Viertes Kapitel. Die Charaktere
3.
Kleine Regeln
Dieselben Gesetze, welche für die Handlung aufgezählt wurden,
gelten auch für die Charaktere der Bühne. Auch diese müssen
dramatische Einheiten sein - Wahrscheinlichkeit, Wichtigkeit und Größe
haben - zu starkem und gesteigertem Ausdruck des dramatischen Lebens befähigt
sein.
Die Charaktere des Dramas dürfen nur diejenigen Seiten der menschlichen
Natur zeigen, durch welche die Handlung fortgeführt und motiviert
wird. - Kein Geiziger, kein Heuchler ist immer geizig, immer falsch,
kein Bösewicht verrät seine niederträchtige Seele bei jeder
Tat, welche er begeht; Niemand handelt immer konsequent, unendlich vielfach
sind die Gedanken, welche in der Menschenseele gegen einander kämpfen,
die verschiedenen Richtungen, in welchen sich Geist, Gemüt, Willenskraft
ausdrücken. Das Drama aber, wie jedes Kunstgebilde, hat nicht das
Recht, aus der Summe der Lebensäußerungen eines Menschen mit
Freiheit auszuwählen und zusammenzustellen; nur was der Idee und
Handlung dient, gehört der Kunst. Der Handlung aber werden nur solche
gewählte Momente in den Charakteren dienen, welche als zusammengehörig
leicht verständlich sind. Richard III. von England war ein blutiger
und rücksichtsloser Gewaltherrscher, er war es aber durchaus nicht
immer, nicht gegen jeden; er war außerdem ein staatskluger Fürst,
und es ist möglich, daß seine Regierung dem Geschichtschreiber
nach einigen Richtungen als ein Segen für England erscheint. Wenn
ein Dichter sich die Aufgabe stellt, die blutige Härte und Falschheit
einer hochüberlegenen, menschenverachtenden Heldennatur in diesem
Charakter verkörpert zu zeigen, so versteht sich von selbst, daß
er Züge von Mäßigung, vielleicht von Wohlwollen, welche
sich etwa im Leben dieses Fürsten finden, in seinem Drama entweder
gar nicht oder nur so weit aufnehmen darf, als sie den Grundzug des Charakters,
wie er ihn für diese Idee nötig hat, unterstützen. Und
da die Zahl der charakterisierenden Momente, welche er überhaupt
aufführen kann, im Verhältnis zur Wirklichkeit unendlich klein
ist, so tritt schon deshalb jeder Zug in ein ganz anderes Verhältnis
zum Gesamtbilde, als in der Wirklichkeit. Was aber bei den Hauptfiguren
nötig ist, gilt vollends von den Nebengestalten; es versteht sich,
daß das Gewebe ihrer Seele um so leichter verständlich sein
muß, je weniger Raum der Dichter für sie übrig hat. Schwerlich
wird ein dramatischer Dichter darin große Fehler begehen. Auch dem
ungeübten Talente pflegt die eine Seite sehr deutlich zu sein, von
welcher es seine Figuren zu beleuchten hat.
Das erste Gesetz, das der Einheit, läßt sich noch anders auf
die Charaktere anwenden: das Drama soll nur einen Haupthelden haben,
um welchen sich alle Personen, wie groß ihre Zahl sei, in Abstufungen
ordnen. Das Drama hat eine durchaus monarchische Einrichtung, die Einheit
seiner Handlung ist wesentlich davon abhängig, daß die Handlung
sich an einer maßgebenden Person vollzieht. Aber auch für eine
sichere Wirkung ist die erste Bedingung, daß die Anteilnahme des
Zuhörers zumeist auf eine Person gerichtet werde und daß
er möglichst schnell erfahre, wer ihn vor anderen beschäftigen
soll. Da überhaupt nur an wenigen Personen die höchsten dramatischen
Vorgänge in großer Ausführung zu Tage kommen, so ist schon
dadurch Beschränkung auf wenige große Rollen geboten. Und es
ist alte Erfahrung, daß dem Hörer nichts peinlicher wird als
Unsicherheit über den Anteil, welchen er jeder dieser Hauptpersonen
zuzuwenden hat. Es ist also auch ein praktischer Vorteil des Stückes,
seine Wirkungen auf einen Mittelpunkt zu beziehen.
Wer von diesem Grundsatz abweicht, soll das in der lebhaften Empfindung
tun, daß er einen großen Vorteil aufgibt, und wenn ein Stoff
dies Aufgeben notwendig macht, sich zweifelnd fragen, ob die dadurch entstehende
Unsicherheit in den Wirkungen des Stückes durch andere dramatische
Vorzüge desselben ersetzt werde.
