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Gustav Freytag


Die Technik des Dramas

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Kapitel 2

3. Der Bau des Dramas bei Sophokles

Noch immer übt die Tragödie der Athener ihre Macht auf die Schaffenden der Gegenwart, nicht nur die unvergängliche Schönheit ihres Inhalts, auch die antike Form beeinflußt unsere Dichterarbeiten; die Tragödie des Altertums hat wesentlich dazu beigetragen, unser Drama von der Bühne des Mittelalters zu scheiden und demselben kunstvolleren Bau und tieferen Inhalt zu geben.

Bevor deshalb die technische Einrichtung in den Tragödien des Sophokles berichtet wird, sollen kurz diejenigen Besonderheiten der antiken Bühne in Erinnerung gebracht werden, welche den Athener - soweit wir darüber ein Urteil haben- fördernd und einengend bestimmten. Was anders wo bequem zu finden ist, wird hier nur kurz erwähnt.

Die Tragödie der alten Welt erwuchs aus den dithyrambischen Sologesängen mit Chören, welche an den attischen Dionysosfesten des Frühjahrs aufgeführt wurden; allmählich traten die Reden Einzelner zwischen Dithyrambos und Chorgesang und erweiterten sich zu einer Handlung. Die Tragödie behielt von diesen Anfängen den Chor, den Gesang einzelner Hauptrollen in den Augenblicken höchster Bewegung, Wechselgesänge der Schauspieler und des Chors. Es war ein naturgemäßer Verlauf, daß der dramatische Teil der Tragödie größere Herrschaft gewann und den Chor zurückdrängte. In den ältesten Stücken des Aeschylos, den Persern und Hiketiden, sind die Chorgesänge noch bei weitem die Hauptsache. Sie haben eine Schönheit, Größe und eine so mächtige dramatische Bewegung, daß sich ihnen weder in unsern Oratorien noch Opern Vieles an die Seite setzen läßt. Die kurzen Zwischensätze einzelner Personen, welche nicht lyrisch-musikalisch sind, dienen fast nur als Motive, um neue Stimmungen der Solosänger und des Chors hervorzubringen. Aber schon zur Zeit des Euripides trat der Chor in den Hintergrund, sein Zusammenhang mit der ausgebildeten Handlung wurde locker, er sank vom Begleiter und Vertrauten der Hauptpersonen zu einem unwesentlichen Teil des Dramas herab. Chorlieder des einen Dramas wurden für das andere verwendet, sie stellten zuletzt, wie es scheint, nichts weiter vor als Gesang, der die Zwischenakte ausfüllte. Aber das lyrische Element haftete in der Handlung selbst. Großangelegte, breitausgeführte Gefühlsszenen der Darsteller, gesungen und gesprochen, blieben an wichtigen Stellen der Handlung ein unentbehrlicher Bestandteil der Tragödie. Diese Pathosszenen, der Ruhm des ersten Schauspielers, die Glanzpunkte der antiken Darstellung, enthalten die lyrischen Elemente der Situation in einer Ausführlichkeit, welche wir nicht mehr nachahmen dürften. In ihnen fassen sich die rührenden Wirkungen der Tragödie zusammen. Das langatmige Ausströmen innerer Empfindung hatte für die Zuschauer so großen Reiz, daß diesen Szenen von den schwächeren Dichtern Einheit und Wahrscheinlichkeit der Handlung geopfert wurde. Aber wie schön und voll auch das Gefühl in ihnen tönt, die dramatische Bewegung ist doch nicht groß. Es sind poetische Betrachtungen über die eigene Lage, Flehen zu den Göttern, gefühlvolle Schilderung der eigentümlichen Verhältnisse. Sie lassen sich am ersten mit den Monologen der Neuzeit vergleichen, obwohl bei ihnen der Chor den teilnehmenden, zuweilen einredenden Hörer darstellt.

Jene Erweiterung der alten dithyrambischen Gesänge, zuerst zu Oratorien, deren Solosänger in der Festkleidung mit einfachem Gebärdenspiel auftraten, dann zu Dramen mit ausgebildeter Kunst der Darstellung, wurde durch das Eintreten einer Handlung bewirkt, welche fast ausschließlich aus dem Gebiet der hellenischen Heldensage und des Epos genommen war. Einzelne Versuche der Dichter, dies Stoffgebiet zu erweitern, blieben im Ganzen ohne Erfolg. Schon vor Aeschylos hatte vielleicht einmal ein Oratoriendichter versucht, einen historischen Stoff zu verwerten, die älteste Tragödie des Aeschylos, welche auf uns gekommen ist, hat ebenfalls einen geschichtlichen Stoff seiner nächsten Vergangenheit benutzt; aber die Griechen hatten damals überhaupt noch keine Geschichtschreibung in unserem Sinne. Auch ein gelungener Versuch, frei erfundene Stoffe auf die Bühne zu führen, hat in der Blütezeit der griechischen Tragödie nur selten Nachahmung gefunden.

Solche Beschränkung auf ein bestimmtes Stoffgebiet war sowohl ein Segen als ein Verhängnis für die attische Bühne. Sie verengte die dramatischen Situationen und Wirkungen auf einen ziemlich engen Kreis, in welchem die älteren Dichter mit frischer Kraft die höchsten Erfolge erreichten, der die späteren sehr bald veranlaßte, neue Wirkungen auf Seitenpfaden zu suchen, welche den Verfall des Dramas unvermeidlich machten. In der Tat war zwischen der Welt, aus welcher diese Stoffe genommen waren, und den Lebensbedingungen des Dramas ein innerer Gegensatz, den die höchste Kraft zu besiegen wußte, an dem schon die Begabung des Euripides erkrankte.

Die Gattung der Poesie, welche den Sagenstoff vor Ausbildung des Dramas dem Volke liebgemacht hatte, behauptete eine Stelle in gewissen Szenen des Dramas. Den Griechen war eine volkstümliche Freude, öffentliche Vorträge, später Vorlesungen epischer Gedichte zu hören. Diese Gewohnheit gab auch der Tragödie längere Berichte über Ereignisse, welche der Handlung wesentlich waren. Und diese nahmen einen größeren Raum ein, als in dem neueren Drama gestattet wäre. Die Erzählung wird für die Bühne mit dramatischer Lebendigkeit ausgestattet. Herolde, Boten, Wahrsager sind stehende Rollen für solche Berichte. Und die Szenen, in denen sie auftreten, haben in der Mehrzahl dieselbe Fügung. Nach kurzer Einführung erzählen die Berichterstatter, dann folgen mehr oder weniger lange gleich gemessene Schlagverse, schnell wechselnde Frage und Antwort, zuletzt wird das Ergebnis ihres Berichtes in kurzen Worten zusammengefaßt. Die Erzählung tritt auch da ein, wo sie uns am auffälligsten ist, in der Katastrophe. Der letzte Ausgang der Helden wird zuweilen nur verkündet.

In anderer Weise wurde die Führung der Szenen beeinflußt durch die große Angelegenheit des attischen Marktes, die Gerichtsverhandlungen. Den Reden der Ankläger und Verteidiger zu lauschen, war Leidenschaft des Volkes. Die höchst kunstvolle Ausbildung der griechischen Gerichtsreden, aber auch die gekünstelte Weise, mit welcher man Wirkungen hervorzubringen suchte, die feine sophistische Redekunst drang in die attische Bühne ein und bestimmte den Inhalt der Gesprächsszenen. Auch diese Szenen sind im Ganzen betrachtet nach feststehender Vorschrift gebildet. Der erste Schauspieler hält eine kleine Rede, der andere antwortet in Gegenrede von ähnlicher, zuweilen von genau derselben Länge. Dann folgen Schlagverse, etwa vier gegen vier, je zwei gegen zwei, je einer gegen einen, dann fassen vielleicht noch beide Teile ihre Stellung in einer zweiten Rede und Gegenrede zusammen, dann klirren wieder die Schlagverse gegeneinander, bis der, welcher Sieger sein soll, seinen Standpunkt kurz noch einmal darlegt. Das letzte Wort, ein geringes Übergewicht an Versen gibt den Ausschlag. Dieser Bau, zuweilen durch kurze Zwischenreden des Chors gebrochen und gegliedert, hat trotz dem Wechsel von ausgeführter Rede und trotz äußerlicher stark gesteigerter Lebhaftigkeit nicht die höchste dramatische Bewegung, es ist eine rednerische Darlegung des Standpunktes, ein Streit mit spitzfindigen Beweisgründen, für unsere Empfindung zu rednermäßig, berechnet, gekünstelt. Selten wird eine Partei durch die andere überzeugt. Freilich hatte dies noch anderen Grund, denn dem Helden der attischen Bühne wird nicht leicht erlaubt, nach fremder Rede seine Meinung zu ändern. Auch wenn eine dritte Rolle auf der Bühne war, behielten die Dialoge den Charakter eines Zwiegesprächs, rasches und wiederholtes Eingreifen der drei Rollen ineinander war selten und vorübergehend; trat die dritte in das Gespräch ein, so zog sich die zweite zurück, dann wurde wohl der Abstich durch eine eingeworfene Chorzeile hervorgehoben. Massenszenen in unserem Sinne kannte die antike Bühne nicht.

In diesen Pathosszenen, Botenszenen, Dialogszenen, den Reden und Verkündigungen amtlicher Personen an den Chor verläuft die Handlung. Rechnet man dazu noch die Peripetien und Erkennungsszenen, so findet man fast den gesamten Inhalt des Stückes nach stehenden, handwerksmäßigen Formen geordnet. Und die Begabung der Dichter bewährt sich darin, wie sie diese Formen zu vergeistigen wissen. Am größten ist Sophokles auch deshalb, weil das Feststehende bei ihm am meisten variiert und wie versteckt ist.

