Viertes Kapitel. Die Charaktere
1. Die Völker und Dichter.
Die Bildung der dramatischen Charaktere bei den Germanen
zeigt deutlicher, als der Bau ihrer Handlung, den großen Fortschritt,
welchen das Menschengeschlecht seit dem Erscheinen der dramatischen Kunst
bei den Griechen gemacht hat. Sowohl die natürliche Anlage unseres
Volkes als seine Stellung über den Jahrtausenden einer verschütteten
Welt und die dadurch gebotene Ausbildung des geschichtlichen Sinnes erklären
diese Verschiedenheit. Seit dem neueren Drama die Aufgabe wurde, durch
Poesie und Schauspielkunst auf der Bühne den Schein eines individuellen
Lebens bis zur Täuschung genau darzustellen, hat die Schilderung
der Charaktere eine Bedeutung für die Kunst gewonnen, welche sie
in der alten Welt nicht hatte.
Die poetische Kraft des dramatischen Dichters erweist sich am unmittelbarsten
in Erfindung der Charaktere. Beim Aufbau der Handlung, bei der Einrichtung
für die Bühne helfen ihm andere Eigenschaften; eine sichere
Bildung, ein männlicher Zug in dem eigenen Wesen, gute Schule und
Erfahrung; wo aber die Fähigkeit zu scharfer Zeichnung der Charaktere
gering ist, wird vielleicht ein bühnengerechtes, nie ein bedeutendes
Werk geschaffen werden. Macht dagegen eigentümliche Erfindung die
einzelnen Rollen anziehend, da darf man gute Hoffnung hegen, wenn auch
das Zusammenwirken der Gestalten zum Gesamtbilde noch sehr mangelhaft
ist. Deshalb ist gerade bei diesem Teile des künstlerischen Schaffens
durch Lehre weniger zu helfen, als bei jedem andern. Die Poetik des griechischen
Denkers, wie sie uns erhalten ist, enthält über die Charaktere
nur wenige Zeilen. Auch in unserer Zeit vermag die Technik nichts als
dürftige Vorschriften aufzustellen, die den Schaffenden nicht einmal
wesentlich fördern. Was diese Regeln für die Arbeit geben können,
trägt der Dichter im Ganzen sicher in sich, und was er nicht hat,
vermögen sie nicht zu geben.
Das Charakterisieren des Dichters beruht auf der alten Eigenschaft des
Menschen, jedes Lebendige als geschlossene Persönlichkeit zu empfinden,
in welcher eine Seele, gleich der des Beobachters, als Bewegendes vorausgesetzt
und darüber das Besondere, Eigenartige des fremden Daseins als reizvoll
genossen wird. In diesem Drange bildet der Mensch, lange bevor ihm sein
poetisches Schaffen zu einer gelehrten Kunst wird, alles, was ihn umgibt,
in Persönlichkeiten um, denen er mit geschäftiger Einbildungskraft
viel von dem eigenen menschlichen Wesen verleiht. Aus Donner und Blitz
wird ihm eine Göttergestalt, welche auf dem Streitwagen über
dem hohlen Himmelsboden daherfährt, den feurigen Speer schleudernd;
die Wolken wandeln sich in Himmelskühe und Schafe, aus welchen eine
göttliche Gestalt die Himmelsmilch auf die Erde schüttet. Auch
die Geschöpfe, welche neben dem Menschen die Erde bewohnen, empfindet
er als menschenähnliche Persönlichkeiten, so den Bären,
Wolf, Fuchs. Ebenso legt noch jeder von uns dem Hund, der Katze Vorstellungen
und Empfindungen unter, welche uns geläufig sind, und nur weil uns
solches Auffassen des Fremdartigen durchaus Bedürfnis und Vergnügen
ist, werden uns die Tiere so heimisch. Unablässig äußert
sich derselbe personenbildende Trieb. Auch im Verkehr mit Menschen, alltäglich,
bei jeder ersten Bekanntschaft eines Fremden, formen wir aus den wenigen
Lebensäußerungen, die uns von ihm zugehen, aus einzelnen Worten,
dem Ton seiner Stimme, dem Ausdruck seines Gesichtes, das Bild einer geschlossenen
Persönlichkeit, zunächst dadurch, daß wir die unvollständigen
Eindrücke blitzschnell aus dem Vorrat der Phantasie, nach der Ähnlichkeit
mit früher Beobachtetem ergänzen. Spätere Beobachtungen
derselben Person mögen das Bild, welches uns in die Seele gefallen
ist, umformen, reicher und tiefer ausbilden; aber schon bei dem ersten
Eindruck, wie gering die Zahl der eigenartigen Züge sei, empfinden
wir diese als ein folgerichtiges, streng geschlossenes Ganze, in welchem
wir das Eigentümliche auf der Grundlage des gemeinsamen Menschlichen
erkennen. Dieses Gestalten ist allen Menschen, allen Zeiten gemein, es
wirkt in jedem von uns mit der Notwendigkeit und Schnelle einer ureigenen
Kraft, es ist jedem eine stärkere oder schwächere Fähigkeit,
jedem ein reizvolles Bedürfnis.