Eine Ausnahme allerdings hat unser Drama seit langer Zeit aufgenommen.
Wo die Beziehungen zweier Liebenden die Hauptsache der Handlung bilden,
werden diese innig verbundenen Personen gern als gleichberechtigte angesehen,
ihr Leben und Schicksal als eine Einheit aufgefaßt. So in Romeo
und Julia, Kabale und Liebe, den Piccolomini, sogar in Troilus und Cressida.
Aber auch in diesem Falle wird der Dichter wohltun, einem von beiden den
Hauptteil der Handlung zu geben, wo das nicht möglich ist, die innere
Entwicklung beider durch entsprechende Motive nach beiden Seiten zu stützen.
Bei Shakespeare führt in der ersten Hälfte des Stückes
Romeo, in der zweiten Julia, in Antonius und Kleopatra ist Antonius bis
zu seinem Tode der Held.
Während aber bei Shakespeare, Lessing, Goethe sonst der Hauptheld
immer unzweifelhaft ist, hat Schiller nicht zum Vorteil für den Bau
seiner Stücke eine eigentümliche Neigung zu Doppelhelden, die
schon in den Räubern hervortritt und in späteren Jahren, seit
seiner Bekanntschaft mit der antiken Tragödie, noch auffallender
wird. Carlos und Posa, Maria und Elisabeth, die feindlichen Brüder,
Max und Wallenstein, Tell, die Schweizer und Rudenz. Diese Neigung läßt
sich wohl erklären. Der pathetische Zug in Schiller war seit der
Bekanntschaft mit den Griechen noch verstärkt worden, er kommt in
seinen Dramen nicht selten in Widerspruch mit einer größeren
Dichtereigenschaft, der dramatischen Energie. So zerlegten sich ihm zwei
Richtungen seines Wesens unter der Hand in getrennte Personen, von denen
die eine den pathetischen, die andere den Hauptteil der Handlung erhält,
die zweite freilich noch zuweilen ihren Anteil an Pathos. Wie diese Teilung
den ersten Helden, der für ihn der pathetische war, herabdrückte,
ist bereits gesagt.
Einen anderen Fehler vermeidet der Dichter schwerer. Der Anteil, welchen
die Charaktere am Forttreiben der Handlung haben, muß so eingerichtet
sein, daß ihr erfolgreiches Tun immer auf dem leicht verständlichen
Grundzuge ihres Wesens beruht und nicht auf einer Spitzfindigkeit
ihres Urteils oder auf einer Besonderheit, welche als zufällig erscheint.
Vor allem darf ein entscheidender Fortschritt der Handlung nicht aus Wunderlichkeiten
eines Charakters, welche nicht motiviert sind, oder aus solchen Schwächen
desselben hervorgehen, welche unserem schauenden Publikum den fesselnden
Eindruck desselben verringern. So ist die Katastrophe in Emilia Galotti
für unsere Zeit bereits nicht mehr im höchsten Sinne tragisch,
weil wir von Emilia und ihrem Vater männlicheren Mut fordern. Daß
die Tochter sich fürchtet, verführt zu werden, und der Vater
darum verzweifelt, weil doch der Ruf der Tochter durch die Entführung
geschädigt ist, statt mit dem Dolch in der Hand sich und seinem Kinde
den Ausweg aus dem Schlosse zu suchen, das verletzt uns die Empfindung,
wie schön auch der Charakter Odoardos gerade für diese Katastrophe
gebildet ist. Zu Lessings Zeit waren die Vorstellungen des Publikums von
der Macht und Willkür fürstlicher Herrscher so lebendig, daß
die Situation ganz anders wirkte als jetzt. Und doch hätte Lessing
auch bei solcher Voraussetzung den Mord der Tochter stärker motivieren
können. Der Zuschauer muß durchaus überzeugt sein, daß
den Galotti ein Ausweg aus dem Schlosse unmöglich ist. Der Vater
muß ihn mit letzter Steigerung der Kraft versuchen, den Prinzen
durch Gewalt verhindern. Dann bleibt freilich immer noch der größere
Übelstand, daß dem Odoardo in der Tat weit näher lag,
den schurkischen Prinzen als seine unschuldige Tochter zu töten.
Das wäre viel gewöhnlicher gewesen, aber menschlich wahrer.
Natürlich konnte dieses Trauerspiel solchen Schluß nicht brauchen.