In andrer Weise wurde der Bau der Dramen gerichtet durch die eigentümlichen Verhältnisse, unter denen die Aufführung stattfand. Die attischen Tragödien wurden in der großen Zeit Athens an den Tagen der Dionysosfeste aufgeführt. An diesen Festen kämpfte der Dichter gegen seine Mitbewerber, nicht als Verfasser der Dramen, sondern, wenn er nicht außerdem selbst als Schauspieler auftrat, als Regisseur, Didaskalos. Er war als solcher mit seinen Schauspielern und dem Leiter des Chors zu einer Genossenschaft verbunden. Jedem Dichter gehörte ein Tag, er hatte an diesem Tage vier Stücke, von denen das letzte in der Regel ein Satyrspiel war, vorzuführen. Man kann zweifeln, was erstaunlicher war, die Schöpferkraft der Dichter oder die Ausdauer der Zuschauer. Wenn wir zu der erhaltenen Trilogie des Aeschylos ein Satyrspiel hinzudenken und nach den Erfahrungen unserer Bühne die Dauer einer solchen Aufführung abschätzen, dazu das langsame Zeitmaß des Vortrags einrechnen, welches durch die langen Schallwellen des großen Raumes und durch die scharf markierende Deklamation notwendig wurde, so muß diese Aufführung bei kurzen Unterbrechungen zwischen den Stücken wenigstens neun Stunden gedauert haben; drei Tragödien des Sophokles müssen mit dem Satyrspiel wenigstens zehn Stunden beansprucht haben.*

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* Daß die Chöre in der Regel nicht flüchtig dahinrauschten und ein gutes Teil Zeit in Anspruch nahmen, können wir daraus schließen, daß bei Sophokles einigemal ein kurzer Chor die Zeit ausfüllt, welche der Schauspieler bedurfte, sich hinter der Szene umzukleiden und den Weg von seiner Tür bis zu dem Seiteneingang zu durchmessen, aus welchem er in der neuen Rolle auftreten mußte. Dreizehn Zeilen und zwei Strophen eines kleinen Chors genügen, um den Deuteragonisten, der als Jokaste durch seine Hintertür abgegangen ist, umzukleiden und als Hirten von der Feldseite wieder auf die Bühne zu senden Es war auf dem Theater der Akropolis kein kurzer Weg.
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Die drei ernsten Dramen verband in der früheren Zeit eine zusammenhängende Handlung, welche demselben Sagenstoff entnommen war; sie hatten, so lange diese alte trilogische Form bestand, das Wesen riesenhafter Akte, deren jeder einen Teil der Handlung zum Abschluß brachte. Auch als Sophokles dies Herkommen durchbrochen hatte und drei selbständige, abgeschlossene Dramen hintereinander zum Wettkampf stellte, standen die Stücke zuverlässig in innerer Beziehung. Wieweit durch bedeutsame Zusammenstellung der Ideen und Handlungen, durch Parallelismus und Abstich der Situationen eine Verstärkung der Gesamtwirkung erreicht wurde, vermögen wir nicht mehr zu übersehen; aber aus dem Wesen aller dramatischen Darstellung folgt, daß der Dichter eine Steigerung und eine gewisse Gesamtheit der damals möglichen Wirkungen erstrebt haben muß.*

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* Daß eine beliebte Reihenfolge der Übergang aus dem Düsteren, Schrecklichen ins Hellere gewesen sei, möchten wir schon aus dem Umstand schließen, daß Antigone und Elektra erste Stücke des Tages waren. Bei der Antigone geht das nicht nur aus dem ersten Chorgesang hervor, dessen erste schöne Strophe ein Morgenlied ist, sondern auch aus der Beschaffenheit der Handlung, welche der großen Rolle des Pathosspielers nur die erste Hälfte des Stückes gibt und dadurch den Schwerpunkt des Dramas nach vorn legt. Es wäre bei dem schönsten Gedicht unratsam gewesen, dem wenig geachteten dritten Schauspieler, der übrigens von Sophokles einigemal besonders bevorzugt wird, die für das Urteil der Richter so wichtigen Schlußwirkungen des letzten Stückes zu überlassen. In der Elektra wird im Prolog ebenfalls die aufgehende Sonne und das bacchische Festkleid erwähnt. Ebenso scheint die schöne, breit ausgeführte Situation im Prolog des Königs Oedipus und der Bau des Aias, dessen Schwerpunkt in der ersten Hälfte liegt und der deutlich die Morgenfrühe verrät, auf erste Stücke zu deuten. Die Trachinierinnen kämpften wahrscheinlich als Mittelstück, Oedipus auf Kolonos mit seinem großartigen Schluß und Philoktetes mit ausgezeichneter Pathosrolle und versöhnendem Ende als letzte. Die Vermutungen welche aus der technischen Beschaffenheit der Stücke hergeleitet werden haben wenigstens mehr Wahrscheinlichkeit als solche, welche aus einer Zusammenstellung der vorhandenen Dramen mit nicht erhaltenen hervorgehen.
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Und wie die Zuschauer in der gehobenen Stimmung des heiligen Frühlingsfestes vor der Bühne saßen, so waren auch die Hauptdarsteller in eine Festtracht gekleidet. Die Tracht der einzelnen Rollen war herkömmlich nach dem Festbrauch genau vorgeschrieben, die Schauspieler trugen die Maske mit Schalloch am Munde, den hohen Kothurn am Fuß, den Leib gepolstert und durch lange Gewänder staffiert. Ebenso waren die beiden Seiten der Bühne und die drei Türen des Hintergrundes, aus denen die Schauspieler auftraten und durch welche sie abgingen, bedeutsam für die Geltung derselben im Stück.

Der Dichter kämpfte aber an seinem Theatertage durch vier Dramen mit denselben Schauspielern, welche Preiskämpfer hießen. Die älteren attischen Oratorien hatten nur einen Schauspieler, der in verschiedenen Rollen mit wechselnder Tracht auftrat, Aeschylos hatte den zweiten, Sophokles den dritten zugefügt. Über die Dreizahl der Solospieler kam das attische Theater in seiner Blütezeit nicht hinaus. Diese Beschränkung in der Zahl der Darsteller hat mehr als irgendein anderer Umstand die Technik der griechischen Tragödien bestimmt. Es war aber keine Beschränkung, welche entschlossener Wille hätte beseitigen können. Nicht nur äußere Gründe hinderten ein Weitergehen: alte Überlieferung, der Anteil, welchen der Staat bei den Aufführungen beanspruchte, sondern vielleicht nicht weniger der Umstand, daß der ungeheure offene Raum des Theaters an der Akropolis, welcher dreißigtausend Menschen faßte, ein Metall der Stimme und eine Zucht der Sprache forderte, welche sicher sehr selten waren. Dazu kam noch, daß wenigstens zwei der Schauspieler, der erste und zweite, auch fertige Sänger sein mußten, und zwar vor einem feinohrigen und verwöhnten Publikum.

Der erste Schauspieler des Sophokles hatte dann in etwa zehnstündiger Anspannung an 1600 Verse auszugeben, darunter wenigstens sechs größere und kleinere Gesangstücke.*

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*Sechs Stücke des Sophokles enthalten, wenn man die Reden und Gesänge des Chors abzieht, im Durchschnitt jedes ungefähr 1118 Verse. Nur Oedipus auf Kolonos ist länger. Rechnet man die Verszahl eines jeden der drei Schauspieler wieder im Durchschnitt als gleich groß, so geben die Tragödien des Tages mit Zurechnung eines Satyrspiels von der Länge des Kyklops (etwa 500 Verse für drei Solospieler) dem einzelnen Schauspieler die Gesamtzahl von 1300 Versen. Aber die Aufgabe des ersten Schauspielers wurde schon durch die angreifenden Pathosszenen und durch die Gesänge ungleich größer. Außerdem mußte ihm wohl auch mehr zugemutet werden. Wenn man in den drei Stücken des Sophokles, in welchen der Held an einer von den Göttern auferlegten Krankheit leidet (Aias, Trachinierinnen, Philoktetes), die Partien des ersten Schauspielers zusammenzählt (Aias, Teukros; Lichas, Herakles; Philoktetes ), so ergeben sich etwa 1440 Verse, also mit der Rolle eines Satyrspiels mehr als 1600 Verse, und zwar eine Anspannung durch etwa sechs verschiedene Rollen und durch etwa sechs Gesänge. - Daß Sophokles bei Zusammensetzung seiner Tetralogien auf die Erholungspausen seiner drei Schauspieler Rücksicht nehmen musste, ist unzweifelhaft. Jede letzte Tragödie erforderte die stärkste Wirkung, sie wird also in der Regel dem ersten Schauspieler am meisten zugemutet haben. Daß die Trachinierinnen kein drittes Stück waren, möchte man auch deshalb annehmen, weil darin der zweite Schauspieler die Hauptrolle hat.
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Diese Aufgabe wäre groß, aber sie ist uns nicht unbegreiflich. Eine der stärksten Rollen unserer Bühne ist Richard III.; diese umfaßt im gedruckten Text an 1128 Verse, von denen freilich mehr als 200 gestrichen werden. Unsere Verse sind etwas kürzer, kein Gesang, die Kleidung weit bequemer, die Anstrengung der Stimme von anderer Art, im Vergleich beträchtlich geringer; die Anspannung durch das Gebärdenspiel dagegen unvergleichlich größer, im Ganzen die schöpferische Arbeit des Augenblicks bedeutender, es ist eine sehr verschiedene Art der Nervenspannung. Unseren Schauspielern würde nicht der Umfang der antiken Aufgabe als unbesiegbar erscheinen, sondern gerade das, was sich dem Unkundigen als eine Erleichterung darstellt, das Hinziehen der Arbeit durch zehn Stunden. Und wenn sie gegenüber der Schauspielkunst des Altertums mit Recht geltend machen dürfen, daß ihre heutige Aufgabe eine höhere ist, weil sie nicht nur mit der Stimme, auch mit Antlitz und Gebärde frei zu schaffen haben, so mögen sie auch nicht vergessen, daß die Dürftigkeit der griechischen Mimik, welche durch Masken und herkömmliche Bewegungen und Stellungen beschränkt blieb, wieder Ergänzung fand in einer merkwürdig feinen Ausbildung der dramatischen Sprechweise. Alte Zeugnisse belehren uns, daß ein falscher Ton, ein unrichtiger Akzent, ein Hiatus im Verse dem Schauspieler allgemeinen Unwillen der Hörer aufregen und den Sieg entreißen konnte, daß der große Schauspieler leidenschaftlich bewundert wurde und daß die Athener über seiner Kunst wohl einmal Politik und Kriegführung vernachlässigten. Man darf also die selbständige Arbeit des hellenischen Künstlers durchaus nicht niedrig anschlagen, wenn wir auch nicht wissen, wie seine Seele in dem herkömmlichen Tonfall der dramatischen Rede schöpferisch arbeitete.

