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  Ueber den Antisemitismus. Eine Pfingstbetrachtung. Berlin 1893
[zuerst erschienen in der Wiener "Neuen freien Presse" vom 21. Mai 1893]

Der feierliche Glockenton des Pfingstfestes schallt durch ein Luftmeer, welches mit Sonnenstrahlen und Blüthenduft erfüllt ist. Jetzt klingt und singt, was die Menschen fröhlich macht, die Seelen aus winterlichen Bangen und öder Beschränkung erlöst. Mit tausend Reizen lockt die Pracht der Natur hinaus in die blaue Ferne. Und der eherne Ton der Glocken mahnt, daß das bedrängte Herz der Reise gedenke, denn das hohe Kirchenfest ist nicht durch Zufall zugleich ein Fest des Wonnemonds.

Es war zur Römerzeit, vielleicht in den letzten Lebensjahren des Kaisers Tiberius, da zog eine Anzahl Männer aus den Thoren Jerusalems in die weite Welt. Sie thaten nach dem Gebote ihres Meisters: "Geht in die Welt und lehret alle Völker." Wenn ein germanischer Krieger, den sein Schicksal im römischen Dienste nach dem Osten verschlagen hatte von dem Mauerthurm auf sie hinabsah, so mochte er denken: diese dort haben große gekrümmte Nasen, ihre Beine stehen anders in den Hüften als bei uns hochgegürteten Germanen, und wenn sie die Hände im Eifer regen, spreizen sie die Finger, ärmliche kleine Juden! Aber diese Wanderer haben als Boten der Gotteslehre dem Menschengeschlecht neuen Inhalt, neues Heil, die Bürgschaft einer beglückenden Zukunft gegeben.

Zum Gedächtniß an sie und ihre Ausfahrt begeht in diesen Tagen die gesammte Christenheit eines ihrer heiligsten Kirchenfeste; Millionen knieen um die Altäre und flehen in heißer Sehnsucht, daß die Apostel segnend über ihrem Leben walten. Auch Solche, welche vor den Altären ungerne die Knie beugen, empfinden in Ehrfurcht, daß jene armen Wanderer den Völkern der Erde die edelste Gottesgabe zugetragen haben, als sie die neue Lehre verkündeten: "Liebet eure Feinde, thut wohl denen, die euch beleidigen und verfolgen."

Noch heute leben unter unseren Mitbürgern Viele, die ihr Geschlecht von demselben Volksthum herleiten, aus welchem die Apostel hervorgegangen sind, und die sich zu demselben Gottesglauben bekennen, aus dem das Christenthum heraufgewachsen ist. Aber sie, die jetzt unsere Volksgenossen geworden sind, werden wegen ihrer Herkunft und dem alten Glauben von Anderen verfolgt, die sich rühmen, echte Enkel der alten Germanen zu sein.

Es ist nicht möglich, über solche feindselige Aufregung etwas Neues zu sagen. Denn Fürsten und Staatsmänner, Gelehrte und Gebildete aller Stände haben sie verurtheilt; dennoch sei es gestattet, gerade in diesen Tagen an Vergessenes aus alter Zeit zu erinnern.

Was jetzt mit aufgebauschtem Namen die "antisemitische Bewegung" genannt wird, ist in Wahrheit noch das alte Leiden, die Judenhetze, wie sie seit dem großen Mainzer Morde immer wieder aufgeregt wurde, nur in ihren Aeußerungen durch die Zeitbildung anders geformt. Jene früheren Verfolgungen hatten scharfen Verlauf, die Juden wurden beraubt und erschlagen oder zur Annahme des Christenthums gezwungen; die moderne Verirrung enthält sich, wie in unserer Zeit selbstverständlich ist, Raub und Mord zu empfehlen; dafür ist sie nach anderer Richtung weit grimmiger und unversöhnlicher, denn sie durchsucht bis in irgend welche Vorzeit hinein sogar die Stammbäume der Christen und erklärt auch eine Bekehrung zum Christenthum und die Einordnung getaufter Juden in das christliche Familienleben als Unehre und als einen Makel für die Nachkommen aus solchen gemischten Ehen. Dies Auffassung hält sowohl den Mangel an deutscher Gesinnung als die Neigung zu wucherischen Geldgeschäften für eine untilgbare Eigenthümlichkeit jüdischer Herkunft, welche auch unter ganz veränderten Verhältnissen in den späteren, zum Christenthum bekehrten Generationen fortwirkt.

