Nacht

(Joseph Freiherr von Eichendorff)

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Der Zyklus 'Nacht' besteht aus vier Teilen und ist in unterschiedlichen Kontexten erschienen. Danach erst in einer Gedichtausgabe zusammengestellt und so im Nachhinein in einen Zusammenhang gebracht, der durch die Zählung unterstrichen wird.

Dieses Faktum erlaubt uns die Texte versuchsweise zusammen zu interpretieren. Dabei dürfen wir aber ihre eigentliche Eigenständigkeit nicht aus den Augen verlieren. Hinzukommt, daß, wenn einzelne Nacht – Gedichte in anderen Texten – in diesem Falle Novellen – auftauchen, müssen wir auch diese Abhängigkeit beachten. Entweder um ihre Gebundenheit an den Prosatext aufzuzeigen, oder ihre Unabhängigkeit festzustellen. Wichtig, oder besser bedeutsam erscheint der Titel des Zyklus, weil er das Thema, eben 'Nacht' nennt und so den Zugriff auf die Texte leiten kann.

Ob dies sinnvoll ist, kann nur die Interpretation erweisen, denn das Thema behauptet eine Ähnlichkeit oder mindestens Verbindung, die es entweder aufzuzeigen gilt – oder abzulehnen ist.

In vielen Gedichten kommt bei Eichendorff die Nacht vor, was einige Interpreten dazu brachte, diesen Begriff 'Nacht' zu einem Topos bei Eichendorff zu erklären. Etwa so, wie die Farbe 'blau' bei Benn eine eigene Bedeutung erhält, sollte die 'Nacht' dies bei Eichendorff übernehmen. Dies häufig (was zu erwarten war) romantisch und auch positiv in Verbindung mit Sehnsucht und Liebe.

Wir haben an dieser Stelle das häufige Syndrom der einsinnigen Zuweisung – das 'Glätten' und 'einfach Gestalten' eines Dichters.

Aber schon bei einer oberflächlichen Durchsicht der vier Texte des Zyklus, gerät diese Zuweisung in Schwierigkeiten. Um zu einer Theorie der 'Parallelstellen' (gleicher Begriff, gleiche oder zumindest ähnliche Bedeutung in unterschiedlichen Texten) beizutragen, eignen sich diese Texte sicher nicht, obwohl dies versucht wurde. Die Gründe für diese Versuche sind einfach. Erstens ist Eichendorff Romantiker, zweitens er viele Naturbilder, drittens sind Gedichte von ihm häufig im 'Liedton', schärfer noch, im 'Volksliedton' gehalten, man denke nur an den "Taugenichts" mit seinem Lied "Wem Gott will rechte Gunst erweisen...".

Dieser Deutungsrahmen mag bei einigen Texten Eichendorffs fruchtbar sein, reduziert den Dichter - und mit ihm seine Texte - in unzulässiger Weise.

Sehen wir uns den ersten Text an, dann wird der oben angedeutete Befund bestätigt. Vöglein, Pracht, Liebe - ein romantisches Bild, das eindeutiger kaum sein könnt, sehr positiv und romantisch.

Im zweiten Text wird der Topos schon ambivalenter zu sehen sein. Nicht vor die Tür gehen, ist angesagt, denn 'die Nacht hat eignen Sang', was auf keine verheißungsvolle Nacht schließen läßt. Auch das Posthorn, sonst auch häufig positives Requisit bei Eichendorff hört sich nicht sehr gut an, es ist eher lügnerisch und sogar 'irre'. Der Wald ist auch nicht mehr der Sehnsucht wert, er ist nur noch ein endloses Labyrinth.

Da bleibt die Frage offen, vor was soll Gott das schöne Kind bewahren? Denn Gefahr herrscht doch wohl nur im Draußen, also wenn es das Haus verläßt.

Der dritte Text erzählt aus zweiter Hand. Der, der draußen in der Nacht ist, von dem wird erzählt. Ob es nur einer ist, von dem erzählt wird, ist nicht so ganz einzugrenzen, denn der 'Schatz liegt am Feuer auf der Wacht' und der Reiter soll sich hüten, oder ist der Reiter derjenige, der auf der Wacht liegt?

Die Nacht ist auch in diesem Text nicht eindeutig positiv zu sehen, wenn sich auch der Reiter eher vor dem Morgen hüten soll, wie es die bellenden Hunde ersehen lassen, 'wenn der Mondschein erblich', was wohl auf den nahenden Morgen deuten soll. Aber auch der Schatz auf der Wache bräuchte wohl nicht zu wachen, wenn keine Gefahr drohte.

Text Nummer vier ist wohl der kryptischste unter den Nachtgedichten. Denn hier rauscht nicht der Wald, das Waldhorn ruft nicht. Es sind die "Gründe", die rufen. Zwar scheint alles mehr ein Traum zu sein, doch entgegen Text Nummer zwei, soll jetzt tatsächlich in die Nacht getreten werden. Auch ist der Wald dem Garten gewichen und die Nacht mischt sich auch ein, aber kein Hinweis auf Betrug oder Gefahr, sondern "Wunder", so daß wir bei dieser ersten Sichtung die Nacht positiv nehmen können.