Unter diese drei Schauspieler wurden sämtliche Rollen der drei Tragödien und des Satyrspiels verteilt. In jedem Stück hatte der Schauspieler außer seiner Hauptrolle, in der er - der Regel nach - das Festkleid trug, noch die Nebenpartien, welche seinem Charakter entsprachen oder für die er gerade entbehrt werden konnte. Aber auch nicht einmal dabei war dem Dichter jede Freiheit gelassen.

Die Persönlichkeit des Schauspielers wurde auf der Bühne von den Zuschauern nicht so sehr über seinen Rollen vergessen, als bei uns der Fall ist. Er blieb in der Empfindung der Athener trotz seinen verschiedenen Masken und Anzügen immer mehr der gemütvoll Vortragende als der Spieler, welcher sein Wesen in dem Charakter seiner Rollen völlig zu bergen sucht. Und nach dieser Richtung stand die antike Aufführung auch zur Zeit des Sophokles einem Oratorium oder der Vorlesung eines Stückes mit verteilten Rollen fast näher, als unseren Aufführungen. Das ist ein wichtiger Umstand. Die Wirkungen der Tragödien wurden dadurch nicht beeinträchtigt, aber doch anders gefärbt.

Der erste Schauspieler wurde deshalb auch auf der Bühne bedeutsam hervorgehoben, ihm gehörte für Eintritt und Abgang die Mitteltür des Hintergrundes, die „königliche“. Er spielte die vornehmsten Personen und die stärksten Charaktere; es wäre gegen die Würde seines Rollenfachs gewesen, jemanden auf der Bühne darzustellen, der sich von einer anderen Person des Stückes - die Götter ausgenommen - beeinflussen und leiten ließ; er vorzugsweise war der Pathosspieler, der Sänger und Held, natürlich für Männer- und Frauenrollen, nur seine Rolle gab dem Stück den Namen, im Fall sie die Handlung beherrschte, sonst wurde der Name des Stückes von Tracht und Charakter des Chors geholt. Neben ihn trat der „zweite Kämpfer“ als sein Begleiter und Genosse, ihm gegenüber stand der dritte, weniger geachtete Schauspieler als Charakterspieler, Intrigant, Vertreter des Gegenspiels.

Diese Stellung der drei Darsteller wurde bei Verfertigung und Verteilung der Rollen von Sophokles festgehalten. Sie waren für seine Stücke der Hauptheld, der Genosse, der Gegenspieler. Aber auch die Nebenrollen, welche jeder von ihnen neben der seiner Stellung entsprechenden Hauptrolle im Stück übernehmen mußte, wurden, soweit das irgend möglich war, nach den Beziehungen verteilt, die sie zu der Rolle des Haupthelden hatten. Die Vertreter und Gesinnungsgenossen des ersten Helden erhielt er selbst, die Freunde, Zugehörigen soviel möglich der zweite Schauspieler, die fremden, feindlichen, widerstrebenden Partien der Gegenspieler, außerdem freilich mit dem zweiten zuweilen Aushilfsrollen.

Daraus ergab sich eine merkwürdige Art von Bühnenwirkungen, welche wir unkünstlerisch nennen möchten, die aber für den Dichter der attischen Bühne nicht geringe Bedeutung hatten. Die nächste Aufgabe der Schauspieler war nämlich allerdings, jede ihrer Rollen in demselben Stück durch verschiedene Masken zu bezeichnen und durch veränderte Stimmlage, durch Verschiedenheit in Vortrag und Gebärden auszuzeichnen. Und wir erkennen, daß auch hier viel Gewohnheitsmäßiges und Festgesetztes war, z. B. im Aufzug und Vortrag der Boten, in Schritt, Haltung, Gebärde der jungen und älteren Frauen. Aber eine zweite Eigentümlichkeit dieser feststehenden Rollenverteilung war, daß die Stetigkeit des Darstellers bei seinen einzelnen Partien durchschien und als etwas Gehöriges und Wirksames auch vom Hörer empfunden ward. Der Darsteller wurde auf der attischen Bühne zu einer idealen Einheit, welche ihre Rollen zusammenhielt; über der Täuschung, daß verschiedene Menschen sprächen, blieb dem Hörer die Empfindung, daß sie im Grunde ein und derselbe waren. Und diesen Umstand benutzte der Dichter zu besondern dramatischen Wirkungen. Wenn die Antigone zum Tode abgeführt war, klang aus den Drohworten des Teiresias an Kreon hinter der veränderten Tonlage dieselbe bewegte Menschenseele heraus, und derselbe Klang, dasselbe geistige Wesen rührte in den Worten des Exangelos, welcher das traurige Ende der Antigone und des Hämon berichtete, wieder das Gemüt der Hörer. Antigone kehrte, auch als sie zum Tode abgegangen war, immer wieder auf die Bühne zurück. Dadurch entstand bei der Aufführung zuweilen eine Steigerung der tragischen Wirkungen, wo wir beim Lesen einen Abfall bemerken. Wenn in der Elektra derselbe Schauspieler den Orest und die Klytämnestra, Sohn und Mutter, den Mörder und die zu Mordende darstellte, so mahnte der Gleichklang der Stimme den Hörer an das gemeinsame Blut, dieselbe kalte Entschlossenheit und schneidende Schärfe des Tons (es waren Rollen des dritten Schauspielers) an die innere Verwandtschaft der beiden Naturen; aber diese Einheit mäßigte vielleicht auch den Schauder, den die furchtbare Handlung hervorbrachte. Wenn im Aias der Held des Stückes sich schon auf dem Höhenpunkte tötete, so war das unzweifelhaft auch in den Augen der Griechen eine Gefahr des Stoffes, weil dieser Umstand ihnen in diesem Fall nicht die Einheit der Handlung verringerte, wohl aber das Gewicht zu sehr nach dem Anfang verlegte. Wenn nun aber unmittelbar darauf aus der Maske des Teukros dasselbe ehrliche, treuherzige Wesen heraustönte, nur jugendlicher, frischer, ungebrochen, so fühlte der Athener nicht nur mit Behagen die Blutsverwandtschaft heraus, auch die Seele des Aias nahm lebendig teil an dem fortgesetzten Kampf um sein Grab. Besonders liebenswürdig ist die Weise, wie Sophokles - allerdings nicht er allein - diese Wirkung benutzt, um den Untergang einer Hauptperson, welcher nur berichtet werden kann, in der Katastrophe ergreifend darzustellen. In jedem der vier Stücke, welche die sehr ausgezeichnete Rolle eines Boten der Katastrophe (in den Trachinierinnen die Amme) enthalten, ist der Darsteller desjenigen Helden, dessen Untergang berichtet wird, selbst wieder der Bote, welcher die rührenden Umstände des Todes erzählt, zuweilen in wundervoll belebter Rede; dem Athener tönte in solchem Fall die Stimme des Geschiedenen noch aus dem Hades herauf in die Seele; so die Stimme der Jokaste, des Oedipus auf Kolonos, der Antigone, der Deianeira. Am eigentümlichsten aber ist im Philoktetes die Wiederkehr desselben Schauspielers in verschiedenen Rollen für die dramatische Wirkung verwertet, es wird später davon die Rede sein.*

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* Die Rollenverteilung unter die Schauspieler ist in den erhaltenen Stücken des Sophokles folgende, Protagonist, Deuteragonist, Tritagonist mit 1. 2. 3. bezeichnet:

König Oedipus: 1. Oedipus. 2. Priester. Jokaste. Hirte. Bote der Katastrophe. 3. Kreon. Teiresias. Bote.

Oedipus auf Kolonos: 1. Oedipus. Bote der Katastrophe. 2. Antigone. * Theseus (die Szene des Höhenpunktes). 3. Koloner. Ismene. Theseus (die übrigen Szenen). Kreon. Polyneikes.

Antigone: 1. Antigone. Teiresias. Bote der Katastrophe. 2. Ismene. Wächter. Hämon. * Eurydike. Diener. 3. Kreon.

Trachinierinnen: 1. * Dienerin. Lichas. Herakles. 2. Deianeira. Amme (als Bote der Katastrophe). Greis. 3. Hyllos. Bote.

Aias: 1. Aias. Teukros. 2. Odysseus. Tekmessa. 3. Athene. Bote. Menelaos. Agamemnon.

Philoktetes: 1. Philoktetes. 2. Neoptolemos. 3. Odysseus. Kaufmann. Herakles.

Elektra: 1. Elektra. 2. Pfleger. Chrysothemis. Aegisthos. 3. Orestes. Klytämnestra.

Die mit * bezeichneten Rollen sind unsicher. Außer den drei Schauspielern hatte die attische Bühne allerdings mehre Nebenspieler für stumme Rollen, so in der Elektra den Pylades, in den Trachinierinnen die besonders ausgezeichnete Rolle der Jole, in der vielleicht Sophokles einen jungen Schauspieler, der ihm wert war, dem Volke vorführen wollte. Es ist wahrscheinlich, daß diese Nebenspieler zuweilen den Schauspielern kleine Nebenrollen abgenommen haben, z. B. die Eurydike in der Antigone, welche sehr kurz behandelt ist, die Dienerin des Prologs in den Trachinierinnen; wie hätten sie sonst ihre Stimme und Kraft versuchen können? Solche Aushilfe, die vielleicht doch einmal der Zuhörerschaft durch die Maske verdeckt blieb, wurde nicht als Mitspielen gerechnet. - Die Nebenspieler waren auch als Vertreter der drei Schauspieler auf der Bühne nötig, wenn in einer Szene die Gegenwart einer Maske wünschenswert war, der Schauspieler derselben aber zu derselben Zeit in einer andern Rolle auftreten mußte; dann figurierten die Nebenspieler in gleicher Kleidung und der betreffenden Maske, in der Regel ohne zu sprechen; zuweilen freilich mußten ihnen auch einzelne Zeilen gegeben werden; so wird die Ismene in der zweiten Hälfte des Oedipus auf Kolonos von einem Nebenspieler dargestellt, während der Schauspieler selbst den Theseus und Polyneikes spielt. Dieses Stück hat die Eigentümlichkeit, daß wenigstens auf dem Höhenpunkt eine Szene des Theseus von dem Schauspieler der Antigone, dem zweiten, gegeben wird, wahrend der dritte die übrigen Szenen dieser Partie besorgt; für eine einzelne Szene war diese Stellvertretung, wenn der Schauspieler Stimme usw. dazu eingeübt hatte, ohne besondere Schwierigkeit. Es ist aber möglich, daß der Darsteller der Antigone auch die erste Theseusszene gab. Antigone ist nämlich in das Gebüsch des Hintergrundes gegangen, um den Vater zu bewachen, sie kann sehr wohl als Theseus wieder auftreten. während ein Statist in ihrer Maske ab und zu sichtbar wird. Wenn gerade in diesem Stück ein vierter Schauspieler durch namhafte Rolle eingegriffen hätte, würde uns doch wohl eine Nachricht von der damals noch aufallenden Neuerung geblieben sein.
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Solche Verstärkung des Effekts durch eine Verminderung der szenischen Täuschung ist uns fremdartig, aber nicht unerhört. An dem Darstellen der Frauenrollen durch Männer - welches Goethe in Rom sah - hängt eine ähnliche Wirkung.

