Jürgen Matoni

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Interpretation: Friedrich Hölderlin "Hälfte des Lebens."

Da das Gedicht für mich nicht ohne andere Texte Hölderlins verstehbar erscheint, habe ich die notwendigen Gedichte miteinbezogen:

Die "Andenken" Hymne
Brod und Wein
Mnemosyne
Wie wenn am Feiertage ...


Die Texte der Gedichte und die Interpretation könnt ihr hier herunterladen:
Die Texte liegen als "ZIP" - Datei vor

Schillers Text "Über naive und sentimentalische Dichtung findet Ihr bei Reclam.
Den Teil daraus über die "Idylle" könnt ihr hier herunterladen:

Die angesprochene Interpretation von Jochen Schmidt, findet Ihr auf der Lyrik - CD Nr. 2 bei Reclam

Die 'Ars poetica' von Horaz liegt ebenfalls bei Reclam vor.


Auf den ersten Blick können wir das Gedicht "Hälfte des Lebens" fast nur mit einem Kommentar "erklären". Schon der Titel scheint das ganze Gedicht zu deuten - ein "memento mori", das sich bei der Sichtung des Gedichtes zu bestätigen scheint.
Ein Mensch, der sich der Vergänglichkeit des Lebens bewußt wird, dargestellt anhand der Jahreszeiten. Eine Klage zumal, ausgedrückt in dem "Weh" der zweiten Strophe. Es ist eine Sommerlandschaft, die idyllischer nicht dargestellt werden könnte. Ein "locus Amoenus", mit Früchten, Blumen, See und Tieren. Ein Winterbild wird diesem knapp und eindringlich gegenübergestellt. Die Blumen werden vergangen sein, der Sonnenschein desgleichen. Alles erscheint kalt und tot, eindringlich in dem Bild der klirrenden Fahnen dargestellt.
Das Gedicht ist "antithetisch" aufgebaut. Die beiden "Hälften" des Jahres stehen sich als "Hälften des Lebens" gegenüber.

Sommerliche Erfüllung mit reifen (gelben) Birnen, und blühenden Rosen, korrespondiert mit der winterlichen Erstarrung.

  1. Wo in der ersten Strophe die Harmonie und das Verbindende dominiert, ist es in der zweiten die Disharmonie (klirren) und das Trennende (Mauern)
  2. In der ersten Strophe Leben und Bewegung (Blüten, Früchte, Schwäne und Wasser)
  3. in der zweiten Bewegungslosigkeit und Totes (Mauern klirrende Fahnen)
  4. In beiden Strophen taucht das lyrische Ich auf. In der ersten mit einem emphatischen Anruf, in der zweiten mit einer Klage.

Das lyrische Ich empfindet diese Änderung so stark, daß es nicht nur dem Sonnenschein nachtrauert, sondern sogar noch dem Schatten, den es natürlich nur geben kann, wenn es Licht gibt (auf den Sommer bezogen ist auch der Schatten noch positiv zu sehen).
Mit diesem Befund könnte das Gedicht als Klage eines Menschen am Ende seines Lebens gesehen werden. Der Sommer stellt die Höhe der Jahre, der Winter der "Lebensabend" von dem aus der Mensch auf sein Leben zurückblickt.

Doch dieser erste Blick kann nicht alles fassen. Das Bild des Sommers ist nicht so 'normal', wie es scheint. Warum sind es gerade 'wilde Rosen'. Das das Land 'in den See hängt', mag noch als stark poetisierende Sprache angesehen werden. Aber der Anruf an die 'holden Schwäne' verdrängt uns aus der Sicherheit der 'einfachen' Bildlichkeit.

Romantische Literatur ist häufig auch gleichzeitig romantische Literaturtheorie und - Philosophie, oder verweist auf sie und bezieht sie mit ein. Aus diesem Grund kann der Schwan nicht einfach "hold" bleiben und das "heilignüchterne Wasser" muß erklärt werden.