Auf dieser Tatsache beruht die Wirkung des dramatischen Charakterisierens.
Die erfindende Kraft des Dichters bringt den kunstvollen Schein eines
reichen individuellen Lebens hervor, weil er einige - verhältnismäßig
wenige - Lebensäußerungen einer Person so zusammenstellt, daß
die von ihm als Einheit verstandene und empfundene Person auch
dem Schauspieler und dem Zuhörer als ein eigenartiges Wesen verständlich
wird. Selbst bei den Haupthelden eines Dramas ist die Zahl ihrer Lebensäußerungen,
welche der Dichter in der Beschränkung durch Zeit und Raum zu geben
vermag, ist die Gesamtzahl der charakterisierenden Züge doch nur
gering; vollends bei den Nebenfiguren müssen vielleicht zwei, drei
Andeutungen, wenige Worte den Schein eines selbständigen höchst
eigentümlichen Lebens hervorbringen. Wie ist das möglich? Deshalb,
weil der Dichter das Geheimnis versteht, durch seine Arbeit den nachschaffenden
Sinn der Hörer anzuregen. Denn auch das Verstehen und Genießen
eines Charakters wird nur dadurch erreicht, daß die Selbsttätigkeit
des empfangenden Zuschauers dem Schaffenden hilfreich und kräftig
entgegenkommt. - Also was Dichter und Schauspieler in der Tat geben, sind
an sich einzelne Striche, aber durch sie vermag ein scheinbar reich ausgestattetes
Bild, in welchem wir eine Fülle von eigentümlichem Leben ahnen
und voraussetzen, hervorzuwachsen, weil Dichter und Schauspieler die erregte
Einbildungskraft des Hörers zwingen, selbstschöpferisch mitzuarbeiten.
Die Art und Weise der dramatischen Charakterbildung durch die Dichter
zeigt die größte Mannigfaltigkeit. Sie ist zunächst nach
Zeiten und Völkern verschieden. Sehr verschieden bei Romanen und
Germanen. Das Behagen an charakterisierenden Einzelheiten ist von je bei
den Germanen größer gewesen, bei den Romanen größer
die Freude an der zweckvollen Gebundenheit der dargestellten Menschen
durch eine kunstvoll verschlungene Handlung. Tiefer faßt der Deutsche
seine Kunstgebilde, ein reicheres inneres Leben sucht er an ihnen zur
Darstellung zu bringen, das Eigentümliche, ja Absonderliche hat für
ihn großen Reiz. Der Romane aber empfindet das Beschränkte
des Einzelnen vorzugsweise vom Standpunkt der Konvenienz und Zweckmäßigkeit,
er macht die Gesellschaft, nicht wie der Deutsche das innere Leben des
Helden, zum Mittelpunkt, ihn freut es, fertige Personen, oft nur mit flüchtigem
Umriß der Charaktere, einander gegenüber zu stellen; ihre verschiedenen
Tendenzen sind es, wodurch sie im Gegenspiel zu einander anziehend werden.
Auch da, wo genaue Darstellung eines Charakters, wie bei Molière,
die besondere Aufgabe ist, und wo die Einzelheiten der Charakteristik
hohe Bewunderung abnötigen, sind diese Charaktere, der Geizige, der
Heuchler, meist innerlich fertig, sie stellen sich mit einer zuletzt ermüdenden
Eintönigkeit in verschiedenen gesellschaftlichen Beziehungen vor,
sie werden trotz der Vortrefflichkeit der Zeichnung unserer Bühne
immer fremder werden, weil ihnen das höchste dramatische Leben fehlt,
das Werden des Charakters. Wir wollen auf der Bühne lieber
erkennen, wie einer geizig wird, als wie er es ist.
Was also dem Germanen die Seele füllt, einen Stoff wert macht und
zu schöpferischer Tätigkeit reizt, ist vorzugsweise die eigenartige
Charakterbewegung der Hauptfiguren, ihm gehen in schaffender Seele leicht
zuerst die Charaktere auf, zu diesen erfindet er die Handlung, aus ihnen
strahlt Farbe, Licht und Wärme auf die Nebenfiguren; den Romanen
lockt stärker die fesselnde Verbindung der Handlung, die Unterordnung
des Einzelwesens unter den Zwang des Ganzen, die Spannung, die Intrige.