Diese Eigentümlichkeit der attischen Bühne gab dem Dichter einige Rechte im Aufbau der Handlung, die wir nicht mehr gestatten. Der erste Held konnte in seiner Hauptrolle für längere Teile des Stückes entbehrt werden, wie Antigone und Aias. Wenn in den Trachinierinnen der Hauptheld Herakles gar erst in der letzten Szene auftritt, so ist er doch in seinen Vertretern von Anfang an wirksam gewesen. Die Dienerin des Prologs, welche auf den abwesenden Herakles hinweist, sein Herold Lichas, der von ihm erzählt, sprechen mit der gedämpften Stimme des Helden.

Und dieses Zurücktreten des Haupthelden war den alten Dichtern häufig als kluge Aushilfe nötig, um die Schonung zu verdecken, welche vor andern der erste Schauspieler für sich fordern mußte. Die fast übermenschliche Anstrengung einer dramatischen Tagesleistung konnte nur dann ertragen werden, wenn nicht derselbe Darsteller in jeder der drei Tagestragödien die längste und angreifendste Rollengruppe hatte. Hauptrolle blieb den Griechen zwar immer die des Protagonisten, der die Würde und das Pathos hatte, auch wenn vielleicht dieser anstrengenden Partie nur eine Szene gegeben war. Aber der Dichter war gezwungen, das, was wir Hauptrolle nennen, die umfangreichste Partie, in einzelnen Stücken des Festtages dem zweiten oder dritten Schauspieler zu geben*; denn er mußte bedacht sein, die Verszahl der drei Tragödien möglichst gleichmäßig unter seine drei Kämpfer zu verteilen.

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* Auf unserer Bühne hat zwar jedes Stück einen ersten Helden, aber mehre Hauptrollen. Nicht häufig ist eine derselben umfangreicher als die des ersten Helden, z B. die des Falstaff in Heinrich IV.
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Die erhaltenen Tragödien des Sophokles unterscheiden sich aber durch die Beschaffenheit ihrer Handlung noch mehr als durch ihren Bau von dem Drama der Germanen. Das Teilstück der Sage, welches Sophokles für seine Handlung verwendet, hat eigentümliche Voraussetzungen. Sein Drama stellt, im Ganzen betrachtet, die Wiederherstellung einer bereits gestörten Ordnung dar, Rache, Sühne, Ausgleichung; die Voraussetzung desselben ist also die ärgste Störung, Verwirrung, Missetat. Das Drama der Germanen hat zu seiner Voraussetzung, im Ganzen betrachtet, eine gewisse, wenn auch ungenügende Ordnung und Ruhe, gegen welche sich die Person des Helden erhebt, Störung, Verwirrung, Missetat hervorbringend, bis er durch die gegenstrebenden Gewalten gebändigt und eine neue Ordnung hergestellt wird. Die Handlung des Sophokles beginnt also etwa nach dem Höhenpunkte unserer Stücke. Einer hat in Unwissenheit den Vater erschlagen, die Mutter geheiratet, das ist Voraussetzung; wie dies vorausgegangene Unheil an ihm zutage kommt, ist das Stück. Eine hofft auf den jungen Bruder in der Fremde, daß er den getöteten Vater an der bösen Mutter räche; wie sie trauert und hofft, durch falsche Nachricht von seinem Tode erschreckt, durch seine Ankunft beglückt wird und die Tat der Rache empfindet, das ist das Stück. Alles, was von Unglück, Frevel, Schuld der ungeheuren Rache vorausging, ja die Rachetat selbst wird dargestellt durch die Reflexe, welche in die Seele einer Frau fallen, der Schwester des Rächers, Tochter des Gemordeten und der Mörderin. Ein unglücklicher Fürst, aus seiner Heimat vertrieben, teilt der gastfreien Stadt, welche ihn aufnimmt, dankbar den geheimnisvollen Segen zu, welcher nach Götterspruch an seiner Grabstätte hängt. Eine Jungfrau beerdigt gegen den Befehl des Fürsten den Bruder, der im Felde erschlagen liegt, sie wird deshalb zum Tode verurteilt und zieht Sohn und Gattin des harten Richters mit sich in den Tod. Einem umherschweifenden Helden wird von der Gattin, welche von seiner Treulosigkeit hört und seine Liebe wiedergewinnen will, ein Zaubergewand in die Fremde gesendet, das ihm den Leib verbrennt. Aus Schmerz darüber tötet sich die Frau, er läßt sich durch Feuer verzehren.* Ein Held, der im Wahnsinn erbeutete Herden statt der gehaßten Fürsten seines Volkes erschlagen hat, tötet sich aus Scham, seine Genossen setzen ihm ein ehrliches Begräbnis durch. Ein Held, der wegen widerwärtiger Krankheit von seinem Heere auf eine menschenleere Insel ausgesetzt ist, wird, weil ein Götterspruch zum Heil des Heeres seine Rückkehr fordert, durch die Verhaßten, welche ihn aussetzten, zurückgeholt. - Immer ist, was dem Stücke vorausgeht, ein großer Teil dessen, was wir in die Handlung einschließen müßten.**

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* Die Voraussetzungen der Trachinierinnen sind allerdings, was Deianeira selbst betrifft, ziemlich einfach, aber Herakles ist der erste Held, und seine Vorbereitung zur Aufnahme unter die Götter war die große Schlagwirkung des Stückes.
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** Es ist gerade bei Sophokles unmöglich, aus den erhaltenen Namen und Versen verlorener Stücke einen Schluß auf den Inhalt zu machen. Was man sich nach der Sage als Inhalt des Dramas denken möchte. mag oft nur Inhalt des Prologs sein.
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Aber wenn uns von sieben erhaltenen Stücken des Sophokles auf mehr als hundert verlorene ein vorsichtiges Urteil erlaubt ist, scheint diese Behandlung der Mythen auch bei den Griechen nicht allgemein, sondern für Sophokles bezeichnend zu sein. Daß Aeschylos in seinen Trilogien größere Teilstücke der Sage: Unrecht, Verwicklung, Lösung, verwertete, erkennen wir deutlich. Bei Euripides wenigstens, daß er zuweilen über die abschließenden Endstücke der Sage hinausging oder das Vorausgegangene mit mehr Behagen als Kunst in epischem Prologe berichtete. In seinen beiden besten Stücken, dem Hippolytos und der Medea, ist die Handlung auf Voraussetzungen gebaut, die auch bei neueren Stücken möglich wären.

Diese Anordnung der Handlung bei Sophokles gestattete nicht nur die größte Aufregung leidenschaftlicher Empfindung, auch eine feste Charakterfügung; aber sie schloß dennoch zahlreiche innere Wandlungen aus, welche unseren Stücken unentbehrlich sind. Wie die ungeheuren Voraussetzungen auf die Helden wirken, das vermochte er mit unerreichter Meisterschaft darzustellen, aber es waren gegebene, höchst ungewöhnliche Zustände, durch welche die Helden beeinflußt wurden. Die geheimen und reizvollen Kämpfe des Innern, welche von einer verhältnismäßigen Ruhe bis zur Leidenschaft und zu einem Tun treiben, Zweifel und Regungen des Gewissens, und wieder die Umänderungen, welche in Empfindung und Charakter durch ein ungeheures Tun an dem Helden selbst hervorgebracht werden, erlaubt die Bühne des Sophokles nicht darzustellen. Wie jemand nach und nach etwas Fürchterliches erfuhr, wie er sich benahm, nachdem er einen verhängnisvollen Entschluß gefaßt hatte, das lockte zur Schilderung; wie er aber um den Entschluß kämpfte, wie das ungeheure Schicksal, das auf ihn eindrang, durch sein eigenes Tun bereitet wurde, das war, so scheint es, für die Bühne des Sophokles nicht dramatisch. Euripides ist darin beweglicher und uns ähnlicher, aber in den Augen seiner Zeitgenossen war das kein unbedingter Vorzug. - Einer der entschlossensten Charaktere unserer Bühne ist Macbeth; aber man kann wohl sagen, er wäre den Athenern vor der Szene durchaus unerträglich, schwächlich, unheldenhaft gewesen. Was uns als das Menschlichste in ihm erscheint und was wir als die größte Kunst des Dichters bewundern, sein gewaltiges Ringen um die Tat, der Zweifel, die Gewissensbisse, das war dem tragischen Helden der Griechen gar nicht gestattet. Die Griechen waren sehr empfindlich gegen Schwankungen des Willens; die Größe ihrer Helden bestand vor allem in Festigkeit. Der erste Schauspieler hätte schwerlich einen Charakter dargestellt, der sich durch andere Personen des Stückes in irgendeiner Hauptsache leiten läßt. Jedes Umstimmen der Hauptpersonen auch in Nebensachen mußte vorsichtig motiviert und entschuldigt werden. Oedipus weigert sich, seinen Sohn zu sehen, Theseus macht ihm vergebens ernste Vorstellungen über seine Hartnäckigkeit, Antigone muß erst den Zuschauern erklären: Anhören ist ja nicht Nachgeben. Wäre Philoktetes dem verständigen Zureden des zweiten Schauspielers gewichen, er wäre gänzlich in der Achtung der Hörer gesunken, er wäre nicht mehr der starke Held gewesen; Neoptolemos ändert allerdings seine Stellung zum Philoktetes, und das Publikum war höchlich dafür erwärmt worden, daß er es doch tat, aber das war nur Rückkehr zu seinem eigentlichen Wesen, und er war auch nur zweiter Schauspieler. Wir sind geneigt, den Kreon der Antigone als eine dankbare Rolle zu betrachten, den Griechen war er nur eine Rolle dritten Ranges; dem Charakter fehlt die Berechtigung zum Pathos. Gerade der Zug, welcher ihn unserer Empfindung nahestellt, daß er durch den Teiresias gründlich erschüttert und umgestimmt wird - jenes Kunstmittel des Dichters, eine neue Spannung in die Handlung zu bringen, - das verminderte den Griechen die Teilnahme an dem Charakter. Und daß derselbe Zug in der Familie und dem Stücke noch einmal vorkommt, daß auch Hämon nach dem Berichte des Boten zuerst den Vater töten will, dann aber sich selbst ermordet - für uns ebenfalls ein sehr bezeichnender und menschlicher Zug -, das scheint der attischen Kritik sogar einen Vorwurf gegen den Dichter begründet zu haben, der so unwürdiges Schwanken zweimal in der Tragödie vorführte. - Wo einmal eine Überführung des einen Charakters zu der Ansicht des andern durchgesetzt wird, da geht sie - außer in der Katastrophe des Aias - kaum während der Szene selbst vor sich, in welcher die Parteien gegeneinander mit langen und kurzen Versreihen fechten, sondern die Umwandlung wird gern hinter die Szene verlegt, der Beeinflußte tritt dann umgestimmt in die neue Situation.