Und dies ist ein Beweis, daß das Bedenkliche des Stückes tiefer
liegt als in der Katastrophe. Noch machte die deutsche Luft, in welcher
der starke Geist Lessings rang, das Schaffen großer tragischer Wirkungen
schwierig. Die Besten empfanden wie edle Römer zur Kaiserzeit; der
Tod macht frei! *)
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* Es versteht sich, daß auch Emilia Galotti in der Tracht ihres
Jahres (1772) aufgeführt werden muß. - Das Stück fordert
noch eine Rücksicht bei der Darstellung. Vom dritten Akt darf der
Vorhang in den Zwischenakten nicht mehr heruntergelassen werden, dieselben
sind außerdem sehr kurz zu halten.
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Wo aber unvermeidlich ist, den Helden in einer wesentlichen Richtung als
kurzsichtig und beschränkt gegenüber seiner Umgebung darzustellen,
muß das herabdrückende Gewicht aufgewogen sein durch eine ergänzende
Seite seiner Persönlichkeit, welche ihm erhöhten Grad von Achtung
und Anteil zuwendet. Das ist gelungen im Götz und Wallenstein, es
ist versucht, aber nicht gelungen im Egmont.
Wenn der griechische Verfasser der Poetik vorschreibt, daß die Charaktere
der Helden, um Teilnahme zu erwecken, aus böse und gut gemischt
sein müssen, so gilt dieser Satz, auf die veränderten Verhältnisse
unserer Bühne angewandt, noch heut. Die Stoffbilder, aus denen die
Bühne der Germanen vorzugsweise ihre poetischen Charaktere heraushebt,
sind selbst Menschen. Auch wo der Dichter einmal Gestalten der Sage verwertet,
versucht er mehr oder weniger glücklich, dieselben mit der freieren
Menschlichkeit und dem reicheren Leben zu füllen, welches an geschichtlichen
Charakteren oder an Personen der Gegenwart zum Idealisieren einladet.
Und der Dichter wird jeden Charakter für sein Drama benutzen dürfen,
welcher die Darstellung starker dramatischer Vorgänge möglich
macht. Die unbedingte und bewegungslose Güte und Schlechtigkeit sind
für Hauptrollen schon dadurch ausgeschlossen. Die Kunst an sich legt
ihm eine weitere Beschränkung nicht auf. Denn ein Charakter, in welchem
die höchsten dramatischen Vorgänge sich reichlich darstellen
lassen, wird ein Kunstgebilde, wie auch sein Verhältnis zu dem sittlichen
Inhalt oder den gesellschaftlichen Ansichten der Hörer sein möge.
Wohl aber wird dem Dichter die Wahl begrenzt, zunächst durch seinen
eigenen männlichen Charakter, Geschmack, Moral, Sitte, dann aber
auch durch die Rücksicht auf seinen idealen Hörer, das Publikum.
Es muß ihm sehr daran liegen, dasselbe für seinen Helden zu
erwärmen und zum nachschaffenden Mitspieler in den Wandlungen und
Gemütsvorgängen zu machen, welche er vorführt. Um dies
Mitgefühl zu bewahren, ist er genötigt, Persönlichkeiten
zu wählen, welche nicht nur durch die Wichtigkeit, Größe
und Kraft ihres Wesens fesseln, sondern welche auch Empfindung und Geschmack
der Hörer für sich zu gewinnen wissen.
Der Dichter muß also das Geheimnis verstehen, das Furchtbare, Entsetzliche,
das Schlechte und Abstoßende in einem Charakter durch die Beimischung,
welche er ihm gibt, für seine Zeitgenossen zu adeln und zu verschönen.
Der Bühne der Germanen ist die Frage, wieviel der Dichter darin wagen
dürfe, seit Shakespeare kaum mehr zweifelhaft. Der Zauber seiner
schöpferischen Kraft wirkt vielleicht auf jeden, der selbst zu bilden
versucht, am gewaltigsten durch die Ausführung, welche er seinen
Bösewichtern gegönnt hat. Sowohl Richard III. als Jago sind
Musterbilder, wie der Dichter auch die Bösen und Schlechten schön
zu bilden habe. Die starke Lebenskraft und die ironische Freiheit, in
welcher sie mit dem Leben spielen, verbindet ihnen ein höchst bedeutsames
Element, welches ihnen widerwillige Bewunderung erzwingt. Beide sind Schurken
ohne jeden Beisatz einer mildernden Eigenschaft. Aber in dem Selbstgefühl
überlegener Naturen beherrschen sie ihre Umgebung mit einer fast
übermenschlichen Kraft und Sicherheit. Sieht man näher zu, so
sind beide sehr verschieden geformt. Richard ist der wilde Sohn einer
Zeit voll Blut und Greuel, wo die Pflicht nichts galt und die Selbstsucht
Alles wagte. Das Mißverhältnis zwischen einem ehernen Geist
und einem gebrechlichen Körper ist ihm Grundlage eines kalten Menschenhasses
geworden. Er ist ein praktischer Mann und ein Fürst, der das Böse
nur tut, wo es ihm nützt, dann freilich erbarmungslos, mit einer
wilden Laune. Jago dagegen ist weit mehr Teufel. Ihm macht es Freude,
nichtswürdig zu handeln, er tut das Böse mit innerstem Behagen.