Dieser Gegensatz ist alt, er dauert noch in der Gegenwart. Dem Deutschen
wird es schwerer, zu den tief empfundenen Charakteren die Handlung aufzubauen,
dem Romanen verschlingen sich leicht und anmutig die Fäden derselben
zu einem kunstvollen Gewebe. Diese Eigentümlichkeit bedingt auch
einen Unterschied in der Fruchtbarkeit und in dem Werte der Dramen. Die
Literatur der Romanen hat wenig, was sie den höchsten Leistungen
des germanischen Geistes an die Seite setzen kann; aber den schwächeren
Talenten unseres Volkes gedeiht bei ihrer Anlage häufig kein brauchbares
Theaterstück. Einzelne Szenen, einzelne Personen erwärmen und
fesseln, dem Ganzen fehlt die saubere, spannende Ausführung. Den
Fremden gelingt das Mittelgut besser; auch da, wo weder die dichterische
Idee noch die Charaktere Anspruch auf dichterischen Wert haben, unterhält
noch die kluge Erfindung der Intrige, die kunstvolle Verbindung der Personen
zu bewegtem Leben. Während bei den Germanen jenes höchste Dramatische:
das Durcharbeiten der Empfindung in der Seele bis zur Tat, seltener, aber
dann wohl einmal mit unwiderstehlicher Kraft und Schönheit in der
Kunst zutage kommt, findet sich bei den Romanen weit häufiger und
fruchtbarer die zweite Eigenschaft des dramatischen Schaffens: die Erfindung
des Gegenspiels, die wirkungsvolle Darstellung des Kampfes, welchen die
Umgebung des Helden gegen die Beschränktheiten desselben führt.
Ferner aber ist bei jedem einzelnen Dichter die Art des Charakterisierens
eine verschiedene, sehr verschieden der Reichtum an Gestalten, ebenso
die Sorgfalt und Deutlichkeit, womit ihr Wesen dem Zuhörer dargelegt
wird. Auch hier ist Shakespeare der reichste und tiefste der Schaffenden,
nicht ohne eine Eigentümlichkeit, welche uns zuweilen in Verwunderung
setzt. Wir sind geneigt anzunehmen und wissen aus vielen Nachrichten,
daß sein Publikum nicht vorzugsweise aus den Scharfsinnigen und
Gebildeten Altenglands bestand, wir sind also berechtigt vorauszusetzen,
daß er seinen Charakteren ein einfaches Gewebe geben und ihre Stellung
zu der Idee des Dramas nach allen Seiten hin genau darlegen werde. Das
geschieht nicht immer. Zwar bleibt der Hörer bei den Haupthelden
Shakespeares nie über wichtige Motive ihres Handelns in Ungewißheit,
ja die volle Kraft seiner Dichtergröße kommt gerade dadurch
zur Erscheinung, daß er in den Hauptcharakteren die Vorgänge
der Seele von der ersten aufsteigenden Empfindung bis zum Höhenpunkte
der Leidenschaft mit gewaltig packender Kraft und Wahrheit auszudrücken
weiß, wie kein anderer. Auch die vorwärts treibenden Gegenspieler
seiner Dramen, z. B. Jago, Shylock, verfehlen nicht, den Zuschauer zum
Vertrauten ihres Wollens zu machen. Und wohl darf man sagen, daß
die Charaktere Shakespeares, deren Leidenschaft doch die höchsten
Wellen schlägt, zugleich mehr als das Gebilde irgendeines anderen
Dichters gestatten, tief hinab in ihr Inneres zu blicken. Aber diese Tiefe
ist für die Augen des darstellenden Künstlers wie für den
Hörer zuweilen unergründlich, und seine Charaktere sind in ihrem
letzten Grunde durchaus nicht immer so durchsichtig und einfach, wie sie
flüchtigen Augen erscheinen, ja mehre von ihnen haben etwas besonders
Rätselhaftes und schwer Verständliches, welches ewig zur Deutung
lockt und doch niemals ganz erfaßt werden kann.
Nicht nur solche, wie Hamlet, Richard III., Jago, in denen besonderer
Tiefsinn oder ein nicht leicht verständlicher Grundzug des Wesens
und einzelne wirkliche oder scheinbare Widersprüche auffallen, sondern
auch solche Charaktere, welche bei oberflächlicher Betrachtung die
geradlinige Straße bühnengemäß dahinschreiten.