Der Kampf des griechischen Helden war ein egoistischer, seine Zwecke mit seinem Leben beendigt. Dem Helden der Germanen ist die Stellung zum Schicksal auch deshalb eine andere, weil ihm der Zweck seines Daseins, der sittliche Inhalt, sein ideales Empfinden weit über das Leben selbst hinausreicht: Liebe, Ehre, Patriotismus. Der Zuhörer bei den Germanen bringt die Vorstellung mit, daß die Helden der Bühne nicht nur um ihrer selbst willen da sind, ja nicht einmal vorzugsweise, sondern daß gerade sie mit ihrer freien Selbstbestimmung höheren Zwecken zu dienen haben, mag man dies Höhere, über ihnen Stehende als Vorsehung und Weltordnung, als bürgerliche Gesellschaft, als Staat auffassen. Die Vernichtung ihres Lebens ist nicht mehr in der Weise Untergang, wie in der alten Tragödie. Im Oedipus auf Kolonos ergriff die Athener die Größe des Inhalts mächtig; sie empfanden hier einmal lebhaft die Humanität eines Lebens, welches über das Dasein hinaus, und zwar durch seinen Tod dem Gemeinwesen einen hohen Dienst erwies. Eben daher stammt die große Schlußwirkung der Eumeniden. Auch hier wurde Schicksal und Leiden des Einzelnen zum Segen für das Allgemeine gewendet. Daß die größten Unglücklichen der Sage, Oedipus und Orestes, für ihre Untat eine so hohe Sühne geben, das erschien den Griechen als eine neue und höchst edle Verwertung des Menschen auf der Bühne, die nicht ihrem Leben, aber ihrer Kunst fremd war. Uns Moderne läßt die undramatische Steigerung des Mitgefühls durch praktische, dem Vaterland nutzbringende Schlußergebnisse kalt. Aber es ist immerhin lehrreich, daß die beiden größten dramatischen Dichter der Hellenen einmal das Leben ihrer Helden in die Weltanschauung erhoben, in welcher wir selbst zu atmen und die Helden unserer Bühne zu sehen gewohnt sind.

Wie Sophokles seine Charaktere und Situationen unter solchem Zwange bildete, ist sehr merkwürdig. Sein Gefühl für die Kontraste wirkte mit der Stärke einer Naturkraft, welcher er selbst fast nicht Widerstand leisten konnte. Man betrachte noch einmal die harte, schadenfrohe Athene im Aias. Sie ist durch den Gegensatz zu dem menschlichen Odysseus hervorgerufen und zeigt die geforderte Gegenfarbe mit einer rücksichtslosen Schärfe, bei welcher die Göttin allerdings zu kurz kommt, weil sie die dem Menelaos ähnliche Schattierung ihres Wesens mit ihrer Göttlichkeit verständig erklären will. Dasselbe Stück gibt in jeder Szene guten Einblick in die Art und Weise seines Schaffens, welche so naturwüchsig und dabei doch so aller Wirkungen mächtig und so mühelos souverän ist, daß wir wohl begreifen, wenn die Griechen etwas Göttliches darin empfanden. Eine Stimmung fordert hier überall die andere, ein Charakter den andern, genau, rein, sicher treibt jede Farbe, jede Melodie die entsprechende andere hervor. Mittelpunkt des Stückes ist die Stimmung des Aias nach dem Erwachen. Wie edel und menschlich empfindet der Dichter das Wesen des Mannes unter den abenteuerlichen Voraussetzungen des Stückes! Der warmherzige, ehrliche, heißköpfige Held, der veredelte Berlichingen des Hellenenheers, ist einigemal knorrig gegen die Götter gewesen, da ist das Unglück über ihn gekommen. Die erschütternde Verzweiflung einer großartigen Natur, welche durch Schmach und Scham gebrochen wird, die rührende Verhüllung seines Entschlusses zu sterben und das gehaltene Pathos eines Kriegers, der aus freiem Entschluß seine letzte Tat tut, das waren die drei Bewegungen im Charakter des ersten Helden, die dem Dichter die drei großen Szenen und die Forderungen für das ganze Stück gaben. Zuerst als Gegensatz im Prolog das Bild des Aias selbst. Hier ist er noch Unmensch unter den getöteten Tieren, starr wie im Halbschlaf. Es ist der gegebene Gegensatz zu dem erwachten Helden, zugleich die höchste Klugheit. Die Situation war auf der Bühne ebenso lächerlich als unheimlich, der Dichter hütete sich wohl, etwas Anderes aus ihr machen zu wollen. Beide Gegenspieler mußten sich ihrem herabziehenden Zwange fügen. Odysseus erhielt einen leisen Anflug von diesem Lächerlichen, und Athene die kalte höhnende Härte. Es ist genau die richtige Farbe, welche das Dargestellte forderte, ein Gegensatz mit der rücksichtslosen Strenge ausgebildet, die nicht durch kalte Berechnung, nicht durch unbewußtes Gefühl, sondern geschaffen war, wie ein großer Dichter schafft, mit einer gewissen Naturnotwendigkeit und doch mit freiem Bewußtsein.

In derselben Abhängigkeit vom Haupthelden sind die sämtlichen Rollen des Stückes gebildet nach den Bedingungen, unter denen der Grieche für die drei Schauspieler schuf: als Mitspieler, Nebenspieler, Gegenspieler. Zunächst das andere Ich des Aias, der treue, pflichtvolle Bruder Teukros, dann die zweiten Rollen, sein Weib, die Beute seines Speeres, Tekmessa, liebend, besorgt, die aber wohl versteht, dem Helden entgegenzutreten, und sein freundlicher Gegner Odysseus; endlich die Feinde, wieder drei Abstufungen des Hasses: die Göttin, der feindliche Parteimann und der klügere Bruder desselben, dem der Haß durch Rücksichten der Staatsklugheit gebändigt wird. Wenn in der letzten Szene der Gegenspieler und der feindliche Freund des Helden sich über das Grab vertrugen, so erkannte der Athener aus dem Vertrag, den sie schlossen, sehr bestimmt den Gegensatz zu der Eröffnungsszene, wo dieselben Stimmen gegen den Wahnsinnigen Partei genommen hatten.

Auch innerhalb der einzelnen Charaktere des Sophokles ist die ungewöhnliche Reinheit und Kraft seines Harmoniegefühls, und dieselbe Art des Schaffens in Gegensätzen bewundernswert. Er empfand hier wieder sicher und ohne fehlzugreifen, was an ihnen wirksam sein konnte und was ihm nicht gestattet war. Die Helden des Epos und der Sage sträuben sich heftig gegen die Verwandlung in dramatische Charaktere, sie vertragen nur ein gewisses Maß von innerem Leben und menschlicher Freiheit; wer ihnen mehr verleihen will, dem zerreißen sie das lockere Gewebe ihrer - auf der Bühne barbarischen - Mythe in unbrauchbare Fetzen. Der weise Dichter der Athener erkennt sehr wohl die innere Härte und Unbildsamkeit der Gestalten, welche er in Charaktere umzuformen hat. Deshalb nimmt er sowenig als möglich von der Sage selbst in sein Drama auf. Er findet aber einen sehr einfachen und sehr verständlichen Grundzug ihres Wesens, wie ihn seine Handlung braucht, und läßt sie diese eine Charaktereigenschaft mit einer ausgezeichneten Strenge und Folgerichtigkeit immer wieder geltend machen. Dieser bestimmende Zug ist stets ein zum Tun treibender: Stolz, Haß, Gattenliebe, Pflichtgefühl, Amtseifer. Und der Dichter führt seine Charaktere keineswegs als ein milder Gebieter, er mutet ihnen nach ihrer Richtung das Kühnste und Äußerste zu, ja er ist so schneidend hart und erbarmungslos, daß uns weicheren Menschen über die furchtbare Einseitigkeit, in welcher er sie dahinschreiten läßt, vielleicht einmal Entsetzen ankommt, und daß auch die Athener solche Wirkungen mit dem Anpacken des Molosserhundes verglichen. Die trotzige Geschwisterliebe der Antigone, der tödlich gekränkte Stolz des Aias, die Verbitterung des gequälten Philoktetes, der Haß der Elektra werden in herber und gesteigerter Größe herausgetrieben und in den tödlichen Kampf gestellt.

