers, den wir im Drama ausgebildet haben, der fünffüßige Jambus. Dieser Vers, welcher zu dem gleichförmigen Fluß der deutschen Wörter den entsprechenden Gegensatz bildet, ist allerdings der handlichste. Er hat am wenigsten Farbe und läßt sich wohl mit den durchsichtigen Lasuren der Malerei vergleichen, welche über jeden Farbenton des Stoffes gezogen werden können. Es sind feine Wirkungen mit ihm hervorzubringen, aber er verlangt eine schöpferische Kraft, welche ihn geschickt dem jedesmaligen Stoff anzupassen weiß. Auch bei ihm sind für einen jungen Dichter Schwierigkeiten zu überwinden; zunächst macht gerade sein durchsichtiger, nie stark in das Ohr fallender Rhythmus eine große Herrschaft über die Sprache nöthig. Gerade bei ihm ist die Behandlung der Cäsuren, das Maß der rhythmischen Freiheiten, die Verwendung männlicher oder weiblicher Ausgänge und die Benutzung des Reims von großem Einfluß auf seinen Charakter, und jede Unbehilflichkeit des Dichters, die bei andern Versen eher durch den Klang des Metrums und des Reims überdeckt wird, tritt an ihm unverhüllt zu Tage. Zweitens aber ist dieses Maß, wie geschickt man es auch gebrauche, doch vorzugsweise zu ruhiger Erzählung und feiner Malerei mit kürzeren Strichen geeignet. Die Macht und Fülle langathmiger Erzählung vermag der jambische Fünffuß, der aus zwei für unsere Sprache kurzen Theilen besteht, nicht leicht wiederzugeben.*

So leiden unsere epischen Dichter an dem Umstand, daß schon das Versmaß bei der gegenwärtigen Bildung unserer Sprache für sie besondere Schwierigkeiten hat. Allerdings ist die Wahl des Versmaßes nicht willkürlich, ja bei dem, welcher mit Beruf schafft, nicht einmal vorzugsweise das Ergebniß verständiger Überlegung, sondern die Folge eines innern Dranges, welcher die Arbeit der Phantasie in ein bestimmtes Maß kleidet.

Größere Schwierigkeiten des epischen Schaffens in Versen liegen im Inhalt des Gedichtes, sowohl in der Erfindung und Composition der Erzählung selbst, als in Ton und Farbe derselben.

Das moderne Epos hat kein Gebiet von Stoffen, auf welches dasselbe vorzugsweise angewiesen ist, ja ihm fehlt grade der Kreis, in welchem sich die großen Epen früherer Zeit bewegt haben. Die Heldensagen der Deutschen und fremder Völker sind für uns schon mehr oder weniger poetisch zugerichtet, ihre Grundlage ist eine Weltanschauung und eine Stellung der Menschen zueinander, welche wir nicht ohne Mühe verstehen und in welche sich eine starke schöpferische Kraft nur mit Hindernissen und in der Regel mit Widerstreben hineinarbeitet. Für die kunstmäßige Darstellung solcher Ereignisse aber, welche in unserem Leben wurzeln, oder doch von uns modernen Menschen in ihren innern Motiven und ihrem Zusammenhange am leichtesten verstanden werden können, hat sich im Roman eine neue Form der Poesie entwickelt, welche den Vers ganz entbehrt und welche sich, gemäß unserer Betrachtung menschlicher Verhältnisse, ähnlich zur Geschichte und Biographie verhält, wie das Heldenepos zur sagenhaften Überlieferung aus alter Zeit. Seit diese Gattung epischer Erzählung erfunden ist, hat die prosaische Darstellung das Recht, überall einzutreten, wo eine längere, reichgegliederte Erzählung mit genauer Ausführung verschiedener sich durchkreuzender menschlicher Interessen und eine besondere Schilderung des menschlichen Herzens, seiner Leidenschaften und Verirrungen wirksam werden soll, d. h. fast überall, wo ein Stück unseres modernen Lebens aus dem ungeheuren Zusammenhange von Ursachen und Wirkungen herausgehoben und für die Kunst verwerthet wird. Dem Epos in Versen bleiben deshalb fast nur kleinere Stoffe, in denen eine einheitliche Stimmung so mächtig hervortritt, daß sie dem Dichter erlaubt, auch die Motive zu vereinfachen, den Fluß der Charaktere in ein geradliniges Bett zu leiten und der Sprache gesteigerten Ausdruck, Schwung und Klang des Verses zu geben. Von Hermann und Dorothea bis zu Byrons Don Juans zeigen solche Stoffe Einfachheit und verhältnismäßig geringen Umfang der erzählten Begebenheit. Aber auffallend ist bei den meisten dieser Stoffe, daß auch ihre Darstellung in Prosa, als Roman oder Novelle, an sich nicht unmöglich gewesen wäre, so daß ihre Bildung in Versform nicht in der Art unbedingte Nothwendigkeit war, wie der Ausdruck einer musikalischen Stimmung bei einem lyrischen Gedicht oder der Wahnsinn Lears in dramatischer Darstellung. Wie groß auch der Unterschied in der Wirkung sei, welcher immer noch zwischen Goethes Hermann und Dorothea und einer in Prosa geschriebenen guten Novelle gleiches Inhalts stattfinden würde, es ist kein Gattungsunterschied, wie zwischen der Wirkung eines lyrischen Gedichtes und eines Dramas, und es wird in dem ersten Stadium des poetischen Schaffens für die meisten Dichter sehr wohl möglich sein, den epischen Stoff, für welchen sie sich erwärmt haben, auch in prosaischer Darstellung kunstmäßig herauszubilden. Deshalb fehlt der versificirten Behandlung epischer Stoffe bei uns in vielen Fällen die Nothwendigkeit.