Solch thörichte Annahme verdient keine Widerlegung.

Der Germanen-Enkel, welcher dergleichen behauptet, erwägt nicht, daß er damit seinen eigenen Vorfahren die schwere Schuld zuschiebt, einen unauslöschlichen Charakterfehler in das jüdische Wesen hineingepeinigt zu haben. Es ist allbekannt, daß die Juden durch mehr als tausend Jahre zwar als Nachkommen der Feinde und Verfolger des Heilands gehaßt und geringgeschätzt, von Ehre und gemeinem Recht ausgeschlossen waren, auf der andern Seite aber vor dem Untergang in der Masse des Volkes durch eine merkwürdige geschäftliche Bevorzugung bewahrt blieben und in einer ganz ungeheuerlichen Stellung dahinlebten.

Aus der römischen Welt war mit dem Christenthume das Verbot, Geld gegen Zinsen und Faustpfand zu leihen, in das deutsche Leben gekommen. Es war in einem geldarmen Lande das unsinnigste aller Gesetze. Dem Manne, welcher "Ehre" hatte, daß heißt dem Deutschen, waren nach kirchlicher und germanischer Anschauung diese Zinsgeschäfte als gottlos und ehrlos verboten, dem Juden, der ohne den Christengott und ohne Ehre lebte, waren sie erlaubt. Nun konnten aber Päpste und Bischöfe, Kaiser und Fürsten, Edle und Bürger das bare Geld durchaus nicht entbehren, und alle diese mußten wünschen, daß Unehrliche vorhanden wären, welche den christlichen Beschränkungen nicht unterworfen waren. Der Jude aber war, so meinte man, in dieser verwünschten Lage,. Er lebte als ein Fremder nach gemeinem Recht rechtlos. Ungenügenden Schutz für Leben und Habe erhielt er nur durch die Gunst des Kaisers und eines mächtigen Herrn, und diese Gunst mußte er erkaufen. Jeder andere Erwerb durch Grundbesitz, Handwerk, ehrlichen Handel war ihm verwehrt, nur in beschränkter Zahl fand er mit seinen Glaubensgenossen Duldung und Wohnrecht in gesonderten Häusern. Waffen zu tragen war ihm verboten. Von den Christen mußte er sich durch die Kleidung und durch Abzeichen an der Tracht unterscheiden, und durch Demuth und Gefügigkeit oder durch Unempfindlichkeit gegen Beleidigungen zu schützen suchen. Dennoch wurde der Verachtete fast nothwendig ein reicher Mann, sein Vorrecht des Geldhandels und des Zinsgeschäftes sammelte unablässig das Werthmetall in seinen geheimen Truhen, denn das Geld war selten, die Geschäfte unsicher, der Zinsfuß hoch.

So lebte er halbverstohlen ein zweigetheiltes Dasein. Alle Wärme des Herzens, die Freude am Besitz, die Liebe zu den Seinen, das Feuer seiner leidenschaftlichen Natur, den Stolz auf sein Wissen und seine geheime Macht mußte er sorgfältig im Innern der verschlossenen Wohnung bergen vor feindseligen Blicken, und trotz aller Vorsicht durchbrach von Zeit zu Zeit der Haß des großen Haufens, die Gier der Begehrlichen die dünnen Schutzwände seines Daseins. Fast jede Aufregung der Massen äußerte sich verderblich gegen ihn und die Seinen. Oft war er wie der Schwamm, den sein Beschützer selbst auspreßte, wenn er ihn vollgesogen meinte. War es ein Wunder, daß sich die Spurten dieser fürchterlichen Einseitigkeit im Erwerbe, einer unablässigen Unsicherheit des Lebens tief in sein Wesen eindrückten? Während tausend Jahren durften die Juden nur durch einen Handel bestehen, der den Christen für unehrlich galt! Dreißig aufeinanderfolgende Geschlechter mußten durch Geldgeschenke und Bestechung sich die Möglichkeit des Lebens immer aufs neue erbetteln. Durch tausend Jahre lernten die Juden die geheimen Verlegenheiten und Gelüste anmaßender Christen kennen und verachten, in dieser ganzen Zeit mußten sie sich winden und krümmen, wenn der Stock gegen sie erhoben wurde oder ein roher Reitersmann auf ihren Bart spie. Alle Fehler und Schwächen, welche man jetzt als spezifisch jüdische Eigenschaft dem Volksthum der Juden zuschreiben möchte, werden durch den tausendjährigen Zwang, in dem der germanisch-christliche Staat des Mittelalters die Juden festhielt, so erklärlich, so selbstverständlich, daß es ein unnöthiges Bemühen ist, dieselben Eigenschaften als altjüdische auszurufen, die dem Volke seit der Urzeit anhalten. Bei dergleichen Schlußfolgen aus sehr ungenügendem Beweismaterial sollte man mehr Vorsicht und weniger Lieblosigkeit anwenden. In den spanischen Territorien wenigstens, wo die Juden neben den Mauren in besserer Stellung lebten, haben sie heldenhaften Muth nicht nur wie bei uns im Leiden erwiesen. Zu aller Zeit aber, auch unter dem ärgsten Drucke, bewährten sie da, wo ihr Geist und Wissen sich frei regen durfte, in den Naturwissenschaften, der Philosophie, Mathematik, Astronomie und Heilkunst eine fördernde Thätigkeit, für welche ihnen unsere Wissenschaft für alle Zeit zu größtem Danke verpflichtet sein wird.