Er motiviert sich und Anderen wiederholt in dem Stück, warum er den
Mohren verderbe, er soll ihm einen anderen Offizier vorgezogen haben,
er soll mit seiner Frau geliebelt haben. Das ist alles nicht wahr, und
sofern es wahr ist, nicht der letzte Grund seiner Tücke. Der Hauptantrieb
ist bei ihm der Drang einer schöpferischen Kraft, Anschläge
zu machen und Ränke zu spinnen, allerdings zu seinem eigenen Nutz
und Vorteil. Er war deshalb für das Drama schwerer zu verwerten als
der Fürst, der Feldherr, dem schon die Umgebung und die großen
Zwecke Wichtigkeit und eine gewisse Größe gaben; und deshalb
hat Shakespeare ihn auch noch stärker mit Humor gefüllt, der
verschönernden Stimmung der Seele, welche den einzigen Vorzug hat,
auch dem Häßlichen und Gemeinen eine reizvolle Beleuchtung
zu geben.
Grundlage des Humors ist die unbeschränkte Freiheit eines reichen
Gemütes, welches seine überlegene Kraft an den Gestalten seiner
Umgebung mit spielender Laune erweist. Der epische Dichter, welcher Neigung
und Anlage für diese Wirkungen in sich trägt, vermag sie in
doppelter Weise an den Gestalten seiner Kunst zu erweisen, er kann diese
selbst zu Humoristen machen, oder er kann seinen Humor an ihnen üben.
Der tragische Dichter, welcher nur durch seine Helden spricht, vermag
selbstverständlich nur das erstere, indem er ihnen von seinem Humor
mitteilt. Diese moderne Gemütsrichtung übt auf den Hörer
stets eine mächtige, zugleich fesselnde und befreiende Wirkung. Für
das ernste Drama jedoch hat ihre Verwertung eine Schwierigkeit. Die Voraussetzung
des Humors ist innere Freiheit, Ruhe, Überlegenheit, das Wesen des
dramatischen Helden ist Befangenheit, Sturm, starke Erregtheit. Das sichere
und behagliche Spielen mit den Ereignissen ist dem Forteilen einer bewegten
Handlung ungünstig, es dehnt fast unvermeidlich die Szene, in welche
es dringt, zu einem Situationsbilde aus. Wo deshalb der Humor mit einer
Hauptperson in das Drama eintritt, muß der Charakter, der dadurch
über die anderen gehoben wird, andere Eigenschaften haben, welche
verhindern, daß er ruhig beharre; in sich eine stark treibende Kraft,
und darüber eine kräftig fortrückende Handlung.
Nun ist allerdings möglich, den Humor des Dramas so zu leiten, daß
er heftige Bewegungen der Seele nicht ausschließt, und daß
ein freies Beschauen eigener und fremder Schicksale gesteigert wird durch
eine entsprechende Fähigkeit des Charakters, großer Leidenschaft
Ausdruck zu geben. Aber zu lehren ist das nicht.
Und die Verbindung eines tiefen Gemüts mit dem Vollgefühl sicherer
Kraft und mit überlegener Laune ist ein Geschenk, welches dem Dichter
ernster Dramen in Deutschland noch kaum zuteil geworden ist. Wem solche
Gabe verliehen wird, der verwendet sie als reicher Mann sorglos, mühelos,
sicher, er schafft sich selbst Gesetz und Regel und zwingt seine Zeitgenossen,
ihm bewundernd zu folgen; wer sie nicht hat, der ringt vergebens darnach,
etwas von dem schmückenden Glanz, den sie überall ausgießt,
in seine Szenen hineinzumalen.