Ja, der Drang, einen epischen Stoff in Versen nach den vorhandenen Mustern zu behandeln, ist in vielen Fällen ein unberechtigter. Nicht selten ist es Trägheit der Phantasie, oder gar Mangel an Begabung, was zum Verse treibt. Unter den epischen Gedichten der letzten Jahre sind nicht wenige - es sei hier nur Hans Heideguckuck von Roquette erwähnt -, deren Stoff sich viel besser für einen Roman geeignet hätte, wenn er in der Phantasie der Dichter vollständig genug herausgearbeitet worden wäre.

Bei ihm und bei andern scheinen die Erzähler in dem Wahn befangen, daß eine gewisse schwungvolle Skizzierung einzelner Situationen und tönende Worte den Mangel an verständigem Zusammenhang in der Begebenheit überdecken können. Die Begebenheit, welche im ernsten Epos erzählt wird, muß an sich fähig sein, in dem Lesenden Antheil an den Personen, durch welche sie getragen wird, zu erwecken. Sie wird nicht nur einfach, sondern auch in ihrem Verlaufe verständlich und folgerichtig sein müssen. Sie wird ferner, eben weil sie von einfacher Anlage ist, auch nach eigenthümlichen Gesetzen die Steigerung des Interesses einrichten. Durch den Kampf menschlicher Leidenschaften, den Gegensatz der geschilderten Verhältnisse oder durch eine originelle Stimmung, welche der Dichter seiner Erzählung zu geben weiß, muß eine starke Spannung entstehn. Diese Spannung wird sich erhöhen müssen, bis gegen das Ende, wo sie in einer Katastrophe mit reicher Ausführung gelöst wird, so daß die Grundstimmung des ganzen wohlthuend zu Tage tritt. Ferner wird auch die Charakteristik der Menschen, deren Schicksale erzählt werden, einfach in großen Zügen geschehen müssen, aber sie soll deswegen nicht weniger wahr und anziehend sein. Je weniger in Einzelne gehend die Ausführung, desto reiner müssen die Umrisse sein. Die Helden dürfen nur das Nothwendige, ihrer einfachen Anlage Entsprechende sagen und thun; jede Willkür des Dichters in Schilderung von unnöthigen Zügen, jeder fremdartige Zug, auch wenn er psychologisch erklärbar ist, stört. Diese Gesetze scheinen einfach und selbstverständlich, und doch ist in den meisten Gedichten, welche vorliegen, dagegen in auffallender Weise gesündigt. Der Vers ist ein schlechter Überzug für eine Erzählung ohne Interesse, ohne Zusammenhang und logische Folgerichtigkeit.

Wer in Versen erzählt, wird auch in der Auswahl der charakterisierenden Momente, durch welche er schildern oder stimmen will, große Sicherheit besitzen müssen, denn ihm stehen verhältnismäßig weniger Momente zu Gebote, als dem Erzähler in Prosa. Ein einzelnes Bild muß oft die Stärke einer leidenschaftlichen Bewegung, zwei, drei kleine Striche vielleicht eine Örtlichkeit, z. B. einen landschaftlichen Hintergrund, lebendig vorführen. Wenn das Gemüth des Dichters das Zweckmäßige hier nicht kräftig empfindet, wird aller Wortreichthum unnütz sein. Der Vers unterstützt in großartiger Weise die Wirkung einer richtig empfundenen Charakteristik, weil er das wahr Empfundene viel vornehmer zu sagen vermag, als der prosaische Satz, aber er wird peinlich, wenn er den Mangel solcher Empfindung durch sein Geklapper ersetzen soll. Und grade sein Klang verführt leicht zur Phrase.


*Von den Theilen, in welche der jambische Fünffuß durch die Cäsur zerfällt, ist, im Durchschnitt betrachtet, der erste bei gehobener schmuckvoller Rede etwas kürzer, als die Mehrzahl der einfachen Satztheile, aus denen sich die Sätze der deutschen Rede zusammenfügen, während der Nibelungenvers noch jetzt in Silbenzahl und rhythmischen Fall am besten dem Gang der natürlichen Satztheile in der deutschen Sprache entspricht. [Fußnote von Gustav Freytag]

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