Aus dieser ersten Sichtung ergibt sich leicht, daß "Nacht" nicht als Parallelstelle genommen werden kann, daß der jeweilige Kontext der Gedichte jeweils andere Deutungsansätze verlangt.

Es müssen aber keine absoluten Gleichheiten der Nacht vorhanden sein, um den Zyklus als Zusammenhang sehen zu können, ihn als eins zu nehmen. Verbindungen können vorhanden sein, eine Entwicklung sich ergeben. Jedoch durch den Begriff "Nacht" läßt sich diese Verbindung wohl nicht alleine darstellen.

Überprüfen wir das Thema, abgesehen von der "Nacht", kommen wir auch zu ziemlich divergierenden Ergebnissen. Bei Eins ist es ein leichter Reigen, der in eine Liebesnacht zu münden scheint - ohne definitives Personal. Bei Zwei haben wir eine diffuse Warnung, vor Nacht und Wald, wohl an ein Mädchen gerichtet ("schönes Kind"). Bei Drei ist diese Warnung explizit, obwohl doch nicht klar wird wovor. Es ist aber wohl nicht die Nacht, die hier die Gefährdung darstellt. Man denkt vielleicht an Krieg, wenn man positiv denkt, besonders auch der (sehr wahrscheinlich die) Gedenkende, fragt sich über das Ergehen ihres Schatzes in der Ferne und bei Nacht. Und bei Reiter kann wohl in diesem Zusammenhang Soldat mitgedacht werden.

Ob die Gefahr in der Nacht herrscht, was durch die Wache am Feuer nahegelegt wird, oder eher des Morgens, was durch den 'erbleichenden Mond' mitgemeint sein kann, wird nicht leicht einsichtig. Thema scheint aber die Gefährdung des Geliebten in der Ferne zu sein.

Bei Vier ist keine Gefährdung auszumachen, aber eine überschwengliches Preisen der Nacht, wie in Eins, ist auch nicht festzustellen. Auch wird das Ensemble einerseits deutlicher aber auch andererseits undeutlicher. Es handelt sich um ein Schloß, vielleicht Spätabends, aber vor, nach oder im Traum ist nicht ausgemacht. Eine Gefährdung wird jedoch eigentlich ausgeschlossen, da der Wald der in Zwei und Drei noch Gefahr signalisieren konnte, domestiziert als Garten erscheint. Die Nacht selbst 'rauscht' nur noch 'sacht' und nicht wie in Drei ein Bild der Gefahr evoziert, sondern eher von Wundern raunt.

Als Zyklus scheint also die Verbindung nach Topos und Thema eher schwach zu sein. Eine genetische Entwicklung müßte auch ziemlich gezwungen konstruiert werden. Wir werden also eher eine Verwandtschaft nur insoweit feststellen können, als in allen vier Texten die 'Nacht' eine je andere Rolle spielt.

Wir wissen nicht, was sich Eichendorff oder sein Verleger bei dieser Zusammenstellung gedacht haben, können diese Frage auch aus diesem Grunde vernachlässigen. Der andere Grund ergibt sich daraus, daß wir uns grundsätzlich auf die Texte selbst beschränken wollen.

Unser erster Zugriff auf den Zyklus (Wir lassen es bei dieser Benennung.) hat uns schon jeweils den Topos in seiner unterschiedlichen Färbung und das jeweilige Thema gegeben. Auch den Begriff 'Topos' für 'Nacht' lassen wir erst so stehen, obwohl die Differenzen in bezug auf "Nacht" diesen Begriff eher nicht nahelegen. Um nun mehr mit den Teilen anfangen zu können, wollen wir sie jetzt versuchsweise als eigenständige Gedichte auffassen.

Wir beginnen wieder mit Eins und halten uns an das schon aufgefundenen Thema, einem fröhlichen Reigen des Tages, der in eine Liebesnacht mündet. Jedoch ist dieses Bild eigentlich brüchig, denn obwohl alles fröhlich zu sein scheint, ist es doch vorbei. Können wir es noch positiv sehen, wenn die Vögel nicht mehr singen? Als Naturbild ist dies eingängig; Vögel gehen abends schlafen. Auch daß der "Blumen bunte Pracht" 'untergegangen' ist, kann daran liegen, daß man in der Dunkelheit diese Pracht nicht mehr sehen kann, oder auch, etwas Biologie vorausgesetzt, daß sich Blüten zur Nacht hin wieder schließen können.

Jedoch muß uns eins stutzig machen. Nicht irgendeine Erfüllung ist in Sicht, sondern die Fortsetzung dieses heiteren, prächtigen Tages mündet in ein Verlangen, das im Text nicht in Erfüllung geht. So steht dieses Naturbild des Tages gegen eine unerfüllte Sehnsucht. Der Tag als nichts verlangend, einfach seiend, gegen die Nacht in der der Wunsch nach Liebe nicht - oder noch nicht - in Erfüllung geht. Sehen wir nun dieses Naturbild als ein vergangenes und untergegangenes, dann bleibt für das Ende, für die Nacht nur die Nichterfüllung.