Es ist früher gesagt, wie bei unserem Drama die Charaktere den Fortschritt
der Handlung zu motivieren haben und wie das Schicksal, welches sie beherrscht,
im letzten Grund nichts Anderes sein darf als der durch ihre Persönlichkeit
hervorgebrachte Lauf der Ereignisse, welcher in jedem Augenblick von dem
Hörer als vernünftig und wahrscheinlich begriffen werden muß,
wie sehr auch einzelne Momente ihm überraschend kommen. Gerade dann
erweist der Dichter seine Kraft, wenn er seine Charaktere tief und groß
zu bilden und den Lauf der Handlung mit hohem Sinne zu leiten weiß,
und wenn er nicht als schöne Erfindung darbietet, was auf der Heerstraße
des gewöhnlichen Menschenverstandes liegt und was auch seichtem Urteil
das nächste ist. Und mit Absicht ist wiederholt betont worden, daß
jedes Drama ein fest geordnetes Gefüge sein müsse, bei welchem
der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung die ehernen Klammern bildet,
und daß das Vernunftwidrige als solches in dem modernen Drama überhaupt
keine irgend wichtige Stelle haben dürfe.
Jetzt aber darf an ein Nebenmotiv für Forttreiben der Handlung erinnert
werden, welches in dem früheren Abschnitt nicht erwähnt wurde.
In einzelnen Fällen dürfen die Charaktere einen Schatten zum
Mitspieler erhalten, der auf unserer Bühne ungern geduldet werden
soll, den Zufall. Wenn nämlich das Werdende in der Hauptsache durch
die treibenden Persönlichkeiten begründet ist, dann darf in
seinem Verlauf allerdings begreiflich werden, daß der einzelne Mensch
nicht mit Sicherheit den Zusammenhang der Ereignisse zu leiten vermag.
Wenn im König Lear der Bösewicht Edmund, wenn in der Antigone
der Gewaltherrscher Kreon den Todesbefehl, welchen sie ausgesprochen haben,
widerrufen, so erscheint allerdings als Zufall, daß derselbe Befehl
so schnell oder in unerwarteter Weise bereits ausgeführt worden ist.
Wenn im Wallenstein der Held den Vertrag, welchen er mit Wrangel geschlossen
hat, zurücknehmen will, so wird allerdings stark betont, wie unbegreiflich
schnell der Schwede verschwunden sei. Wenn in Romeo und Julia die Nachricht
von Julias Tode eher zu Romeo kommt als die Botschaft des Pater Lorenzo,
so erscheint der Zufall hier sogar von entscheidender Wichtigkeit für
den Verlauf des Stückes. Aber dieses Eindringen eines nicht berechneten
Umstandes, wie sehr es auffallen mag, ist im Grunde kein von außen
hereinbrechendes Motiv, sondern es ist nur Folge eines charakteristischen
Tuns der Helden.
Die Charaktere haben nämlich eine verhängnisvolle Entscheidung
abhängig gemacht von einem Lauf der Tatsachen, den sie nicht mehr
regieren können. Der Fall war eingetreten, den Edmund für den
Tod der Cordelia festgesetzt hatte; Kreon hatte die Antigone in das Grabgewölbe
schließen lassen, ob die Trotzige den Hungertod erwartete oder sich
selbst einen Tod wählte, darüber hatte er die Herrschaft verloren.
Wallenstein hat sein Schicksal in die Hand eines Feindes gegeben; daß
Wrangel guten Grund hatte, den Entschluß des Zögernden unwiderruflich
zu machen, lag auf der Hand. Romeo und Julie sind in die Lage gekommen,
daß die Möglichkeit ihres Lebens von einer fürchterlichen,
frevelhaften und höchst abenteuerlichen Maßregel abhängt,
welche der Pater in seiner Angst ausgedacht hat. In diesen und ähnlichen
Fällen tritt der Zufall nur deshalb ein, weil die Charaktere unter
übermächtigem Zwange die Wahl bereits verloren haben. Er ist
für den Dichter und sein Stück nicht mehr Zufall, d. h. nicht
ein Fremdes, welches das Gefüge der Handlung zerreißt, sondern
er ist ein aus den Eigentümlichkeiten der Charaktere hervorgegangenes
Motiv wie jedes andere, im letzten Grunde nur eine notwendige Folge vorausgegangener
Ereignisse. - Dies nicht unwirksame Mittel ist aber vorsichtig zu gebrauchen
und genau durch das Wesen der Charaktere und die tatsächliche Lage
zu motivieren.