Man prüfe die Urteile, welche in Deutschland seit etwa hundert Jahren
über die Charaktere im Julius Cäsar abgegeben worden sind, und
die freudige Beistimmung, mit welcher unsere Zeitgenossen die edlen Wirkungen
dieses Stückes aufnehmen. Der warmherzigen Jugend ist Brutus der
edle, das Vaterland liebende Held; ein ehrlicher Erklärer aus dem
Gelehrtenzimmer sieht in Cäsar den großen, festen, allen überlegenen
Charakter; ein Politiker von Fach freut sich der ironischen, rücksichtslosen
Strenge, womit der Dichter von der Einleitung an seinen Brutus und Cassius
als unpraktische Toren, ihre Verschwörung als ein kopfloses Wagnis
unfähiger Aristokraten behandelt hat. Der Schauspieler von Urteil
endlich findet in demselben Cäsar, den ihm sein Erklärer beredt
als Musterbild eines Machthabers geschildert hat, einen innerlich bis
zum Tode erkrankten Helden, eine Seele, in welcher bereits der Größenwahn
das kräftige Gefüge zerfressen hat. Wer hat Recht? Jeder von
ihnen. Und doch hat jeder auch die Empfindung, daß die Charaktere
durchaus nicht aus ungehörigen Bestandteilen gemischt, künstlich
zusammengesetzt, oder irgendwie unwahr sind. Jeder von ihnen fühlt
deutlich, daß sie vortrefflich geschaffen, auf der Bühne höchst
wirksam leben, am meisten der Schauspieler selbst, wenn ihm auch das Geheimnis
der Dichterkraft Shakespeares nicht ganz verständlich wurde. Wenn
er aber dies Geheimnis erkennt, so wird er mit einer Ehrfurcht darauf
blicken, die ebenso groß sein mag, als jene Pietät der Griechen,
welche dem Genius des Sophokles einen Altar stiftete.
Denn Shakespeares Art der Charakterbildung stellt in ungewöhnlicher
Größe und Vollkommenheit dar, was dem Schaffen der Germanen
überhaupt eigen ist gegenüber der alten Welt und gegenüber
den Kulturvölkern, welche nicht mit deutschem Leben durchsetzt sind.
Dies Germanische aber ist die Fülle und liebevolle Wärme, welche
jede einzelne Gestalt zwar genau nach den Bedürfnissen des einzelnen
Kunstwerks formt, aber auch das ganze außerhalb des Stückes
hegende Leben derselben überdenkt und in seiner Besonderheit zu erfassen
sucht. Während der Deutsche behaglich die Bilder der Wirklichkeit
mit den bunten Fäden der spinnenden Phantasie überzieht, empfindet
er die wirklichen Grundlagen seiner Charaktere, das tatsächliche
Gegenbild mit menschenfreundlicher Achtung und mit dem möglichst
genauen Verständnis seines gesamten Inhalts. Dieser Tiefsinn, die
liebevolle Hingabe an das Individuelle und wieder die hohe Freiheit, welche
mit dem Bilde wie mit einem werten Freunde zweckvoll verkehrt, haben seit
alter Zeit den gelungenen Gestalten der deutschen Kunst einen besonders
reichen Inhalt gegeben, darum ist in ihnen ein Reichtum von Einzelzügen,
ein gemütlicher Reiz und eine Vielseitigkeit, durch welche die Geschlossenheit,
wie sie dramatischen Charakteren notwendig ist, nicht aufgehoben, sondern
in ihren Wirkungen höchlich gesteigert wird.
Der Brutus des Shakespeare ist ein hochsinniger Mann, aber er ist als
Aristokrat in Genuß erzogen, er ist gewöhnt, zu lesen und zu
denken, er hat die Begeisterung, Großes zu wagen, nicht die Umsicht
und Klugheit, es durchzuführen. Cäsar ist ein majestätischer
Held, der ein siegvolles, großes Leben durchgesetzt und seinen eigenen
Wert in einer Zeit des Eigennutzes und anspruchsvoller Schwäche erprobt
hat; aber mit der hohen Stellung, die er sich über den Köpfen
seiner Zeitgenossen gegeben hat, ist die Großmannssucht in ihn gekommen,
Schauspielerei und heimliche Furcht; der feste Mann, der sein Leben hundertmal
gewagt hat und nichts mehr fürchtet als den Schein der Furcht, ist
insgeheim abergläubisch, bestimmbar, der Einwirkung schwacher Menschen
ausgesetzt. Der Dichter verbirgt das nicht, er läßt die Charaktere
an jeder Stelle genau das sagen, was ihnen bei solcher Beschaffenheit
zukommt; aber er behandelt ihr Wesen als selbstverständlich und erklärt
es nicht, weil es ihm nicht durch kühle Berechnung deutlich geworden
ist, sondern mit Naturgewalt aus allen Voraussetzungen aufgestiegen.