Aber gegenüber dieser Grundlage der Charaktere empfindet er wieder mit wundervoller Schönheit und Sicherheit gerade die entsprechende milde und freundliche Eigenschaft, welche seinen Charakteren bei ihrer besonderen Härte möglich ist. Wieder tritt dieser Gegensatz mit der Kraft einer geforderten Gegenfarbe in den Helden heraus, und diese zweite und entgegengesetzte Eigenschaft seiner Personen fast immer die weiche, herzliche, rührende Seite ihres Wesens: Liebe neben Haß, Freundestreue neben Feindseligkeit, ehrliche Biederkeit neben jähem Zornmut - ist mit der höchsten Poesie und dem schönsten Farbenglanz geschmückt. Aias, der seine Feinde mit wahnsinnigem Hasse schlachten wollte, zeigt eine ungewöhnliche Stärke des Familiengefühls, treuherzige, tief innige Liebe zu seinen Genossen, dem entfernten Bruder, dem Kinde, der Gattin; Elektra, welche fast nur von dem Haß gegen ihre Mutter lebt, hängt sich mit den weichsten Lauten der Zärtlichkeit an den Hals des ersehnten Bruders; der gequälte, in greulichem Schmerz schreiende Philoktetes, der das Schwert verlangt, sich selbst die Knochen zu zerhauen, blickt so hilflos, dankbar und ergeben zu dem menschenfreundlichen Jüngling auf, der das widerwärtige Leiden ansehen kann, ohne sein Grauen zu offenbaren. - Nur die Hauptcharaktere zeigen diese Entfaltung ihrer kräftig empfundenen Einheit in zwei entgegengesetzten Richtungen, die Nebenpersonen weisen in der Regel nur die geforderte Ergänzungsfarbe auf: Kreon dreimal, Odysseus zweimal, beide in jedem ihrer Stücke anders abgeschattet, Ismene, Theseus, Orestes.

Solche Vereinigung zweier Kontrastfarben in einem Hauptcharakter war dem Griechen nur möglich, weil er ein großer Dichter und Menschenkenner war, das heißt, weil seine schaffende Seele deutlich die tiefsten Wurzeln eines menschlichen Daseins empfand, aus welchen die beiden gegenüberstehenden Blätter seiner Charaktere herauswuchsen. Und diese sichere Anschauung von dem Kern jedes Menschenlebens, die höchste Dichtereigenschaft ist es, welche bewirkt, daß das einfache Heraustreiben zweier entgegengesetzter Farben in dem Charakter den schönen Schein des Reichtums, der Fülle und Rundung hervorbringt. Es ist eine bezaubernde Täuschung, in welcher er seine Zuhörer zu erhalten weiß, sie gibt seinen Bildern genau die Art von Leben, welche in seinen Stoffen auf der Bühne möglich war. Bei uns zeigen die Charaktere großer Dichter weit kunstvollere Bildung als jene antiken, welche so einfach Blatt gegen Blatt aus der Wurzel heraufgeschossen sind; Romeo, Hamlet, Faust und Wallenstein können nicht auf so einfache Urform zurückgeführt werden. Und sie sind allerdings die Erzeugnisse einer höheren Entwicklungsstufe der Menschheit. Aber deshalb sind die Gestalten des Sophokles durchaus nicht weniger bewundernswert und fesselnd. Denn er weiß ihre einfache Anlage mit einem Adel der Gesinnung und in einer Schönheit und Größe der Umrisse zu bilden, die schon im Altertum Staunen erregten. Nirgend fehlt an Hauptcharakteren und Nebenfiguren Hoheit und Gewalt, überall empfindet man aus ihrer Haltung die Einsicht und unumschränkte Herrschermacht einer großen Dichternatur.

Aeschylos setzte in die Charaktere der Bühne einen charakteristischen Zug, der ihre Eigenart verständlich macht, in Prometheus, Klytämnestra, Agamemnon; Sophokles vertiefte seine großen Rollen, indem er ihnen zwei scheinbar entgegengesetzte, in Wahrheit einander fordernde und ergänzende Eigenschaften zuteilte; als Euripides weiterging und die Wirklichkeit nachahmend Bilder schuf, welche lebenden Menschen glichen, zerfuhr und verkrauste sich ihm die Faser des alten Stoffes, wie im Sonnenlicht das gefärbte Zeug der Deianeira.

Dieselbe Freudigkeit und das sichere Empfinden der Gegensätze läßt den Dichter Sophokles auch die Schwierigkeit überwinden, welche gerade seine Auswahl der Mythen bereitete. Die zahlreichen und ungeheuren Voraussetzungen, welche seine Handlung hat, scheinen einer kräftigen Aktion, die von dem Helden selbst ausgeht, besonders ungünstig. In den letzten Stunden ihres Schicksals sind, so scheint es, die Helden fast immer leidende, nicht frei waltende. Aber je größeren Druck von außen ihnen der Dichter auflegt, desto höher wird die Kraft, mit welcher er sie dagegen stemmt. Auch wo bereits in der ersten aufsteigenden Hälfte des Stückes Schicksal oder fremde Gewalt an dem Helden handelt, steht dieser nicht aufnehmend, sondern stößt mit größtem Nachdruck sein Wesen dagegen; er wird im Grunde allerdings getrieben, aber er scheint in ausgezeichneter Weise der Treibende, so König Oedipus, Elektra, selbst Philoktetes, sämtlich tatkräftige Naturen, welche zürnen, drängen, steigern. Wenn jemand in einer dem Drama gefährlichen Verteidigungsstellung stand, so war es der arme König Oedipus. Man sehe zu, wie Sophokles ihn bis zum Höhenpunkt in wachsender Aufregung als gegenkämpfend darstellt; je unheimlicher dem König selbst seine Sache wird, desto heftiger schlägt er auf seine Umgebung.

Dies sind einige der Bedingungen, unter denen der Dichter seine Handlung schuf. Wenn auch die Stücke des Sophokles mit den Chören ungefähr dieselbe Zeit in Anspruch nahmen, welche in mittlerem Durchschnitt unsere Dramen fordern, so ist doch die Handlung weit kürzer als die unsere. Denn ganz abgesehen von dem Chor, von den lyrischen und epischen Einsätzen, ist die ganze Anlage der Szenen größer und im Ganzen breiter; die Handlung würde nach unserer Art zu arbeiten kaum die Hälfte eines Theaterabends füllen. Die Übergänge zur folgenden Szene sind kurz, aber genau motiviert, Abgehen und Auftreten neuer Rollen wird erklärt, kleine Verbindungsglieder zwischen ausgeführten Szenen sind selten. Die Zahl der Einschnitte stand nicht fest, erst in der spätern Zeit der antiken Tragödie wurde die Fünfzahl der Akte festgehalten. Die einzelnen Glieder der Handlung waren durch Chorgesänge geschieden, jeder solche Teil, der in der Regel einer unserer ausgeführten Szenen entspricht, setzte sich in seinem Inhalt von dem Vorhergehenden ab, nicht so scharf als unsere Akte. Es scheint fast, daß die einzelnen Stücke des Tages - nicht die Teile eines Stückes- durch einen heraufgezogenen Vorhang bereits getrennt wurden. Zwar läßt sich das Situationsbild im Anfang des König Oedipus auch anders erklären, aber da die Dekoration des Sophokles bereits im Stück mitspielt - und er liebt es ebensosehr darauf hinzuweisen, wie Aeschylos auf seine Wagen und Flugmaschinen, - so muß ihre Befestigung vor Beginn eines neuen Stückes doch den Augen der Zuschauer entzogen worden sein.

Eine andere Eigentümlichkeit des Sophokles, soweit sie für uns erkennbar ist, liegt in dem schönen, ebenmäßigen Bau seiner Stücke.

Stärker als bei uns geschieht, waren Einleitung und Schluß des alten Dramas von dem übrigen Bau abgesetzt. Die Einleitung hieß Prologus, umfaßte einen oder mehre Auftritte von Solospielern vor dem ersten Einzug des Chors, enthielt alle Hauptsachen der Exposition und wurde durch Chorgesang von der aufsteigenden Handlung getrennt. Der Schluß, Exodus, in gleicher Weise durch Chorgesang von der sinkenden Handlung geschieden, war aus einer sorgfältig gearbeiteten Szenengruppe zusammengesetzt und umschloß den Teil der dramatischen Handlung, welchen wir Neuern Katastrophe nennen. Der Prolog des Sophokles ist in allen erhaltenen Stücken eine kunstvoll aufgebaute Dialogszene mit nicht unbedeutender Bewegung, in welcher zwei, zuweilen sämtliche drei Schauspieler auftreten und ihre Parteistellung zueinander darlegen. Er enthält aber zweierlei, erstens: die allgemeinen Voraussetzungen des Stückes; zweitens: was dem Sophokles eigentümlich zu sein scheint, eine besonders eindrucksvolle Vorführung des erregenden Momentes, das nach dem Chorgesange die Handlung bewegen soll.

Auf den Prolog folgt der erste Chorgesang, nach diesem die Handlung mit dem Eintreten der ersten Erregung; von da steigert sich die Handlung in zwei oder mehr Absätzen bis zum Höhenpunkt. Es sind bei Sophokles zuweilen sehr feine, an sich unbedeutende Motive, welche diese Steigerung verursachen. Mächtig aber erhebt sich die Spitze der Handlung, allen Farbenglanz, die höchste Poesie verwendet er zum Heraustreiben dieses Momentes. Und wo die Handlung einen starken Umschwung gestattet, folgt die Szene des Umschwungs, Peripetie oder Erkennung, nicht plötzlich und unerwartet, sondern mit feinem Übergange, immer in kunstvoller Ausführung. Von da stürzt die Handlung rasch zum Ende, nur zuweilen ist noch vor dem Exodus eine Stufe eingefügt. Die Katastrophe selbst aber ist wie eine besondere Handlung gebildet, sie besteht nicht aus einer Szene, sondern aus einem Bündel derselben, der glänzende Botenbericht, die dramatische Aktion und zuweilen lyrische Pathosszene liegen darin durch kurze Übergänge verbunden. Nicht in allen Stücken ist die Katastrophe gleich kräftig und mit hochgesteigerten Wirkungen behandelt. Es mag auch die Stellung des Stückes zu den andern desselben Tages die Arbeit des Schlusses bestimmt haben.