Auch für Leitung der Charaktere durch die einzelnen Akte sind, wie
bereits früher gesagt wurde, einige technische Vorschriften zu beachten;
sie werden hier noch einmal kurz hervorgehoben.
Jeder Charakter des Dramas soll die Grundzüge seines Wesens so schnell
als möglich deutlich und anziehend zeigen; auch wo eine Kunstwirkung
in verdecktem Spiele einzelner Rollen liegt, muß der Zuschauer bis
zu einem gewissen Grade Vertrauter des Dichters werden. - Je später
im Verlauf der Handlung ein neuer Charakterzug zu Tage kommt, desto sorgfältiger
muß er schon im Anfange motiviert werden, damit der Zuschauer das
überraschende Neue mit dem vollen Behagen genieße, daß
es der Anlage des Charakters doch vollständig entspricht.
Im Anfang des Stückes, wo die Hauptcharaktere sich darzustellen haben,
sind kurze Striche Regel; es versteht sich von selbst, daß die bedeutsamen
Einzelzüge nicht anekdotenhaft, sondern mit der Handlung verwebt
zutage kommen müssen, ausnahmsweise sind hier kleine Episoden, eine
bescheidene Situationsmalerei erlaubt. - Die Szenen des Anfangs, welche
die Farbe des Stückes angeben, die Stimmung vorbereiten, sollen zugleich
das Grundgewebe der Helden darlegen. Mit ganz ausgezeichneter Kunst verfährt
dabei Shakespeare. Er läßt gern seine Helden, bevor sie in
die Befangenheit der tragischen Handlung hineingeführt werden, in
der Einleitungsszene den Zug ihres Wesens noch unbefangen und doch höchst
bezeichnend aussprechen: Hamlet, Romeo, Brutus, Othello, Richard III.
Es ist kein Zufall, daß Goethes Helden, Faust (beide Teile), Iphigenie,
sogar Götz, sich durch einen Monolog einführen oder in ruhigem
Gespräch, wie Tasso, Clavigo; Egmont tritt erst im zweiten Akt auf.
- Lessing folgt noch der alten Gewohnheit seiner Bühne, die Helden
durch ihre Vertrauten einzuführen; aber Schiller legt wieder größeres
Gewicht auf charakteristische Darlegung der unbefangenen Helden. In der
Trilogie des Wallenstein wird das Wesen des Helden durch das Lager und
den ersten Akt der Piccolomini zuerst in zahlreichen Abspiegelungen glänzend
dargestellt, Wallenstein selbst aber erscheint durch den Astrologen kurz
eingeleitet im Kreise seiner Familie und der Vertrauten, aus dem er während
des ganzen Stückes nur selten heraustritt.
Daß neue Rollen in der zweiten Hälfte des Dramas, der Umkehr,
eine besondere Behandlung verlangen, ist bereits gesagt. Der Zuschauer
ist geneigt, die Führung der Handlung durch neue Personen mit Mißtrauen
zu betrachten, der Dichter muß sich hüten, zu zerstreuen oder
ungeduldig zu machen. Deshalb bedürfen die Charaktere der Umkehr
eine reichere Ausstattung, fesselnde Einführung, wirksamste Einzelschilderung
in knapper Behandlung. Bekannte Beispiele vortrefflicher Ausführung
sind, außer den früher genannten, Deveroux und Macdonald im
Wallenstein, während Buttler in demselben Stück wieder als Muster
gelten kann, wie ein Charakter, dessen tätiges Eingreifen für
den letzten Teil des Stückes aufgespart ist, als Teilnehmer der Handlung
durch die ersten Teile nicht geschleppt, sondern mit seinen inneren Wandlungen
verflochten wird.
Zuletzt wird sich der ungeübte Bühnendichter hüten, wenn
er Andere über seinen Helden sprechen lassen muß, großen
Wert auf solche Erläuterung des Charakters zu legen, er wird auch
den Helden selbst nur, wo es durchaus zweckdienlich ist, ein Urteil über
sich selbst abgeben lassen; denn Alles, was Andere von einer Person sagen,
ja auch was sie selbst von sich sagt, hat im Drama geringes Gewicht gegen
das, was man in ihr werden sieht, im Gegenspiele gegen andere,
im Zusammenhange der Handlung. Ja, es mag tödlich wirken, wenn der
eifrige Dichter seine Helden als erhaben, als lustig, als klug empfiehlt,
während ihnen in dem Stücke selbst trotz dem Wunsche des Dichters
nicht vergönnt wird, sich so zu erweisen.