Dem Bewunderer Shakespeares macht diese Größe der dichterischen
Anschauung bald hier bald da Schwierigkeiten. Im ersten Teil des Cäsar
z. B. tritt Casca kräftig in den Vordergrund; in der sinkenden Handlung
des Stückes erfährt man kein Wort über ihn; er und die
anderen Mitverschworenen sind dem Dichter offenbar gleichgültiger
als dem Hörer. Wer näher zusieht, findet wohl den Grund und
begreift, daß der Dichter diese Gestalt, welche er zuerst so wohlwollend
hervorhebt, gleich darauf ohne Umstände beiseite wirft; ja der Dichter
deutet das in dem Urteil an, welches ausnahmsweise diesmal Brutus und
Cassius über den Casca fällen. Ihm und dem Stück ist der
Mann nur ein unbedeutendes Werkzeug.
In vielen Nebenrollen steht der große Dichter auffallend schweigsam,
mit einfachen Strichen bewegt er sie in ihrer Befangenheit vorwärts;
das Verständnis ihres Wesens, das wir angelegentlich suchen, bleibt
zuletzt nicht zweifelhaft, es wird aber nur klar aus Streiflichtern, welche
von außen auf sie fallen. So sind z. B. die Gemütswandlungen
der Anna (aus Richard III.) während der berühmten Sterbeszene
an der Bahre in einer Weise gedeckt, welche kein anderer Dichter wagen
dürfte, und die ohnedies knappe Rolle wird dadurch eine der schwersten.
Ähnliches gilt von vielen Gestalten, welche, aus Böse und Gut
gemischt, als Helfer einer Handlung auftreten. Bei solchen Nebenrollen
überläßt er dem Schauspieler Vieles; durch die Aufführung
vermag der Künstler manche scheinbare und wirkliche Härten in
neue Schönheiten zu verwandeln. Ja manchmal hat man die Empfindung,
daß er deshalb erklärendes Beiwerk einzelner Rollen unterließ,
weil er für bestimmte Schauspieler schrieb, deren Persönlichkeit
vorzugsweise gemacht war, die Rolle zu ergänzen. In anderen Fällen
sieht man deutlich einen Mann, der mehr als andere dramatische Schriftsteller,
als Schauspieler und Zuschauer gewöhnt ist, die Menschen in der vornehmen
Gesellschaft zu betrachten, und der hinter den Formen guter Sitte die
charakteristischen Beschränktheiten zu verdecken und durchzulassen
versteht; so ist der größte Teil seiner Hofleute gebildet.
Durch solche Schweigsamkeit, durch schroffe Übergänge, scheinbare
Lücken mutet er dem Schauspieler mehr zu als jeder andere; zuweilen
sind seine Worte nur wie der punktierte Grund einer Stickerei, wenig ist
herausgebildet, aber alles liegt darin, genau angedeutet und zweckmäßig
für die höchsten Wirkungen der Bühne empfunden; dann erblickt
der Zuschauer überrascht bei guter Darstellung ein reiches, rundes
Leben, wo er beim Lesen über eine Fläche hinwegsah. - Selten
begegnet dem Dichter, daß er in der Tat zu wenig für einen
Charakter tut; so tritt die kleine Rolle der Cordelia auch bei guter Darstellung
nicht in das richtige Verhältnis, welches sie im Stück haben
sollte. Manches in den Charakteren erscheint uns allerdings fremdartig
und einer Erläuterung bedürftig, was den Zeitgenossen durchsichtig
und schnell verständlich war, als ein Abbild ihres Lebens und ihrer
Bildung.
Das Größte dieses Dichters aber ist, wie bereits früher
gesagt wurde, die ungeheure treibende Kraft, welche in seinen Hauptcharakteren
arbeitet. Unwiderstehlich ist die Gewalt, mit welcher sie ihrem Schicksal
entgegen, bis zu dem Höhenpunkt des Dramas aufwärts stürmen,
fast in allen ein markiges Leben und starke Energie der Leidenschaft.
Und sind sie auf der Höhe angelangt, von welcher ab die Befangenen
durch übermächtige Gewalten abwärts gezogen werden, hat
die Spannung sich in einem verhängnisvollen Tun für den Augenblick
gelöst, dann kommen in mehren Stücken ausgeführte Situationen
und Einzelschilderungen, das Höchste, was die neuere Poesie des Dramas
hervorgebracht hat. Die Dolch- und Bankettszene im Macbeth, die Brautnacht
in Romeo und Julia, das Hüttengericht im Lear, der Besuch bei der
Mutter im Hamlet, Coriolanus am Altar des Aufidius sind Beispiele. Zuweilen
scheint, wie gesagt wurde, von diesem Momente ab die Anteilnahme des Dichters
an den Charakteren geringer zu werden, selbst im Hamlet, in welchem die
Kirchhofszene - wie berühmt ihre tiefsinnigen Betrachtungen auch
sind - und der Schluß gegen die Spannung der ersten Hälfte
abfallen. Beim Coriolanus freilich liegen die beiden schönsten Szenen
in der zweiten Hälfte des Stückes, ebenso im Othello die gewaltigsten;
das letztere Stück hat aber andere technische Besonderheiten.
