August Stramm: Untreu


Bei Stramm finden wir Neologismen, die an Celan erinnern. Häufig sind sie nicht weit von der allgemeinen Semantik entfernt, so daß eine Assoziationskette die Ambivalenz aufzeigen und den Bedeutungsrahmen abstecken kann.

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An dieser Stelle angesprochene Probleme der Interpretation:

Neologismen
Personifikation
Ambivalenz/Ambiguität
Eindeutiges lyrisches Ich
Eindeutiges Gegenüber
Sichtweise eher männlich

Neologismen: Laubwelk, versargt, glutverbissen

Bildersprache mit Körperausdruck 'bröckeln nach die Hände'

- der Kleidsaum 'buhlt' - Personifikation

Gefühlsäußerung ändert ihren Stellenwert im Wechsel der Personen.

Lächeln (positiv) weint bei ihm, wenn es ankommt (in meiner Brust)

- sie lächelt, wenn wir von Mann - Frau ausgehen, für ihn ist dieses Lächeln nicht mehr positiv.

Versuch: Sie lächelt ihn an und er ist wegen dieses Lächeln traurig, wegen dem, was hinter dem Lächeln steht.

Zeile 2

In der zweiten Zeile ist auf den ersten Blick nicht klar, wessen Lippen gemeint sind.

Deutung des Neologismus 'glutverbissen':

Durch (Liebes)glut, heiße Gefühle (ver)eisen, da das Gefühl, (Glut) ins negative umschlägt

Das Korrespondiert mit unserer Mann - Frau- Annahme. Die Lippen in unserem Szenario können also die der Frau sein.

Zeile 3

'Im Atem wittert Laubwelk'

ist doppeldeutig 'zittert', da Laub kaum wittern kann (Personifikation), aber das Laub könnte im Atem zittern. Da wittern (riechen bei Tieren) mit erkennen korrespondiert, und 'laubwelk' (welkes Laub) mit Ende, (Tod?) korrespondiert, ist wohl im Atem (Zeichen des Lebens) das Ende schon gegeben.

Deutung: In der Lebensäußerung (Atem) ist schon die Ahnung des Endes zu erkennen.

Zeile 4

'Dein Blick versargt'

Mehrdeutigkeit des Bergriffes 'versargt': 1, jemandem etwas versagen, es nicht gestatten, oder 2, jemand versagt, 3, einsargen, etwas begraben.

Dies Ambivalenz muß erst durchgehalten werden und mit den zwei nächsten Zeilen zusammengesehen werden.

Blick kann töten, kann aber nicht versagen, aber das kann die Stimme, aber um im Bilde des Sarges zu bleiben: der Blick tötet und die Worte vergraben, oder begraben schnell: 'hastet polternd Worte drauf', evoziert das Bild eines Sarges im Grab, auf den Erde geworfen wird.

Dieses Ergebnis korrespondiert mit den Ergebnissen von Lächeln, Lippen und Atem.

Einbruch oder Pause durch 'Vergessen', nicht wie das 'und' der fünften Zeile, eher eine Zäsur.

Etwas beerdigen impliziert beenden und auch vielleicht erinnern – endgültiges beenden ist vergessen.

Die Hände bleiben im Bild des Beerdigens, sie 'bröckeln nach', wie Erde am Rande der Grube.

Da aber Hände eher selten 'bröckeln', kann eine Fortführung der Ambivalenzen der Körpersprache des Gedichtes sein (Lächeln, verkniffene Lippen, Atem und Blick). Dann ist dieses 'Nachbröckeln' der Hände die Gestik, die das Ende noch unterstreicht.

Nach diesen Einschnitten und Verbindungen durch 'Und' und 'Vergessen', kommt das 'Frei', das nach dem Vergessen einen neuen Anfang andeutet.

Dieser neue Anfang ist jedoch nicht positiv besetzt, denn er wird mit 'buhlt' in Verbindung gesetzt. Buhlen ist eigentlich im heutigen Sprachgebrauch der negative Ausdruck des sich um jemanden bemühen.

Dieses Buhlen wird mit Weiblichkeit verbunden 'Kleidsaum' und mit Leichtigkeit 'schlenkrig', so daß dieses Vergessen eine Richtung erhält.

Denn über das Beenden und Vergessen geht dieses negative 'werben' (buhlen) mit Leichtigkeit hinweg, so daß dieses antizipierte Werben auf einen Neuanfang, aus der Sicht des lyrischen Ichs wohl mit jemand Anderem, hindeutet.


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© Jürgen Matoni
Stand: November 1998