Die Führung der Charaktere durch die Szenen muß mit steter
Rücksicht auf das Bühnenbild und die Bedürfnisse der szenischen
Darstellung geschehen. Denn auch in der Szenenführung macht der Schauspieler
gegenüber dem Dichter seine Forderungen geltend, und der Dichter
tut wohl, dieselben mit Achtung anzuhören. Er steht zu seinem Darsteller
in einem zarten Verhältnisse, welches beiden Teilen Rücksichten
auflegt; in der Hauptsache ist das Ziel beider gemeinsam, beide betätigen
an demselben Stoff ihre schöpferische Kraft, der Dichter als der
stille Leiter, der Darsteller als ausführende Gewalt. Und der Dichter
wird erfahren, daß der deutsche Darsteller im Ganzen mit schneller
Wärme und Eifer auf die Wirkungen des Dichters eingeht und ihn nur
selten mit Ansprüchen belästigt, durch welche er seine Kunst
zum Nachteil der Poesie in den Vordergrund zu stellen gedenkt. Da freilich
der einzelne Darsteller die Wirkungen seiner Rolle im Auge hat,
der Dichter die Gesamtwirkung, so wird bei dem Einüben des Stückes
allerdings in vielen Fällen ein Zwiespalt der Interessen hervortreten.
Nicht immer wird der Dichter seinem Verbündeten das bessere Recht
zugestehen, wenn ihm einmal notwendig wird, eine Wirkung abzudämpfen,
einen Charakter in einzelnen Momenten der Handlung zurückzudrängen.
Die Erfahrung lehrt, daß der Darsteller sich bei solchem Widerspruch
der beiderseitigen Auffassung bereitwillig fügt, sobald er die Empfindung
erhält, daß der Dichter die eigene Kunst versteht. Denn der
Künstler ist gewöhnt, als Teilnehmer an einem größeren
Ganzen zu arbeiten, und erkennt, wenn er aufmerksam sein will, recht gut
die höchsten Bedürfnisse des Stückes.
Die Forderungen, welche er mit Recht stellt: gute Spielrollen, starke
Wirkungen, Schonung seiner Kraft, bequeme Zurichtung der Szenen, müssen
im Grunde dem Dichter ebenso sehr am Herzen liegen als ihm.
Diese Forderungen lassen sich aber in der Hauptsache auf zwei große
Grundsätze zurückführen, auf den Satz, welcher hier aufgeführt
wurde; dem schaffenden Dichter soll die Bühnenwirkung deutlich sein,
und auf den kurzen, aber allerdings das Höchste heischenden Satz;
der Dichter soll seinen Charakteren große dramatische Wirkungen
zu schaffen wissen. Zunächst also soll der Dichter in jeder einzelnen
Szene, zumal in Szenen des Zusammenspiels, die Übersicht über
das Bühnenbild fest in der Seele halten; er soll die Stellungen der
Personen und ihre Bewegungen zu- und von einander, wie sie nach und nach
auf der Bühne geschehen, mit einiger Deutlichkeit empfinden. Wenn
er den Schauspieler zwingt, häufiger, als der Charakter und die Würde
seiner Rolle erlauben, sich nach einer und der anderen Person zu richten,
um vielleicht Nebenrollen ihre Wirkung zu erleichtern oder zurechtzumachen;
wenn er versäumt, die Übergänge aus einer Aufstellung in
die andere, von einer Seite der Bühne auf die andere, welche er bei
einem späteren Moment der Szene voraussetzt, zu motivieren; wenn
er den Schauspieler in eine Lage zwängt, welche ihm nicht verstattet,
ungezwungen und wirksam seine Aktion auszuführen oder mit einem Mitspieler
in die gebotene Verbindung zu treten; wenn er nicht darauf achtet, welche
seiner Rollen jedesmal das Spiel zu bringen und welche es aufzunehmen
hat; ferner, wenn er Hauptrollen längere Zeit auf der Bühne
unbeschäftigt läßt oder der Kraft des Darstellers zuviel
zumutet, so ist der letzte Grund dieser und ähnlicher Übelstände
immer eine zu schwache und lückenhafte Vorstellung von dem Bühnenverlauf
der dramatischen Bewegung, welche der Dichter in ihrem Laufe durch die
Seelen vielleicht sehr gut und wirksam empfunden hat. In allen solchen
Fällen haben die Forderungen des Schauspielers das Recht berücksichtigt
zu werden. Und der Schaffende wird auch aus diesem Grunde dem Bedürfnisse
und dem Brauch der Bühne besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Es gibt
dafür kein besseres Mittel, als daß er mit dem Schauspieler
einige neu einzuübende Rollen durchgeht - um zu lernen -, und daß
er fleißig den Proben beiwohnt, welche ein sorgfältiger Regisseur
abhält.