Wenn Shakespeares Art zu charakterisieren schon für die Schauspieler
seiner Zeit zuweilen dunkel und schwer war, so ist natürlich, daß
wir seine Eigentümlichkeiten sehr lebhaft empfinden. Denn kein größerer
Gegensatz ist denkbar als die Behandlung der Charaktere bei ihm und bei
den tragischen Dichtern der Deutschen: Lessing, Goethe, Schiller. Während
wir bei Shakespeare durch die Verschlossenheit mancher Nebencharaktere
daran erinnert werden daß er der epischen Zeit des Mittelalters
noch nahestand, haben unsere dramatischen Charaktere bis zum Überfluß
die Eigenschaften einer lyrischen Bildungsperiode, eine fortlaufende,
breite und behagliche Darstellung innerer Zustände, über welche
die Helden mit einer zuweilen unheimlichen Selbstbeobachtung nachdenken,
dazu Sentenzen, welche den jedesmaligen Standpunkt des Charakters zu der
sittlichen Ordnung zweifellos deutlich machen. Bei den Deutschen ist nichts
Dunkles und, Kleist ausgenommen, wenig Gewaltsames.
Von den großen Dichtern der Deutschen hat Lessing am besten verstanden,
seine Charaktere in dem Wellenschlage heftiger dramatischer Bewegung darzustellen.
Unter den Kunstgenossen wird die poetische Kraft des Einzelnen wohl zumeist
nach seinen Charakteren geschätzt, und gerade im Charakterisieren
ist Lessing groß und bewundernswert; der Reichtum an Einzelheiten,
die Wirkung schlagender Lebensäußerungen, welche sowohl durch
Schönheit als Wahrheit überraschen, ist bei ihm in dem beschränkten
Kreise seiner tragischen Figuren größer als bei Goethe, gehäufter
als bei Schiller. Die Zahl seiner dramatischen Grundformen ist nicht groß;
um das zärtliche, edle, entschlossene Mädchen, Sara, Emilia,
Minna, Recha, und ihren schwankenden Liebhaber, Melfort, Prinz, Tellheim,
Templer, stellen sich die dienenden Vertrauten, der würdige Vater,
die Buhlerin, der Intrigant, alle nach den Fächern der damaligen
Schauspielertruppen geschrieben. Und doch gerade in diesen Typen ist die
Mannigfaltigkeit der Abwandelungen bewunderungswürdig. Er ist ein
Meister in der Darstellung solcher Leidenschaften, wie sie sich in einem
bürgerlichen Leben äußerten, wo das heiße Ringen
nach Schönheit und Adel der Seele so wunderlich neben rohem Begehren
stand. Und wie bequem ist alles auch für den Schauspieler empfunden,
keiner hat ihm so aus der Seele gearbeitet, ja einzelnes, was beim Lesen
zu unruhig und zu theatralisch aufgeregt scheint, tritt erst durch die
Darstellung in ein gutes Verhältnis.
Nur in einzelnen Momenten macht seine feine Dialektik der Leidenschaft
nicht den Eindruck der Wahrheit, weil er sie zu fein zuspitzt und einem
Behagen an haarspaltendem Wortspiel nachgibt; an wenigen Stellen breitet
sich auch bei ihm die Nachdenklichkeit da, wo sie nicht hingehört,
und zuweilen ist mitten in der tief poetischen Erfindung ein erkünstelter
Zug, welcher erkältet, statt den Eindruck zu verstärken. Lehrreich
ist dafür, außer Mehrem im Nathan, in Sara Sampson Akt III,
Szene 3, die Stelle, in welcher Sara sich leidenschaftlich darüber
ergeht, ob sie den Brief ihres Vaters annehmen soll. Der Zug ist höchstens
als kurze Einzelheit der Charakteristik zu benutzen, auch dafür nur
andeutend zu behandeln, in der breiten Ausführung wird er peinlich.
