Gustav FreytagDie Technik des Dramas
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Kapitel 21. Spiel und Gegenspiel.Das Drama stellt in einer Handlung durch Charaktere, vermittelst Wort, Stimme, Gebärde diejenigen Seelenvorgänge dar, welche der Mensch vom Aufleuchten eines Eindrucks bis zu leidenschaftlichem Begehren und zur Tat durchmacht, sowie die inneren Bewegungen, welche durch eigene und fremde Tat aufgeregt werden.
Dieser Bau benutzt die Gegenspieler, um die starke Bewegung der Hauptspieler zu motivieren; das Verhältnis der Hauptfiguren zu der Idee des Dramas ist ein durchaus anderes, sie treiben in der aufsteigenden Handlung nicht, sondern werden getrieben. Beispiele für diese Art des Baues sind König Oedipus, Othello, Lear, Emilia Galotti, Clavigo, Kabale und Liebe. Es könnte scheinen, daß diese zweite Methode der Dramenbildung die wirksamere sein müsse. Allmählich, in besonders genauer Ausführung sieht man die Konflikte, durch welche das Leben der Helden gestört wird, das Innere derselben bestimmen. Gerade da, wo der Zuschauer kräftige Steigerung der Wirkungen fordert, tritt die vorbereitete Herrschaft der Hauptcharaktere ein, Spannung und Teilnahme, die in der zweiten Hälfte des Dramas schwerer zu erhalten sind, bleiben auf die Hauptpersonen festgebannt, der stürmische und unaufhaltsame Fortschritt nach abwärts ist gewaltigen und erschütternden Wirkungen besonders günstig. Und in der Tat sind Stoffe, in denen das allmähliche Entstehen einer verhängnisvollen Leidenschaft enthalten ist, die den Helden zuletzt dem Untergange zuführt, für solche Behandlung vorzugsweise günstig. Aber das beste dramatische Recht hat diese Art und Weise des Baues dennoch nicht, und es ist kein Zufall, daß die größten Stücke von solcher Beschaffenheit bei tragischem Ausgang dem Hörer in die Bewegung und Erschütterung leicht eine quälende Empfindung mischen, welche Freude und Erfrischung verringert. Denn sie zeigen den Helden nicht vorzugsweise als tatlustige, angreifende Natur, sondern als einen Empfangenden, Leidenden, der übermächtig bestimmt wird durch das Gegenspiel, das von außen in ihn schlägt. Die höchste Gewalt einer Menschenkraft, das, was am unwiderstehlichsten die Herzen der Zuhörer fortreißt, ist zu allen Zeiten der kühne Sinn, der rücksichtslos sein eigenes Innere den Gewalten, welche ihn umgeben, gegenüberstellt. Das Wesen des Dramas ist Kampf und Spannung; je früher diese durch den Haupthelden selbst hervorgerufen und geleitet werden, desto besser. Es ist wahr, jene erste Bauweise des Dramas birgt eine Gefahr, welche auch durch das Genie nicht in jedem Falle siegreich überwunden wird. Bei ihr ist in der Regel der erste Teil des Dramas, der den Helden in gesteigerter Spannung bis zum Höhenpunkt hinauftreibt, in seinem Erfolge gesichert; aber der zweite Teil, welcher doch die größeren Wirkungen fordert, hängt zumeist von dem Gegenspiel ab, und dies Gegenspiel muß hier in heftigerer Bewegung und in verhältnismäßig größerer Berechtigung motiviert werden. Das mag die Aufmerksamkeit zerstreuen, anstatt sie zu steigern. Dazu kommt, daß der Held vom Höhenpunkt seines Handelns schwächer erscheinen muß als die gegenwirkenden Gestalten. Auch dadurch mag das Interesse an ihm verringert werden. Doch trotz dieser Schwierigkeit darf der Dichter nicht in Zweifel sein, welcher Anordnung er den Vorzug zu geben hat. Seine Arbeit wird schwerer, es gehört bei solcher Anlage große Kunst dazu, die letzten Akte gut zu machen. Aber Begabung und gutes Glück sollen das überwinden. Und die schönsten Kränze, welche die dramatische Kunst zu geben vermag, sinken auf das gelungene Werk. Allerdings ist der Dichter hierbei von seinem Stoff abhängig, der zuweilen keine Wahl läßt. Deshalb