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Gustav Freytag


Die Technik des Dramas

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Sechstes Kapitel. Der Dichter und sein Werk.

Gewaltig ist die Masse des Schönen aus der Poesie vergangener Völker und Zeiten, zuletzt aus dem Jahrhundert unserer großen Dichter, welche dem Schaffenden das Urteil bildet und die Einbildungskraft aufregt. Dieser fast unübersehbare Reichtum an Kunstgebilden wird vielleicht der größte Segen für eine Zukunft, in welcher die Volkskraft besonders kräftig arbeitet, das Verwandte aufnehmend, das Widerstrebende wegwerfend. Aber während einer Zeit schwacher Ruhe des Volkstums war er ein Nachteil für die schöpferische Tätigkeit der Dichter, weil er die Stillosigkeit begünstigte. Es war noch vor wenig Jahren in Deutschland fast zufällig, ob ein Athener oder Römer, Calderon oder Shakespeare, ob Goethe oder Schiller, Scribe oder Dumas die Seele des jungen Dichters in den Bannkreis ihres Stils und ihrer Formen zogen.

Der Dichter der Gegenwart beginnt ferner als ein Genießender, der die schöne Kunst Anderer reichlich aufnimmt und dadurch zu eigenem Schaffen angeregt wird. Er hat gewöhnlich keinen Lebensberuf, welcher ihn einem bestimmten Gebiete der Poesie verpflichtet, es ist wieder fast zufällig, welche Gattung der poetischen Darstellung ihn gerade anzieht; er mag als Lyriker seine Empfindungen ausklingen lassen, er mag einen Roman schreiben, zuletzt lockt auch das Theater: Glanz des Bühnenabends, Beifall der Versammlung, Gewalt der erhaltenen tragischen Eindrücke. Wenig deutsche Dichter, die nicht mit einem Band lyrischer Gedichte sich zuerst dem Publikum empfahlen, dann ihr Heil auf der Bühne versuchten, sich endlich mit den ruhigeren Erfolgen eines Romans befriedigten. Ohne Zweifel erwies ihre Dichterbegabung nach einer dieser Richtungen die größere Fähigkeit. Aber da die äußeren Verhältnisse ihnen keine Beschränkung auflegten und bald das eine, bald das andere Gebiet stärker anzog, so gelangte auch der Kreis, in welchem ihre Kraft sich am freiesten regte, nicht zu vollkommener Durchbildung. Das große Geheimnis einer reichen schöpferischen Tätigkeit ist Beschränkung auf einen einzelnen Zweig der schönen Kunst. Das wußten die Hellenen sehr wohl. Wer Tragödien schrieb, blieb der Komödie fern, wer im Hexameter schuf, mied den Jambus.

Aber auch der Dichter, welchem dramatisches Gestalten ein Bedürfnis ist, lebt, wenn er nicht selbst als Schauspieler oder Gebieter unter dem Schnürboden der Bühne dahinschreitet, seitab von dem Theater. Er mag schreiben oder nicht. Der äußere Zwang, ein mächtiger Hebel, das Talent zu bewegen, fehlt ihm fast ganz. Das Theater ist ein Tagesvergnügen des ruhigen Bürgers geworden, welches nicht die schlechteste, aber auch nicht die anspruchvollste Gesellschaft versammelt; es hat bei dieser reichen Ausdehnung etwas von der Würde und Hoheit eingebüßt, welche der Dichter für das Drama ernsten Stils wünschen muß. Auf der Szene drängen sich Posse, Oper, Komödie, Formen, Weltanschauung verschiedener Jahrhunderte. Alles müht sich zu gefallen, das Neueste und Seltsamste, und wieder was der großen Menge am behaglichsten ist, stößt Anderes beiseite.

Auch das Gebiet der Stoffe ist dem Dichter fast unübersehbar geworden. Die griechische und römische Welt, das gesamte Mittelalter, heilige Bücher und Dichtungen der Juden und Christen, sogar die Völker des Orients, Geschichte, Sage und Gegenwart öffnen dem Suchenden ihre Schätze. Aber gerade dies ist ein Übelstand, daß bei solcher unendlicher Fülle des Stoffes die Wahl schwer und meist zufällig wird, daß keines dieser Stoffgebiete den Deutschen ausschließlich oder vorzugsweise anzuziehen imstande ist.