Um dies zu leisten, müssen wir die Tugend der Interpretation, jeden Text zuerst in seinem Eigenwert zu sehen und dabei auch den Autor außer acht zu lassen, vorübergehend außer Kraft setzen.

Wir können uns bei Gedichten aus der Romantik kaum darauf verlassen, daß wir alle Begriffe und Bilder in Lexika unserer Zeit finden werden. Wir müssen uns fragen, was kann der Autor zu seiner Zeit gewußt haben, aus welchen Quellen hat er sein Bildmaterial, nach welchen Strukturen sind seine Metaphern gebildet?
Wir müssen uns auf die Suche nach Topoi machen, die Hölderlin in seinem Gedicht verwendet hat.
Eine ganz hervorragende Hilfe ist in dieser Beziehung das Werk von Arthur Henkel und Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. Und 17. Jahrhunderts. Stuttgart und Weimar 1967.

Weiter werden wir den traditionellen Topoi und Strukturen auch in anderen Texten Hölderlins begegnen, ohne einer "Parallelstellentheorie" das Wort reden zu wollen

Als erstes Erkennen wir in den Entgegensetzungen und den scheinbaren Widersprüchlichkeiten die Idee der "Idylle", die vom Ausgleich der Gegensätze lebt und Harmonie erstrebt. Diese Harmonie finden wir in der ersten Strophe, die in der zweiten verlorengegangen ist; und das lyrische Ich sucht nach dieser verlorenen Harmonie, die sich besonders im Ausgleich von Licht und Schatten dokumentiert.
Wir finden diesen 'Ausgleich' auch in anderen Texten Hölderlins, z. B. in der Hymne "Mnemosyne":

[...] Sonnenschein
Am Boden sehen wir und trockenen Staub
Und heimatlich die Schatten der Wälder und es blühet
An Dächern der Rauch, bei alter Krone
Der Türme, friedsam
[...]


Ob dieser Ausgleich direkt philosophisch mit der "coincidentia oppositorum" des Nikolaus von Kues in Verbindung gebracht werden muß, wie es J. Schmidt tut, mag dahingestellt bleiben. Festzuhalten jedoch ist, daß das Entgegengesetzte erst zusammen als Ganzes gesehen werden kann. Schmidt verweist darauf, daß das "Einigentgegengesetzte" von Hölderlin in seinen theoretischen Schriften in diesem Sinne verwendet wurde.
Schiller wendet sich in "Naive und Sentimentalische Dichtung", in seinem Idyllenteil gegen die "Überspannung" und deren Gegenteil der "Schlaffheit". Er bestimmt aber den Dichter mit einem gewissen Maß an "Exaltiertheit", der aber trotzdem "nüchtern genug bleiben" muß. An dieser Stelle haben wir wenigstens den Begriff "nüchtern" auf Dichtung und Dichter angewendet.
Wenn auch Schmidt in der Nachfolge von Strauss das "gelbe" der Birnen, das "wilde" der Rosen und das "holde" der Schwäne als "schmückende Beiwörter" erklärt, ist das wohl richtig und, in bezug auf die Idylle, auch erklärlich. Doch muß der gedankliche Wert der Wörter in die Überlegungen auch miteinbezogen werden. Das "gelbe" der Birnen kann als Zeichen für die Reife der Frucht gesehen werden. Das ist für den Menschen jedoch nur interessant, wenn diese Früchte in bezug auf den Menschen gesehen werden. Dann stellt sich aber die Frage, warum es gerade "wilde" Rosen sind, was wohl heißen soll, daß wir nicht in einem von Menschen gepflegten Gebiet sind? Dann wird das Bild der "gelben" Birnen etwas ungenau. Nehmen wir aber die Birnen als Nahrungsmittel, die Rosen als Gefühlswert - Rosen z. B. als Sinnbild der Liebe, dann wird das vorgestellte Bild leichter verständlich. Dann kann es sich bei dem 'Rosenbild' um natürliche Gefühle handeln, um Gefühle etwa, die noch nicht vom Verstand domestiziert wurden.