ist eine der ersten Fragen, welche der Dichter an einen lockenden Stoff zu stellen hat, ob derselbe im Spiel oder Gegenspiel aufsteigt. Es ist belehrend, in dieser Beziehung die großen Dichter zu vergleichen. Von den wenigen Dramen des Sophokles, die uns erhalten sind, gehört die Mehrzahl denen an, wo der Hauptspieler die Führung hat, wie ungünstig auch das Gebiet epischer Stoffe für die freie Selbstbestimmung der Helden war. - Die höchste Kraft und Kunst aber bewährt hier Shakespeare. Er vorzugsweise ist der Dichter der schnell entschlossenen Charaktere, Lebensfeuer und Mark, gedrungene Energie und hochgespannte männliche Kraft seiner Helden treiben gleich nach der Eröffnungsszene die Stücke in schneller Steigerung aufwärts. In schneidendem Gegensatz zu ihm steht die Neigung der großen deutschen Dichter des vorigen Jahrhunderts. Sie lieben breites Motivieren, sorgfältiges Begründen des Ungewöhnlichen. In mehren ihrer Dramen sieht es aus, als würden ihre Helden ruhig in gemäßigter Stimmung, in unsichern Verhältnissen beharren, wenn man sie nur ließe. Und wie den meisten Heldencharakteren der Deutschen fröhliche Kraft, hartes Selbstvertrauen und schneller Entschluß zur Tat fehlen, so stehen sie auch in der Handlung unsicher, grübelnd, zweifelnd, mehr durch äußere Verhältnisse als durch rücksichtsloses Fordern fortbewegt. Das ist bedeutungsvoll für die Bildung des vorigen Jahrhunderts, für Kultur und Seelenleben eines Volkes, dem das fröhliche Gedeihen, ein öffentliches Leben, Selbstregierung so sehr fehlten. Sogar Schiller, welcher doch heftige Leidenschaften aufzuregen weiß, liebt es, den Gegenspielern im ersten Teil, den Haupthelden erst im zweiten vom Höhenpunkt abwärts die Führung zu geben. So werden in Kabale und Liebe Ferdinand und Luise durch die Intriganten fortgestoßen, erst von der Szene zwischen Ferdinand und dem Präsidenten, nach dem tragischen Moment, übernimmt Ferdinand die Führung bis zum Ende. Noch schlechter steht der Held Don Carlos zu der Handlung seines Stückes, er wird sowohl in der steigenden als in der fallenden Hälfte bevormundet. In Maria Stuart hat die Heldin allerdings die verhängnisvolle Leitung ihres Schicksals bis zum Höhenpunkt, der Gartenszene, insofern sie die Stimmungen ihrer Gegenspieler beherrscht: der vorwärts treibende Teil sind aber, wie durch den Stoff geboten war, die Intriganten und Elisabeth. Weit bekannter und doch von geringerer Bedeutung für den Bau des Dramas ist die Unterscheidung der Dramen, welche von der letzten Wendung im Geschick des Helden und von dem Inhalt der Katastrophe hergenommen wird. Die neue Bühne der Deutschen unterscheidet zwei Arten des ernsten Dramas, Trauerspiel und Schauspiel. Die strenge Unterscheidung in diesem Sinne ist auch bei uns nicht alt, sie ist auf den Repertoiren erst seit Iffland durchgeführt. Und wenn man jetzt auf der Bühne zuweilen Lustspiel, Schauspiel und Trauerspiel als drei verschiedene Arten der rezitierenden Darstellung einander gegenüberstellt, so ist doch das Schauspiel seinem Wesen nach keine dritte gleichstehende Art des dramatischen Schaffens, sondern eine Unterabteilung des ernsten Dramas. Die attische Bühne hatte nicht den Namen, aber die Sache. Schon zur Zeit des Aeschylos und Sophokles war ein finsterer Ausgang keineswegs der Tragödie unentbehrlich, von sieben erhaltenen Tragödien des letzteren haben zwei, Aias und Philoktetes, ja in den Augen der Athener auch Oedipus auf Kolonos, einen milden Schluß, welcher das Schicksal des Helden zum Bessern wendet. Selbst bei Euripides, dem die Poetik nachrühmt daß er düstern Ausgang liebe, sind unter siebzehn erhaltenen Tragödien außer der Alkestis noch vier: Helena, Iphigeneia in Tauris, Andromache, Ion, deren Ende