Noch lange werden Lessings Stücke eine hohe Schule des deutschen
Darstellers sein, und die liebevolle Achtung der Künstler wird sie
auch dann noch auf unserem Theater bewahren, wenn einst eine männlichere
Bildung die Zuschauer empfindlicher machen wird gegen die Schwäche
der Umkehr und Katastrophe in Minna von Barnhelm und Emilia Galotti. Denn
darin irrte noch der kräftige Mann, daß heftige Leidenschaft
hinreiche, den poetischen Charakter zum dramatischen zu machen, während
es vielmehr auf das Verhältnis ankommt, in welchem die Leidenschaft
zur Willenskraft steht. Seine Leidenschaft schafft Leiden und erregt im
Zuschauer zuweilen ein abweisendes Mitleid. Noch schwanken seine Hauptpersonen
- und dies ist nicht sein Kennzeichen, sondern das der Zeit - durch stürmische
Bewegung hin und her getrieben, und wo sie zu verhängnisvoller Tat
kommen, fehlt dieser zuweilen die höchste Berechtigung. Die tragische
Entwickelung in Miß Sara Sampson beruht darauf, daß Melfort
die Nichtswürdigkeit begeht, seiner frühern Geliebten ein Stelldichein
mit Miß Sara zu vermitteln, in Emilia Galotti wird die Jungfrau
vom Vater aus Vorsicht erstochen.
Denn die Freiheit und der Adel, mit welchen die Personen bei den Dichtern
des vorigen Jahrhunderts ihre Seelenstimmungen ausdrücken, ist nicht
begleitet von einer entsprechenden Meisterschaft im Handeln; nur zu häufig
empfindet man eine Zeit, in welcher der Charakter auch der Besten nicht
fest gezogen und zu Metall gehärtet war durch eine starke öffentliche
Meinung, durch den sicheren Inhalt welchen das politische Leben im Staate
dem Manne gibt. Willkür in den sittlichen Gesichtspunkten und empfindsame
Unsicherheit stören auch genialer Kraft die höchsten Kunstwirkungen.
Das ist den Dramen Goethes oft vorgeworfen worden, hier sei nur der Fortschritt
angedeutet, welcher durch ihn und Schiller in den dramatischen Wirkungen
eingeführt wurde.
Goethe ist in den charakterisierenden Einzelheiten seiner Rollen nicht
reichlicher als Lessing, - Weislingen, Clavigo, Egmont sind sogar dramatisch
dürftiger als Melfort, Prinz, Tellheim - seine Figuren haben nichts
von dem heftig pulsierenden Leben, dem Unruhigen, ja Fieberhaften, welches
in den Bewegungen der Charaktere Lessings zittert, nichts Gekünsteltes
beunruhigt, die unverwüstliche Anmut seines Geistes adelt auch noch
das Verfehlte. Erst Goethe und Schiller haben den Deutschen das geschichtliche
Drama aufgeschlossen, den höheren Stil in Behandlung der Charaktere,
welcher für große tragische Wirkungen unentbehrlich ist, wenn
auch Goethe diese Wirkung nicht vorzugsweise durch Gewalt der Charaktere,
noch durch die Handlung erreichte, sondern durch die unübertreffliche
Schönheit und Erhabenheit, mit welcher er das Gemüt seiner Helden
in Worten ausklingen läßt. Da besonders, wo aus seinen dramatischen
Personen die herzliche Innigkeit lyrischer Empfindung durchtönen
durfte, zeigt sich gerade in kleinen Zügen ein Zauber der Poesie,
den kein Deutscher sonst auch nur annähernd erreicht hat. So wirkt
die Rolle des Gretchen.
Es ist nicht zufällig, daß solche höchste Schönheit
in Goethes Frauencharakteren wirksam wird; die Männer treiben zum
großen Teil nicht vorwärts, sie werden getrieben, ja sie beanspruchen
zuweilen eine Teilnahme, die sie sich auf der Bühne nicht verdienen,
und erscheinen fast wie werte Freunde des Dichters selbst, deren gute
Eigenschaften nur ihm bekannt sind, während sie in der Gesellschaft,
zu welcher er sie geladen hat, nicht ihre starke Seite hervorkehren. Auch
was den Faust zu unserem größten Dichterwerk macht, ist nicht
die Fülle des dramatischen Lebens, am wenigsten in der Rolle des
Faust selbst. Wenn aber die treibende Kraft der Goetheschen Helden nicht
stark genug ist, um erhabene Wirkungen, gewaltige Kämpfe möglich
zu machen, so ist die dramatische Bewegung derselben in einzelnen Szenen
doch knapp, weise und höchst bühnengerecht, namentlich ist die
Fügung seiner Dialoge bewundernswert. Denn es sind die Szenen, welche
zwischen zwei Personen verlaufen, das Schönste in den Dramen Goethes;
Lessing weiß auch drei Charaktere in leidenschaftlichem Gegenspiel
mit höchster Wirkung zu beschäftigen; Schiller aber beherrscht
mit überlegener Sicherheit eine große Zahl auf der Bühne.