Wenn in der ersten Strophe das lyrische Ich noch verbunden ist mit dem dargestellten Bild, so hat es jeden Bezug in der zweiten Strophe verloren - es kann nur noch den Verlust beklagen, ohne einen Bezug zu dem zweiten Bild zu finden. Es ist also eher ein "Sommer - Ich", gehört also dem Leben an. Der Begriff "heilignüchtern" wird auch nicht so ohne weiteres recht deutlich. Nehmen wir aber Hölderlins "Deutscher Gesang" hinzu, dann finden wir das Bild des Dichters wieder, der erst singt, wenn er "des heiligen nüchternen Wassers genug getrunken" hat. Das führt uns über Schiller zur klassischen Dichtungstheorie und der "nüchternen Trunkenheit" ('sobria ebrietas'), das heißt, der Dichter ist erst Dichter in der Verbindung von Klarheit und Begeisterung. Erst der Ausgleich macht den Dichter, nicht nur die Begeisterung, sondern das Maß. Das "heilignüchtern" kann in diesem Falle noch als Steigerung gelten, denn einer der ersten Sänger (Dichter) war Orpheus, von dem Horaz sagt: "... der heilige Orpheus, das Sprachrohr der Götter..." (Horaz: De Arte Poetica)

In diesem Zusammenhang gesehen, kann uns der Anruf an die Schwäne kaum noch befremden. Denn der Schwan ist Emblem des Dichters:

Orpheus war mächtig durch seine Leier, und immer war ihm der süß singende Schwan heilig. (Emblemata Sp. 1610)

Und der "Schwan auf dem Wasser" ist als Zeichen der Reinheit des Dichters zu sehen:

Seid gegrüßt, ihr Dichter, ihr Lieblinge des göttlichen Geistes, seid gegrüßt, ihr Herzen reiner als Schnee. (Emblemata, Sp. 817)

Bis zu Baudelaires "Le Cygne" möchte Schmidt diese "Tradition des Schwanensymbols" für Dichter verfolgen, was sicherlich leicht auf Widerspruch stoßen kann. Wir bleiben noch bei dem, was Hölderlin gekannt haben konnte:

Der weiße Schwan singt [erst] im höchsten Alter. Dies Bild zeigt, wie Menschen in ihn verwandelt werden. Denn die Schwäne sind berühmt wegen ihrer weißen Farbe und wegen ihres süßen Gesanges, die Greise wegen ihrer Tugend und Beredsamkeit. Süß ist alter Wein: süß ist die Rede eines Greises - um so viel süßer als der Wein, wie sie weiser ist. Auch der pylische Greis (Nestor), von dessen Zunge die Rede süßer als Honig floß, sang wie ein Schwan. (Emblemata, Sp. 1626.)

Wir sehen das lyrische Ich als dem Dichter (Schwan) in der ersten Strophe gegenüberstehend. In der zweiten bedauert er das Vergehen des Sommers. Aber seine Klage zielt eben nicht nur auf das Vergehen der Zeit an sich.
Wir haben für die erste Strophe eine Abfolge der Bilder von den reifen Birnen als Zeichen der Grundbedürfnisse (Nahrungsmittel) hin zum Bild der natürlichen Gefühle (wilde Rosen) gefunden, die mit dem Land ins Wasser ragen. Dieses Wasser ist das Element des Schwans. Es ist das 'heilignüchterne' Wasser, in das der Schwan sein Haupt 'tunkt'. Wenn der Schwan aber das Bild des Dichters ist, dann ist der See, das Wasser, das Element aus dem die Dichtung entsteht.
Sehen wir aber das Landschaftsbild der ersten Strophe auch als Bild des Reifens und der Vollendung, dann stellt es in der Tradition Schillers den Dichter dar, der aus dem Leben seine Dichtung schöpft.
Mit dieser Folge wird die zweite Strophe - in der das lyrische Ich das Vergehen des Sommers nicht nur beklagt, sondern darauf verweist, daß es nun selbst es ist, dem diese Lebensbilder fehlen - diese Bilder aber Dichtung sind - dann ist in der zweiten Strophe das lyrische Ich selbst Dichter, von Mauern umgeben, die sprachlos sind, der also seine dichterische Sprache nicht mehr aus dem Leben selbst schöpfen kann, sondern nur noch aus dem "Klirren" der Fahnen.
Sollte dieser Befund eingängig sein, so muß das Klirren der Fahne ebenfalls mehr als ein Bild des Winters sein.
Bleiben wir in der Emblematik, dann verweisen Fahnen auf "Taten der Vorfahren", die zur Nachahmung auffordern:

Also der Vorältern ehrliche und rühmliche tahten/ reichen den nachkömlingen nur zur schmach/ und zur schande, wan sie solchen nit nachähmen. (Emblemata, Sp. 1486.)

Die Fahnen gemahnen also den Dichter - denn nur diese sprechen (klirren) - nicht müßig zu sein, es den vollendeten Vorgängern nachzutun, weiter zu dichten. Dieses "Klirren" kann aber noch auf ein Weiteres verweisen, denn eigentlich ist "klirren" kein 'passendes' Wort für Fahnen. Ersetzen wir die "Fahnen" aber durch 'Wetterfahnen', dann wird das Bild wieder stimmig, denn diese sind zumeist aus Metall. Und in der Emblematik finden wir die Wetterfahne als Zeichen der "Beständigkeit und Beweglichkeit". Das ist wieder die "coincidentia Oppositorum" - Beharren und Fortschreiten. In die dichterische Theorie Übertragen - sich an dem Bestehenden in der Dichtung orientieren, aber das Neue mit aufnehmen oder, wie Horaz es ausdrückt:

Wieso aber wird der Römer Caecilius und Plautus gestatten, was er Varius und Vergil verbietet? Warum werde ich kritisiert, wenn ich ein wenig hinzuzuerwerben vermag, wo doch die Sprache des Cato und Ennius unsere Muttersprache reicher gemacht? (Horaz)

Horaz mit seiner "Ars poetica" (Dichtkunst) kann als Vorbild für Hölderlin und Beispiel gelten, denn sie ist eine poetisch gefaßte Theorie, deren Form sich bisher genauso erfolgreich einer Systematisierung entzogen hat, wie die poetische 'Dichtungstheorie' Hölderlins. Und um weiterhin der Emblematik treu zu bleiben:

In wesentlichen und notwendigen Angelegenheiten muß der Mensch standhaft sein und nicht so schwankend, daß ihn der herrschende Wind umweht: er stehe vielmehr fest wie ein Fels. Doch bei geringeren Dingen kann er nachgiebig und aus gutem Grunde beweglich sein. Es ist kein Widerspruch, wenn auf festem Turm die Wetterfahne mit allen Winden sich dreht (Emblemata Sp. 1486.)

Folgen wir diesen Befunden, dann brauchen wir nicht die Sprachlosigkeit des Dichters, oder wie es Schmidt ausdrückt: "Das Versagen der Sprache signalisiert das Ende des Dichtertums" zu bemühen. Diese Sprachlosigkeit des Dichters wie sie sehr beredt Hugo v. Hofmannsthal in seinem "Chandos - Brief" vorgestellt hat, ist nicht das Problem des Gedichtes Hölderlins.
In diesem Gedicht wird eher thematisiert, daß die Dichtung eine Entwicklung durchgemacht hat. Einmal in der Zeit selbst, dargestellt durch die Abfolge der Jahreszeiten, zum anderen, dargestellt durch die Bilder 'Birnen - Rosen - Schwäne', als Abfolge aus dem "normalen" Leben über die "Gefühlsebene" in die dichterische Gestaltung.
Nun steht der Dichter - das lyrische Ich - auf der Höhe der Zeit und auf der Höhe der dichterischen Gestaltung und kann nicht mehr aus dem "normalen" Leben schöpfen. Er muß, auf den Schultern der Dichter stehend, neu gestalten um das Leben in der Dichtung wiederzugewinnen.

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© Jürgen Matoni
Januar 1999