Die Tragödie „Antigone“ enthält- außer Prolog und Katastrophe - fünf Teile, von denen die drei ersten die Steigerung, der vierte den Höhenpunkt, der fünfte die Umkehr bilden. Jeder dieser Teile, durch einen Chorgesang von den übrigen getrennt, umfaßt eine zweiteilige Szene. Die Idee des Stückes ist: Eine Jungfrau, die wider den Befehl des Königs ihren im Kampfe gegen die Vaterstadt gefallenen Bruder beerdigt, wird von dem Könige zum Tode verurteilt; dem Könige gehn deshalb Sohn und Gattin durch Selbstmord verloren. Der Prolog bringt in einer Dialogszene, welche den Gegensatz der Heldin zu ihren befreundeten Helfern ausspricht, die Grundlage der Handlung und die Erklärung des aufregenden Momentes: den Entschluß der Antigone, ihren Bruder zu bestatten. Die erste Stufe der Steigerung ist nach Einführung des Königs Kreon der Botenbericht, daß Polyneikes heimlich beerdigt sei, Zorn des Kreon und sein Befehl an die Wächter, den Täter zu finden. Die zweite Stufe ist die Einführung der ergriffenen Antigone, das Aussprechen ihres Gegensatzes zu Kreon und das Eindringen der Ismene, welche sich für eine Mitschuldige der Schwester erklärt und mit ihr sterben will. Die dritte Stufe der Steigerung: das Flehen Hämons und, da Kreon unerbittlich bleibt, die Verzweiflung des Liebenden. Auf die Botenszene waren bis dahin immer größere bewegte Dialogszenen gefolgt. Den Höhenpunkt bildet die Pathosszene der Antigone, Gesang und Rezitation; an diese schließt sich der Befehl des Kreon, sie zum Tode abzuführen. Von da sinkt die Handlung schnell hinab. Der Seher Teiresias verkündet dem Kreon Unheil und straft seinen Trotz; Kreon wird erweicht und gibt Befehl, die Antigone aus dem Grabgewölbe, in dem sie eingeschlossen ist, zu befreien. Und jetzt beginnt die Katastrophe in einer großen Szenengruppe: Botenbericht über den Tod der Antigone und des Hämon und verzweifelter Abgang der Eurydike, Klageszene des Kreon und neuer Botenbericht über den Tod der Eurydike, Schlußklage des Kreon. Die Fortsetzung der Antigone selbst ist der Seher Teiresias und der Exangelos der Katastrophe, der befreundete Nebenspieler ist Ismene und Hämon, Gegenspieler mit geringerer Kraft und ohne Pathos ist Kreon. Eurydike ist nur Aushilfsrolle.

Das kunstvollste Stück des Sophokles ist „König Oedipus“, es besitzt alle feinen Erfindungen der attischen Bühne, außer den Variationen in Gesängen und Chor, Peripetie-, Erkennungs-, Pathosszenen, geschmückten Bericht des Endboten. Die Handlung wird durch das Gegenspiel beherrscht, hat kurzes Steigen, verhältnismäßig schwachen Höhenpunkt und längeres Sinken der Handlung. Der Prolog führt sämtliche drei Schauspieler auf und berichtet außer den Voraussetzungen: Theben unter Oedipus in Pestzeit, auch das aufregende Moment, den Orakelspruch: der Mord des Laios solle bestraft werden, damit die Stadt Befreiung von der Seuche finde. Von da steigt die Handlung in zwei Stufen. Erste: Teiresias, von Oedipus gerufen, weigert sich den Orakelspruch zu deuten; hart von dem heftigen Oedipus verdächtigt, weist er in doppeldeutigem Rätselwort auf den geheimnisvollen Mörder und scheidet im Zorne. Zweite Stufe: Streit des Oedipus mit Kreon durch Jokaste geschieden. Darauf Höhenpunkt: Unterredung des Oedipus und der Jokaste; die Erzählung der Jokaste von dem Tod des Laios und die Worte des Oedipus: „O Weib, wie faßt es plötzlich mich bei deinem Wort“ sind die höchste Stelle der Handlung. Bis dahin hat Oedipus den eindringenden Vermutungen heftigen Widerstand entgegengestellt, ob ihm auch allmählich bange geworden, jetzt fällt die Empfindung einer unendlichen Gefahr in die Seele. Seine Rolle ist der Kampf zwischen trotzigem Selbstgefühl und bodenloser Selbstverachtung, in dieser Stelle endet das erste, beginnt die zweite. Von da geht die Handlung wieder in zwei Stufen mit prachtvoller Ausführung abwärts, die Spannung wird durch das Gegenspiel der Jokaste vermehrt, denn was ihr die furchtbare Gewißheit gibt, täuscht noch einmal den Oedipus, die Effekte der Erkennungen sind hier meisterhaft behandelt. - Die Katastrophe ist dreigliedrig: Botenszene, Pathosszene, Schluß mit einem weichen und versöhnenden Akkord.

Einfach dagegen ist der Bau der „Elektra“. Er besteht außer Prolog und Katastrophe aus zwei Stufen der Steigerung und zwei Stufen des Falles, von denen aber die beiden dem Höhenpunkt zunächst stehenden mit diesem zu einer großen Szenengruppe verbunden sind, welche in dieser Tragödie den Mittelpunkt mächtig heraushebt. Das Stück enthält nicht nur die stärkste dramatische Wirkung, welche uns von Sophokles erhalten ist, es ist auch nach anderer Rücksicht sehr lehrreich, weil wir im Vergleich mit den Choephoren des Aeschylos und der Elektra des Euripides, welche denselben Stoff behandeln, deutlich erkennen, wie die Dichter sich einer nach dem andern die berühmte Sage zurichteten. Bei Sophokles ist Orestes, der Mittelpunkt zweier Stücke der Aeschyleischen Trilogie, durchaus als Nebenfigur behandelt, er verübt die ungeheure Tat der Rache auf Befehl und als Werkzeug Apollos, überlegt, gefaßt, ohne jede Spur von Zweifel und Schwanken, wie ein Krieger, der auf eine gefährliche Unternehmung ausgezogen ist, und nur die Katastrophe stellt diesen Hauptteil des alten Stoffes dramatisch dar. Der Inhalt des Stückes sind die Gemütsbewegungen eines höchst energischen und großartigen Frauencharakters, aber in ausgezeichneter Weise durch Wandlungen des Gefühls, durch Willen und Tat für die Bedürfnisse der Bühne geformt. Auf den Prolog, in welchem Orestes und sein Pfleger die Einleitung und die Darlegung des aufregenden Momentes geben: Ankunft der Rächer, welches in der Handlung aber zuerst als Traum und Vorahnung Klytämnestras wirkt - folgt die erste Stufe der steigenden Handlung: Elektra erhält von Chrysothemis die Nachricht, daß sie, die endlos Klagende, ins Gefängnis gesetzt werden solle; sie beredet Chrysothemis, den sühnenden Weiheguß, welchen die Mutter dem Grabe des gemordeten Vaters sendet, nicht darüber zu schütten. Zweite Stufe: Kampf der Elektra und Klytämnestra, dann Höhenpunkt: der Pfleger bringt die täuschende Nachricht vom Tode des Orestes. Verschiedene Wirkung der Nachricht auf die beiden Frauen. Pathosszene der Elektra. Daran geschlossen die erste Stufe der Umkehr: Chrysothemis kehrt freudig vom Grabe des Vaters zurück, verkündet, daß sie eine fremde Haarlocke als fromme Weihe darauf gefunden, ein Freund sei nahe; Elektra glaubt der guten Botschaft nicht mehr, fordert die Schwester auf, mit ihr vereint den Aegisthos zu töten, zürnt der widerstehenden Chrysothemis, Entschluß, allein die Tat zu tun. Zweite Stufe: Orestes als Fremder, mit dem Aschenkruge des Orestes. Trauer Elektras und Erkennungsszene, von hinreißender Schönheit. Der Exodus enthält die Darstellung der Rachetat zuerst in den fürchterlichen Gemütsbewegungen der Elektra, dann Auftreten und Tötung des Aegisthos.

Der Inhalt des „Oedipus auf Kolonos“ sieht, wenn man die Idee des Stückes betrachtet, höchst ungünstig für dramatische Behandlung aus. Daß ein umherirrender Greis den Segen, welcher nach Götterspruch an seinem Grabe hängen soll, nicht der undankbaren Vaterstadt, sondern gastfreien Fremdlingen zuwendet, ein solcher Stoff scheint nur zufälliger patriotischer Empfindung der Hörer leidlich. Und doch hat Sophokles auch hier Spannung, Steigerung, leidenschaftlichen Kampf von Haß und Liebe einzusetzen gewußt. Das Stück hat aber eine Besonderheit im Aufbau. Der Prolog ist zu einem größeren Ganzen erweitert, welches auch im äußern Umfange der Katastrophe entspricht; er besteht aus zwei Teilen, jeder aus drei kleinen Szenen, zusammengefügt durch ein pathetisches Moment: Wechselgesang zwischen den Solospielern und dem bereits hier auftretenden Chor. Der erste Teil des Prologs enthält die Exposition, der zweite das aufregende Moment, die Nachricht, welche Ismene dem greisen Oedipus bringt, daß er von seiner Vaterstadt Theben verfolgt werde. Von da steigert sich die Handlung in einem einzigen Absatz: Theseus, Herr des Landes, erscheint, verspricht seinen Schutz - bis zum Höhenpunkte, einer großen Streitszene mit kräftiger Aktion: Kreon tritt auf, die Töchter mit Gewalt fortreißend, den Oedipus selbst mit Zwang bedrohend, damit er heimkehre, aber Theseus bewährt seine schützende Gewalt und entfernt den Kreon. Darauf folgt die Umkehr in zwei Stufen, die Töchter werden dem Greise durch Theseus gerettet zurückgebracht; Polyneikes erfleht in eigennützigem Sinne Versöhnung mit dem Vater und Rückkehr desselben. Unversöhnt entsendet ihn Oedipus, nur Antigone spricht mit rührenden Worten die Treue der Schwester aus. Darauf die Katastrophe: die geheimnisvolle Entrückung des Oedipus, kurze Redeszene und Chor, dann große Botenszene und Schlußgesang. Das Stück wird durch die Erweiterung des Prologs und der Katastrophe um etwa dreihundert Verse länger als die übrigen erhaltenen Dramen des Sophokles. Die freiere Behandlung der feststehenden Szenenform läßt ebenso wie der Inhalt erkennen, was wir auch aus alten Berichten wissen, daß die Tragödie eines der letzten Werke des greisen Dichters war.