In dieser Unfreiheit haben die Juden an allen großen Wandlungen des deutschen Lebens ihren Antheil gehabt. Im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert kam ihnen der Humanismus, das Eindringen des römischen Rechtes, der Aufschwung des nationalen Lebens zu Gute; der dreißigjährige Krieg aber, welcher zwei Drittel der deutschen Bevölkerung verzehrte und den Rest sehr arm machte, drückte auch die Juden wieder tief hinab. Zwar ihre Ausbreitung in den leeren Dorffluren und halb zerstörten Städten wurde leichter, und ihre Zahl wird erst seit dieser Zeit beträchtlicher, aber ihr Verkehr mit der verkommenen, verwilderten, armseligen Bevölkerung wurde für diese nachtheiliger, für sie selbst stärker an Versuchungen und die hundert Jahre vor 1740 sind wohl die Zeit, in welcher ihr geschäftliches Treiben auf deutschem Boden am fragwürdigsten war; nicht ganz ebenso in Oesterreich.

Wie die Juden sich aber in ihrer unzerstörbaren Volkskraft seit 150 Jahren gehoben und Schritt um Schritt bei jeder Steigerung der Bildung und Humanität mit der deutschen Nation enger verbunden haben, das ist einer der schönsten Erfolge, welche unsere Geschichte zu verzeichnen hat. In dieser Zeit wurden sie allmählich Verbündete, Freunde, Mitarbeiter auf jedem Gebiete unseres realen und idealen Lebens.

Nicht zu zählen sind die Namen der Juden, welche als Gelehrte und Künstler als Denker und als große Geschäftsleute als einfache Bürger durch patriotische Hingabe und menschenfreundliche Thätigkeit zu rühmen sind. Und man darf behaupten, daß jeder Fortschritt, den unsere Gesetzgebung machte, bis ihnen der Vollbesitz bürgerlicher Rechte gesichert wurde, auch die Einverleibung ihres Geistes und Gemüthes in das deutsche Leben vervollständigte. Man vergleiche die Gegenwart mit der nächsten Vergangenheit, in welcher Heine und Börne lebten. Es ist seitdem nur ein Menschenalter vergangen, aber der Unterschied in politischer Sittlichkeit und mannhaftem Patriotismus zwischen jenen starken Talenten und vielen der jetzt lebenden Schriftsteller ist sehr groß.

Es wäre unwahr, zu behaupten, daß in unseren jüdischen Mitbürgern alle Spuren des tausendjährigen Druckes ausgetilgt sind. Auch an Vielen der Besten kann man Eigenheiten in ihren geistigen und gemüthlichen Regsamkeit erkennen: im Scharfsinn, Witz, den Formen, von denen ihre gestaltende Kraft sich äußert; Eigenheiten, welche wir als jüdische zu bezeichnen geneigt sind. Vollends in ihrer Erwerbsthätigkeit sind die Nachwehen alter, arger Zeit nicht völlig überwunden. Noch giebt es deutsche Landschaften, wo die Gewohnheiten des Geldwuchers der Landbevölkerung zum Unheil gereichen und wo zu wenig für Herbeiführung besserer Kreditverhältnisse geschehen ist.

Aber alles, was von Besonderheit, von Schwächen und Schäden aus alter, arger Zeit an vielen Einzelnen hängt, das darf die beglückende Ueberzeugung nicht beirren, wie unermeßlich viel von den alten Leiden überwunden wurde, und wir durften hoffen, daß in wenigen Generationen sich ohne große Störungen die völlige Einverleibung in unser Volksthum vollziehen würde, nicht nur in Amt und Beruf, auch in den Herzen und Familien.