Die Art und Weise der Charakterschilderung ist bei Schiller in der Jugend
sehr anders als in den Jahren seiner Reife. Es ist ein großer Fortschritt,
aber er ist auch nicht ganz ohne Einbuße. Von der Empfindungsweise
schöner Seelen, welche er in den Räubern ins Ungeheuerliche,
später ins Heldenhafte erhob, bis zu einer dem Shakespeare ähnlichen
festen Geschlossenheit der Charaktere im Demetrius, welche Umwandlung!
Durch mehr als ein halbes Jahrhundert hat Pracht und Adel der Charaktere
Schillers die deutsche Bühne beherrscht, und lange haben die schwachen
Nachahmer seines Stils nicht verstanden, daß die Fülle seiner
Diktion nur deshalb so große Wirkungen hervorbrachte, weil unter
ihr ein Reichtum von dramatischem Leben wie unter einer Vergoldung bedeckt
liegt. Dies kräftige Leben der Personen ist bereits in seinen ersten
Stücken sehr auffallend, ja es hat in Kabale und Liebe so bedeutenden
Ausdruck gewonnen, daß nach dieser Richtung in den späteren
Werken nicht immer ein Fortschritt sichtbar wird. Dem Verse und höheren
Stil hat er wenigstens die markige Kürze, den bühnengemäßen
Ausdruck der Leidenschaft, manche Rücksicht auf die Darsteller nachgesetzt.
Immer voller und beredter wurde ihm der Ausdruck der Empfindungen durch
die Sprache.
Auch seine Charaktere - am meisten die reichlich ausgeführten - haben
jene besondere Eigenschaft seiner Zeit, ihr Denken und Empfinden dem Hörer
in vielen Momenten der Handlung eindringlich zu berichten. Und sie tun
es in der Weise hochgebildeter und beschaulicher Menschen, denn an die
leidenschaftlichste Empfindung hängt sich ihnen sofort ein schönes,
oft ausgeführtes Bild, und der Stimmung, welche so aus ihrem Innern
heraustönt, folgt eine Betrachtung - wie wir alle wissen, oft von
hoher Schönheit -, durch welche die sittlichen Grundlagen des aufgeregten
Gefühls klargemacht werden, und die Befangenheit der Situation durch
eine Erhebung auf höheren Standpunkt wenigstens für Augenblicke
aufgehoben erscheint. Es ist offenbar, daß solche Methode des dramatischen
Schaffens der Darstellung starker Leidenschaften im Allgemeinen nicht
günstig ist, und sie wird sicher in irgendeiner Zukunft unseren Nachkommen
seltsam erscheinen; aber ebenso sicher ist, daß sie die Art zu empfinden,
welche den gebildeten Deutschen am Ende des vorigen Jahrhunderts eigentümlich
war, so vollständig wiedergibt, wie keine andere Dichtweise, und
daß gerade darauf ein Teil der großen Wirkung beruht, welche
Schillers Dramen noch jetzt auf das Volk ausüben. Allerdings nur
ein Teil, denn die Größe des Dichters liegt gerade darin, daß
er, welcher seinen Charakteren auch in bewegten Momenten so viele Ruhepunkte
zumutet, dieselben doch in höchster Spannung zu erhalten weiß;
fast alle haben ein starkes, begeistertes inneres Leben, einen Inhalt,
mit welchem sie der Außenwelt sicher gegenüber stehen. In dieser
Befangenheit machen sie zuweilen den Eindruck von Nachtwandlern, denen
die Störung durch die Außenwelt Verhängnis wird, so die
Jungfrau, Wallenstein, Max, Thekla, oder die wenigstens eines mächtigen
Anstoßes an ihr inneres Leben bedürfen, um zu einer Tat zu
kommen, so Tell, selbst Cesar und Manuel. Deshalb ist auch die leidenschaftliche
Bewegung der Hauptcharaktere Schillers im letzten Grunde nicht immer dramatisch,
aber diese Unvollkommenheit wird oft verdeckt durch das reiche Detail
und die schöne Charakteristik, mit welcher gerade er die helfenden
Nebenfiguren ausstattet. Endlich ist der größte Fortschritt,
welchen die deutsche Kunst durch ihn gemacht, daß er in gewaltigen
tragischen Stoffen seine Personen zu Teilnehmern einer Handlung macht,
welche nicht mehr die Beziehungen des Privatlebens, sondern die höchsten
Interessen der Menschen, Staat, Glauben, zum Hintergrunde hat. Für
junge Dichter und Darsteller freilich wird seine Schönheit und Kraft
immer gefährlich sein, weil das innere Leben seiner Charaktere überreichlich
in der Rede ausströmt; er tut darin so viel, daß dem Schauspieler
manchmal wenig zu schaffen übrigbleibt, seine Dramen bedürfen
weniger der Bühne als die eines anderen Dichters.
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