Vielleicht das früheste der erhaltenen Dramen ist „Die Trachinierinnen.“ Auch hier ist einiges Auffällige im Bau: der Prolog enthält nur die Einleitung, Sorge der Gattin Deianeira um den in der Ferne weilenden Herakles und Entsendung des Sohnes Hyllos, den Vater aufzusuchen. Das aufregende Moment liegt im Stücke selbst und bildet die erste Hälfte der zweiteiligen Steigerung: Nachricht von der Ankunft des Herakles. Zweite Stufe: Deianeira erfährt, daß die gefangene Sklavin, welche der Gatte vorausgesendet hat, seine Geliebte ist. Höhenpunkt: im ehrlichen Herzen faßt Deianeira den Entschluß, dem geliebten Manne einen Liebeszauber zu senden, den ihr ein von ihm erschlagener Feind hinterlassen. Sie übergibt das Zaubergewand dem Herold. Die fallende Handlung in einer Stufe berichtet ihre Sorge und Reue über die Sendung, sie hat durch eine Probe erkannt, daß etwas Unheimliches in dem Zauber sei. Der rückkehrende Sohn verkündet ihr mit harten Worten, daß dem Gemahl das Geschenk tödliche Krankheit bereitet habe. Darauf die zweiteilige Katastrophe, zuerst Botenszene, welche den Tod der Deianeira verkündet, dann wird Herakles selbst, der Hauptheld des Stückes, in der Pein tödlicher Schmerzen vorgeführt, wie er nach großer Pathosszene von seinem Sohne die Verbrennung auf dem Berge Öta fordert.

Die Tragödie „Aias enthält nach dem dreiteiligen Prolog eine Steigerung in drei Stufen, zuerst Klage und Familiengefühl des Aias und seinen Entschluß zu sterben; dann das Verhüllen seines Planes aus Rücksicht auf die Trauer der Befreundeten; endlich (ohne daß ein Szenenwechsel anzunehmen ist) einen Botenbericht, daß Aias sich an diesem Tage nicht aus dem Zelt entfernen solle, und den Abgang der Gattin und des Chors, den Entfernten zu suchen. Darauf den Höhenpunkt, die Pathosszene des Aias und seinen Selbstmord, besonders dadurch ausgezeichnet, daß der Chor vorher aus der Orchestra abgetreten ist, die Szene erhält dadurch den Charakter eines Monologs. Darauf folgt die Umkehr in zwei Teilen, zuerst das Auffinden des Toten, Klage der Tekmessa und des eintretenden Bruders Teukros; dann der Streit zwischen Teukros und Menelaos, welcher die Beerdigung verbieten will. Die Katastrophe endlich, eine Steigerung dieses Streites in einer Dialogszene zwischen Teukros und Agamemnon, die Vermittelung durch Odysseus und die Versöhnung.

Philoktetes“ ist durch besonders regelmäßigen Bau ausgezeichnet; die Handlung steigt und fällt in schönem Ebenmaße. Nachdem im Prolog eine Dialogszene zwischen Odysseus und Neoptolemos die Voraussetzungen und das erregende Moment erklärt hat, folgt der erste Teil, die Steigerung, in einer Gruppe von drei verbundenen Szenen, darauf der Höhenpunkt und das tragische Moment in zwei Szenen, von denen die erste eine prachtvoll ausgeführte, zweiteilige Pathosszene ist, dann der dritte Teil, die Umkehr, genau dem ersten entsprechend, wieder in einer Gruppe von drei verbundenen Szenen. Ebenso genau entsprechen einander die Chöre. Der erste Gesang ist Wechselgesang des zweiten Schauspielers mit dem Chor, der dritte ebenso ein Wechselgesang des ersten Schauspielers mit dem Chor. Nur in der Mitte steht ein voller Chorgesang. Die Auflösung des eintretenden Chors in ein dramatisch bewegteres Zusammenspiel - sowohl im Philoktetes als im Oedipus auf Kolonos - ist wohl nicht zufällig. Man möchte aus der sicheren Beherrschung der Formen und aus der meisterhaften Szenenführung schließen, daß dies Drama der späteren Zeit des Sophokles angehört.*

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Prolog:

Neoptolemos Odysseus.

Chor und Neoptolemos

 

im Wechselgesang

 

Steigerung der Handlung

1. Botenszene mit Erkennung

Philoktetes, Neoptolemos

 

2. Botenszene

Vorige, Kaufmann.

 

3. Erkennungsszene (des Bogens) Chorgesang

Philoktetes, Neoptolemos.

Höhenpunkt, das tragische

1. Doppelpathosszene

Philoktetes Neoptolemos

Moment

2. Dialogszene


Vorige, Odysseus.

Chor und Philoktetes

im Wechselgesang.

 

sinkende Handlung und

Katastrophe

1. Dialogszene.

Neoptolemos, Odysseus.

 

2. Dialogszene.

Philoktetes, Neoptolemos, dazu Odysseus.

 

3. Verkündigung und Schluß.

Philoktetes, Neoptolemos. Herakles.

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Auch hier hat der erste Schauspieler Philoktetes die pathetische Rolle; die heftigen Bewegungen desselben, mit wunderbarer Schönheit und reichen Einzelzügen dargestellt, gehen durch einen großen Kreis von Stimmungen und erheben sich in dem Höhenpunkt, der großen Pathosszene des Stückes, mit markerschütternder Gewalt; nie ist wohl kühner und großartiger der für das Drama so bedenkliche Zustand entsetzlicher Körperschmerzen und gleich darauf der nagenden Seelenleiden geschildert worden. Aber der ehrliche, verbitterte, hartnäckige Mann gab für die Handlung selbst nicht Gelegenheit zu dramatischem Fortschritt. So ist dieser in die Seele des zweiten Schauspielers gelegt und Neoptolemos Träger der Handlung. Nachdem er sich im Prolog den schlauen Ratschlägen des Odysseus nicht ohne Widerwillen gefügt hat, versucht er im ersten Teil der Handlung den Philoktetes durch Täuschung fortzuführen, Philoktetes stützt sich vertrauend auf ihn als den Helfer, der ihn in die Heimat zu bringen verheißt, und übergibt ihm den heiligen Bogen. Aber der Anblick der schweren Leiden des Kranken, der rührende Dank des Philoktetes für die Menschlichkeit, welche ihm bewiesen wird, erregen dem Sohne Achills das edle Herz, und im innern Kampfe gesteht er dem Kranken seine Absicht, ihn mit seinem Bogen zum Griechenheer zu bringen. Die Vorwürfe des enttäuschten Philoktetes vermehren seine Gewissensbisse; daß der herbeieilende Odysseus den Kranken mit Gewalt festhalten läßt, steigert dem Neoptolemos die Aufregung. Beim Beginn der Katastrophe stellt sich des Neoptolemos Ehrlichkeit gegen Odysseus selbst zum Streit, er gibt dem Philoktetes den tötenden Bogen zurück, fordert ihn noch einmal auf, zum Heere zu folgen, und als dieser sich weigert, verspricht er ihm hochgesinnt, das Wort, das er im ersten Teil der Handlung trügerisch gab, jetzt wahr zu machen, dem Haß des ganzen Griechenheeres zu trotzen und den armen Leidenden mit seinem Schiff in die Heimat zu führen. So ist durch die Charakterbewegung des treibenden Helden die Handlung dramatisch geschlossen, aber allerdings in geradem Gegensatz zu der überlieferten Sage, und Sophokles hat, um das Unveränderliche des Stoffes mit dem dramatischen Leben seines Stückes in Einklang zu bringen, zu einem Aushilfsmittel gegriffen, das in keinem anderen seiner erhaltenen Stücke benutzt wird: er läßt in der Schlußszene das Bild des Herakles erscheinen und den Entschluß des Philoktetes umstimmen.

Dieser Schluß, für unsere Empfindung unorganisch, ist doch nach doppelter Richtung belehrend, er zeigt, wie schon Sophokles durch die epische Härte des überlieferten Mythos eingeengt wurde und wie seine hohe Begabung gegen Gefahren kämpfte, an denen kurz nach ihm die alte Tragödie untergehen sollte. Ferner aber belehrt er über das Mittel, wodurch der weise Dichter den Übelstand einer umstimmenden Erscheinung zwar nicht für unser Gefühl, aber für die Empfindung seiner Zuschauer zu bewältigen wußte. Zunächst beruhigte er sein künstlerisches Gewissen dadurch, daß er die innere dramatische Bewegung vorher vollständig abschloß. Das Stück, soweit es zwischen Neoptolemos und Philoktetes spielt, ist zu Ende. Nach stürmischem Kampfe haben sich beide Helden in ein edles Einvernehmen gestellt. Aber sie sind auf einem Standpunkt angelangt, gegen welchen Götterspruch und der Vorteil des Hellenenheeres Widerspruch einlegen. Dieses höchste Interesse nun vertritt der dritte Schauspieler, der listenfrohe, rücksichtslose Staatsmann Odysseus. Mit der Vorliebe, welche Sophokles auch sonst noch für seinen dritten Mann zeigt, hat er hier die Persönlichkeit desselben besonders fein verwertet. Nachdem der Gegenspieler im Prolog den wohlbekannten Charakter des Odysseus behaglich ausgesprochen hat, erscheint er gleich darauf in einer Verkleidung, bei welcher der Zuhörer nicht nur im Voraus weiß, daß die fremde Gestalt eine listige Erfindung des Odysseus ist, sondern auch die Stimme des Odysseus und sein schlaues Gebaren erkennt. Und noch dreimal tritt er als Odysseus in die Handlung, um auf den Vorteil des Ganzen, die Notwendigkeit des Zugreifens hinzuweisen, immer höher und nachdrücklicher wird sein Widerspruch. Zuletzt in der Katastrophe, kurz bevor der göttliche Heros in der Höhe sichtbar wird, tönt die Stimme und erscheint die Gestalt des warnenden Odysseus, wahrscheinlich im Schutz des Felsens, um nochmals Widerspruch zu erheben, und diesmal ist sein drohender Zuruf streng und siegbewußt. Wenn nun kurze Zeit darauf vielleicht über derselben Stelle, wo sich Odysseus auf Augenblicke gezeigt, die verklärte Gestalt des Herakles sichtbar wird und wieder mit der Stimme des dritten Schauspielers dasselbe fordert, mild und versöhnend, so erschien dem Zuschauer Herakles selbst wie eine Steigerung des Odysseus, und bei dieser letzten Wiederholung desselben Befehls empfand er nicht nur ein von außen hereintretendes Neues, sondern noch lebhafter die unwiderstehliche Kraft des klugen Menschenverstandes, der durch das ganze Stück gegen die leidenschaftliche Befangenheit der andern Darsteller gekämpft hatte. Das Kluge und Absichtliche dieser Steigerung, die geistige Einheit der drei Rollen des dritten Schauspielers wurde von den Hörern zuverlässig als eine Schönheit des Stückes empfunden.

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