dem unserer Schauspiele entspricht; bei mehren anderen ist der traurige Ausgang zufällig und unmotiviert. Und es scheint, daß die Athener bereits denselben Geschmack hatten, den wir an unsern Zuschauern kennen, sie sahen am liebsten solche Tragödien, welche in unserem Sinn Schauspiele waren, in denen der Held arg durch das Schicksal gezaust wurde, aber zuletzt Haut und Haar gerettet davontrug. Auf der modernen Bühne ist unleugbar die Berechtigung des Schauspiels noch größer geworden. Edler und freier fassen wir die Menschennatur, wir vermögen reizvoller, wirksamer und genauer innere Kämpfe des Gewissens, entgegenstehende Überzeugungen zu schildern. In einer Zeit, in welcher man sogar über Abschaffung der Todesstrafe verhandelt hat, sind die Toten am Ende eines Stückes, so scheint es, leichter zu entbehren; wir trauen in der Wirklichkeit einer starken Menschenkraft zu, daß sie die Pflicht des Lebens sehr hoch halte, auch schwere Missetat nicht durch den Tod, sondern durch ein reineres Leben büße. Aber diese veränderte Auffassung des irdischen Daseins kommt dem Drama nicht nach jeder Richtung zu Gute. Es ist wahr, der tödliche Ausgang ist zumal bei modernen Stoffen weniger Bedürfnis als bei dramatischer Behandlung epischer Sagen oder älterer geschichtlicher Begebenheiten. Aber nicht, daß der Held zuletzt am Leben bleibt, macht ein Stück zum Schauspiel, sondern daß er aus den Kämpfen als Sieger oder durch einen Ausgleich mit seinem Gegensatze versöhnt hervorgeht. Ist er am Ende der unterliegende, muß er gebrochen werden, so behält das Stück nicht nur den Charakter, sondern auch den Namen eines Trauerspiels. Der Prinz von Homburg ist Schauspiel, Tasso eine Tragödie. Das Drama der Neuzeit hat in den Kreis seiner Stoffe ein weites Gebiet aufgenommen, welches der ältern Tragödie der Griechen, ja in der Hauptsache noch der Kunst Shakespeares fremd war: das bürgerliche Leben der Gegenwart, die Konflikte unserer Gesellschaft. Kein Zweifel, daß die Kämpfe und Leiden moderner Menschen eine tragische Behandlung möglich machen und daß diese ihnen noch viel zuwenig zuteil geworden ist; aber das Genrehafte, Zahme und Rücksichtsvolle, welches dieser Gattung von Stoffen in der Regel anhängt, gibt auch der künstlerischen Auffassung völlige Berechtigung, welche gerade hier gern solche Kämpfe vorführt, denen wir im wirklichen Leben eine milde Ausgleichung zutrauen und wünschen. Bei der breiten und volkstümlichen Ausdehnung, welche diese Behandlung gewonnen hat, gilt es zweierlei hervorzuheben. Erstens, daß die Gesetze für Bau des Schauspiels und Leben der Charaktere in der Hauptsache dieselben sind wie für das Trauerspiel, und daß es für den Schaffenden nützlich ist, diese Gesetze aus dem Drama hohen Stils zu erkennen, wo jeder Verstoß dagegen dem Erfolg des Stückes verhängnisvoll werden mag. Zweitens aber, daß das Schauspiel, bei welchem eine weichere Ausgleichung der Konflikte im zweiten Teil notwenig ist, doppelt Ursache hat, in der ersten Hälfte herzhaftes und frisches Begehren seines Helden durch feine Charakterschilderung zu motivieren. Es kommt sonst in Gefahr, zu einem Situationsstück oder Intrigenstück zu werden, im ersten Fall einer behaglichen Schilderung von Zuständen und charakteristischen Eigentümlichkeiten die kräftige Bewegung einer einheitlichen Handlung zu opfern, im andern Fall über den schnellen Schachzügen einer unruhigen Handlung die Ausbildung der Charaktere zu vernachlässigen. Das erstere ist Neigung der Deutschen, das andere der Romanen; beide Arten der Zurichtung eines Stoffes sind einer würdigen Behandlung ernster Kämpfe ungünstig, sie gehören ihrem Wesen nach der Komödie, nicht dem ernsten Drama an.
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