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Johann Christian Günther


An seine Schöne (1714)

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S
o wenig eine junge Rebe
Des Ulmbaums Hilfe missen kann,
So wenig ficht der Neid mich an,
Daß meine Brust dir Abschied gebe.
Mein treues Herz ist ein Magnet,
Der nur nach einem Pole steht,
Dein Nordstern leitet meine Liebe;
Ich leb und sterbe dir getreu,
Wenngleich der Schickung Tyrannei
Mich heute noch ins Elend triebe.

Eröffne mir das Feld der Brüste,
Entschleuß die wollustschwangre Schoß,
Gib mir die schönen Lenden bloß,
Bis sich des Monden Neid entrüste!
Die Nacht ist unsrer Lust bequem,
Die Sterne schimmern angenehm
Und buhlen uns nur zum Exempel;
Drum gibt mir der Verliebten Kost,
Ich schenke dir der Wollust Most
Zum Opfer in der Keuschheit Tempel.

Die Zeit kommt nimmermehr zurücke,
Wenn sie schon einmal sich verkreucht
Und die Gelegenheit entweicht
In einem kurzen Augenblicke.
Wer weiß, wer dich in einer Frist
Von vierundzwanzig Wochen küßt.
Wie bald kann mich ein Stahl entleiben,
Dann wird dein angenehmer Mund,
Der meiner Sehnsucht offenstund,
Mit andren sich die Zeit vertreiben.

Jedoch, soll mich der Tod entreißen,
Du aber meine Leiche sehn,
So soll mir doch der Wunsch geschehn,
Dir in der Gruft getreu zu heißen;
Mein Blut soll dir beständig sein,
Und meines Körpers Leichenstein
Wird diese Grabschrift nie verlieren:
Hier schläft, mein Kind, dein ander Ich,
Dem wenig, glaub es sicherlich,
Den Preis der Redlichkeit entführen.

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