Jetzt erscheint Vielen diese Hoffnung unsicher.

Fast plötzlich ist der Gegensatz zwischen jüdischer und deutscher Art zum Kampfgeschrei und zum Stichworte politischer Aufregung geworden. Zuerst war es die patriotische Beschwerde eines hochsinnigen Mannes von reinem Wollen, dann wurde es Gegenstand gelehrter Auseinandersetzung, darauf bemächtigten sich eifrige Priester des Themas, endlich sank es hinab in den Dunstkreis zorniger und unzufriedener Agitatoren. Das Getöse ist so heftig, daß auch verständige Männer fragen, was daraus werden solle. Es giebt darauf nur eine runde Antwort: Nichts wird daraus. Für den Eifer und den Haß der Feindseligen durchaus nichts.

Auch dem tüchtigsten Volke bleiben Erkrankungen des Gemüths nicht erspart, welche, Fiebern und Phantasien vergleichbar, das Urtheil verstören, leidenschaftlichen Haß aufregen. Solche Krankheiten haben in der Regel einen akuten Verlauf, aber die Nachwirkungen werden nur langsam überwunden. Die antisemitischen Schreier und Ankläger dieser Tage gleichen in vielen Einzelheiten den unholden Gesellen, welche in England zur Zeit Karls II. die Menge bis nahe an den Wahnsinn brachten, Richter und Geschworene in Angst um das eigene Leben versetzten. Damals wurden nicht die Juden, sondern die Katholiken als Feinde der Nation verklagt und durch falsche Zeugen auf das Schaffot gebracht. Die beschränkten und die argen Gesellen, welche jetzt die Wege der englischen Angeber, der Titus Oates und Dangerfield, wandeln, werden in Verachtung vergehen wie diese.

Niemand aber fühlt das Leidige dieses Streites mit so heißem Schmerze als der redliche Jude selbst. Er hat seither friedlich mit dem christlichen Nachbar verkehrt, als Genosse in der Politik, als Freund im geschäftlichen Verkehre und im Hause, als Vertrauter,

vielleicht als Lehrer in wissenschaftlicher Forschung. Er hat in Gesellschaft mit ihm getrunken und gelacht, war geehrter Brautzeuge, wenn sein christlicher Freund die Tochter vermählte, und hat trauernd seinen Kranz auf den Sarg des Christen gelegt, er hat seine Söhne für das Vaterland in den Kampf geschickt und hat sich als guter Deutscher gefühlt in Liebe und Abneigung. Jetzt sieht er entsetzt, daß ein Abgrund geöffnet ist zwischen ihm und seinen christlichen Freunden, und daß immer noch das alte grausige Schicksal der Vorfahren über seinem Leben und der Zukunft seiner Kinder hängt.

Immer hat er in der Stille, ach wie tief, die Schwächen und das geschäftliche Gebahren zurückgebliebener Glaubensgenossen empfunden und das Lächerliche ihrer Anmaßung verurtheilt, wenn sie ein unsicheres Selbstgefühl ungeschickt geltend zu machen suchten. Wenn jetzt die Glocken das hohe Christenfest einläuten zum Gedächtniß der Boten, welche einst die milde Lehre von der Nächstenliebe in eine Welt voll von Selbstsucht und Haß getragen haben, so dringt ihm der eherne Ton als Mißklang in das Ohr. Er hat für die Christen aufgehört, der Nächste zu sein.

Möge er gläubig der hohen Gewalt, welche über ihm wie über uns waltet, vertrauen. Nicht thatenlos, denn auch er soll helfen, daß besser werde, was in seinen Kreisen von starrem Hochmuth und verknöcherter Selbstgefälligkeit zu finden ist. Aber er soll derselben heiligen Lehre von der Liebe vertrauen, welche schon vor fast zweitausend Jahren den Samariter und Juden als Brüder verkündete, die seitdem das Menschengeschlecht aus Völkermord und geistiger Knechtschaft höher und höher heraufhob, um das Dasein aller Staatsgenossen sicherer, tüchtiger und schöner zu gestalten. Diese Botschaft aus Judäa wird auch den Haß zwischen Confessionen und Stammbäumen so überwinden, daß unsere Nachkommen desselben dereinst lächelnd wie einer alten geschichtlichen Sage gedenken.

Pfingsten 1893.

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