Somit wäre auf dieser Ebene der 'Nacht' die Sehnsucht der Liebe und deren Unerfülltheit gegen eine erfüllte Natur zuzuschreiben.

Bei Zwei wird eine Warnung vor der 'Nacht' ausgesprochen, die in die Irre leiten kann, die Natur als Wald ist gefährlich durch die Unbegrenztheit und ihre Ziellosigkeit (Labyrinth). Die Geliebte soll sich dieser Natur nicht aussetzen

Bei Drei verbindet die Nacht die beiden Liebenden. Sie denkt an ihn und welchen Gefahren er ausgesetzt ist, die aber durch die 'Wache am Feuer' und den 'Reiter' nicht unspezifisch allein auf Täuschung und Natur abzielt, sondern eher auf eine reale Gefahr durch Gegner.

Wir können jetzt eine erstes Fazit ziehen. Zwei und Drei können im Zusammenhang als Spiegelbild aufgefaßt werden. In Zwei denkt der Geliebte an die Geliebte und den Gefahren, denen sie ausgesetzt ist. In Drei denkt die Geliebte an den Geliebten und an die Gefahren, denen er ausgesetzt ist.

In Vier finden wir den Menschen der Natur entgegengesetzt. Kein Waldhorn ruft, keine Gefahr durch andere Menschen ist zu finden. Die Natur selbst ist als gezähmt. Kein labyrinthischer Wald, sondern domestizierte Natur, ein Garten, erwartet den Menschen. Auch ist die Nacht nicht irgendwie etwas Beendendes, sondern etwas Verheißendes und Verheißungsvolles ("will dir Wunder sagen").

Wie schon Zwei und Drei als komplementär anzusehen sind, so sind auch Eins und Vier miteinander verbunden. Steht in Eins das Naturbild der noch unerfüllten Liebe entgegen, ist die Nacht also nicht die Erfüllung, stellt noch nicht die Erfüllung in Aussicht, so ist in Vier die Verheißung nicht zu übersehen.

Jedoch ist in Vier das Naturbild nicht vorrangig, sondern metaphorisch bestimmt. Die Nachtigall als Vogel der in der Nacht singt (Romeo und Julia "es war die Nachtigall und nicht die Lerche ..."; Es kann an dieser Stelle ruhig auch auf das Gedicht Nachtigall von Eichendorff selbst verwiesen werden, dies nicht als Parallelstelle, sondern als Beleg dafür, daß die Nachtigall als Nachtsänger gesehen wird). Die domestizierte und somit ungefährliche Natur als Garten. Auch der Standpunkt des Menschen wird deutlicher. Es ist im Gegensatz zu Eins eine Ortsbestimmung vorhanden, aber nicht wie in Zwei und Drei ziemlich unbestimmt "Tür" und "Ferne", sondern sehr präzise "des Schlosses Stufen". Der Domestizierung der Natur durch Garten gegen Wald geht eine Erhöhung des menschlichen Standortes einher. Einerseits gehen die Stufen "nieder", der Nacht, dem Garten, der Natur entgegen, andererseits wird wohl ein Schloßbewohner und kein einfacher Mensch gemeint sein. Bei einer Bauernmagd oder einem Knecht zum Beispiel (Auch wenn dies durchaus möglich erscheint), wäre die Benennung 'Schloß' ziemlich willkürlich.

Es gibt auch keine Warnung vor irgendeiner Gefahr. Es gibt nur eine Aufforderung. Diese Aufforderung wird durch eine Frage eingeleitet "hörst du...". Dies aber wird erläutert mit einem eigenwilligen Wort: "In Träumen halb verwacht?" Es ist nicht ein einmaliger Ruf, sondern in mehreren Träumen wird gerufen. Aber dieses "verwacht" kann stutzig machen. Bedeutet es halb erwacht aus den Träumen? Heißt es, daß diese Träume den Schlaf verhindern? Die Bedeutung bleibt ambivalent, was aber nicht heißt, daß diese Mehr- oder Vieldeutigkeit unbestimmt wäre. Diese Mehrdeutigkeit korrespondiert mit der Unbestimmtheit der "Wunder", die auch nicht näher bestimmt werden. Nur eins ist eindeutig: Diese Unbestimmtheiten sind positiv besetzt und korrespondieren wiederum mit der Unbestimmtheit des einzuschlagenden Weges. Denn was ist das für eine Ortsbezeichnung "... nieder in die Nacht!" Sind die "Gründe", die ja wohl auch Tiefe andeuten, das Ziel? Wenn, dann sind die "Gründe" metaphorische Gründe und die Nacht ist eine metaphorische Nacht. Dann wird dieses Eingehen in die Nacht wohl ein sich ausliefern an die Nacht - an die Natur sein, in der sich die Wunder offenbaren werden, die in den Träumen schon vorhanden, die schon geträumt sind.


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© Jürgen Matoni
Stand: November 1998