Die alte Forderung, der Dichter solle seine Charaktere den Fächern
der Darsteller anpassen, scheint unbehilflicher, als sie in Wahrheit ist.
Zwar sind auf unserer Bühne gerade für die Hauptrollen die festen
Überlieferungen aufgegeben, welche den Künstler einst im Bannkreis
seines Faches erhielten, dem Intriganten unmöglich machten,
eine Rolle aus dem ersten Fach zu spielen, und den Bonvivant
durch eine schwer zu übersteigende Kluft von dem jugendlichen
Helden trennten. Indes besteht noch soviel von dem Brauch, als für
die Darsteller und den Leiter der Bühne nützlich ist, um das
einzelne Talent nach seiner besonderen Anlage zu ziehen und die Besetzung
neuer Rollen zu erleichtern. Jeder Darsteller erfreut sich demnach eines
gewissen Vorrats von dramatischen Mitteln, welche er innerhalb seines
Faches ausgebildet hat: Tonlage seiner Stimme, Akzente der Rede, Haltung
der Glieder, Stellungen, Zwang der Gesichtsmuskeln. Innerhalb seiner gewohnten
Grenzen bewegt er sich verhältnismäßig sicher, außerhalb
derselben wird er unsicher. Wenn nun der Dichter in derselben Rolle die
gewandte Fertigkeit verschiedener Fächer beansprucht, so wird die
Besetzung schwer, der Erfolg vielleicht zweifelhaft. Es sei z. B. ein
italienischer Parteiführer des fünfzehnten Jahrhunderts nach
außen hin scharf, schlau, verhüllt, rücksichtsloser Bösewicht,
in seiner Familie von warmem Gefühl, würdig, verehrt und verehrungswert
- keine unwahrscheinliche Mischung -, so würde sein Bild auf der
Bühne sehr verschieden ausfallen, ob der Charakterspieler oder ob
der ältere Held und würdige Vater ihn darstellen, wahrscheinlich
würde bei jeder Besetzung die eine Seite seines Wesens zu kurz kommen.
Und dies ist kein seltener Fall. Die Vorteile richtiger Besetzung nach
Fächern, die Gefahren einer verfehlten kann man bei jedem neuen Stück
beobachten.
Der Dichter wird sich zwar durch solche kluge Rücksicht auf die größere
Sicherheit seiner Erfolge nirgend bestimmen lassen, wo ihm das Formen
eines ungewöhnlichen Bühnencharakters von Wichtigkeit wird.
Er soll nur wissen, was für ihn und seine Darsteller am bequemsten
ist.
Und wenn zuletzt von dem Dichter gefordert wird, daß er seine Charaktere
wirksam für den Darsteller bilde, so enthält dieser Wunsch die
höchste Forderung, welche überhaupt dem dramatischen Dichter
gestellt werden kann. Denn für den Darsteller wirksam schaffen, heißt
in Wahrheit nichts anderes, als im besten Sinne des Wortes dramatisch
schaffen. Seele und Leib der Schauspieler sind bereit, sich in höchst
bewußte, schöpferische Tätigkeit zu versetzen, um das
geheimste Empfinden, Gefühl und Gedanken, Willen und Tat zu verbildlichen.
Der Dichter sehe zu, daß er diesen gewaltigen Vorrat von Hilfskräften
für seine Kunstwirkungen vollständig und würdig zu benutzen
wisse. Und sein Kunstgeheimnis - das erste, welches in diesen Blättern
dargestellt wurde, und das letzte - ist nur das eine; er schildere bis
ins Einzelne genau und wahr, wie starke Empfindung aus dem geheimen Leben
als Begehren und Tat herausbricht und wie starke Eindrücke von außen
in das Innere des Helden hineinschlagen. Das beschreibe er mit poetischer
Fülle aus einer Seele, welche genau, scharf, reichlich jeden einzelnen
Augenblick dieses Vorganges anschaut und besondere Freude findet, ihn
mit schönen Einzelzügen abzubilden. So arbeite er, und er wird
seinen Darstellern die größten Aufgaben stellen und wird ihre
Kraft würdig und völlig verwerten.
Und wieder muß gesagt werden; keine
Technik belehrt, wie man es anfangen müsse, um so zu schreiben.
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