Endlich ist für den Deutschen, wie es scheint, noch nicht die Zeit gekommen, wo das dramatische Leben im Volke selbst reichlich und unbefangen heraufquillt. Gern möchten wir in Erscheinungen der neuesten Gegenwart die Anfänge einer neuen Entwickelung des Volkscharakters sehen, Anfänge, welche freilich der Kunst noch nicht zu Gute kommen. Daß dem dramatischen Dichter der Deutschen noch so schwer wird, sich aus der epischen und lyrischen Auffassung der Charaktere und Situationen zu erheben, ist kein Zufall.

Der Dichter aber soll für die Bühne arbeiten; nur in Verbindung mit der Schauspielkunst bringt er die höchsten Wirkungen hervor, welche seiner Poesie möglich sind. Das Bücherdrama ist im letzten Grunde nur Notbehelf einer Zeit, in welcher die volle Gewalt des dramatischen Schaffens dem Volke noch nicht gekommen oder wieder geschwunden ist. Es ist eine alte Gattung. Schon bei den Griechen wurden Stücke für die Rezitation geschrieben, mehre der römischen Deklamationsstücke sind uns erhalten. Auch in Deutschland hat das Bücherdrama von den Komödien der Hroswith über die stilistischen Versuche der ersten Humanisten bis zu dem größten Gedicht der Deutschen eine lange Geschichte. Unendlich verschieden ist der dichterische Wert dieser Werke. Aber die Benutzung der dramatischen Form zu poetischen Wirkungen, welche darauf verzichten, die höchsten ihrer Gattung zu sein, ist im Ganzen betrachtet eine Einschränkung, gegen welche sich die Kunst selbst, ja auch der genießende Leser auflehnt.

Auf den Blättern dieses Buches wurde der Beweis versucht, daß die technische Arbeit des Schaffenden beim Drama nicht ganz leicht und mühelos sei. Diese Gattung der Poesie fordert mehr vom Dichter als irgend eine andere. Eine eigentümliche, nicht häufige Befähigung, die seelischen Vorgänge bedeutender tatkräftiger Menschen darzustellen; mit Leidenschaft und Klarheit wohltemperierte Natur; ausgebildete und sichere dichterische Begabung, dazu Menschenkenntnis und was man im wirklichen Leben Charakter nennt; außerdem genaue Bekanntschaft mit der Bühne und ihren Bedürfnissen. Und doch ist auffallend, daß von den Vielen, welche Anläufe in diesem Gebiete des Schaffens machen, die meisten nur dilettierende Freunde des Schönen sind; gerade sie wählen die mühevollste Tätigkeit und eine solche, welche ihnen am allerwenigsten einen Erfolg verspricht. Es ist wohl auch ernste Arbeit, einen Roman zu schreiben, der den Namen eines Kunstwerks verdient; aber bei einiger Gestaltungskraft und Menschenkenntnis vermag doch jeder Gebildete, der sich sonst nicht als Dichter versucht hat, etwas Lesbares zu bieten, worin einzelne bedeutende Eindrücke des eigenen Lebens, Geschautes und Durchgefühltes gemütvoll verflochten sind. Weshalb lockt gebildete, sehr tüchtige Männer gerade die eigensinnigste aller Musen, die so schwer zugänglich und so unartig gegen jeden ist, der ihr nicht ganz angehört? Welcher Feind ihres Lebens lenkt gerade solche warmherzige Freunde, welche in den Mußestunden ihres tätigen Lebens ein wenig Poesie treiben, auf ein dichterisches Gebiet, in welchem die engste Verbindung einer immerhin seltenen Gestaltungskraft mit einer ungewöhnlich festen Beherrschung künstlerischer Formen die Voraussetzung jedes dauerhaften Erfolges ist? Verführt vielleicht die geheime Sehnsucht des Menschen nach dem, was ihm am meisten fehlt? und sucht der Dilettant gerade deshalb das Drama in sich herauszubilden, weil ihm bei lebhaften dichterischen Anschauungen doch versagt ist, seine unruhig flatternden Empfindungen in dem Körper einer Kunstform schöpferisch zu beleben? Zuverlässig ist bei solchen der Versuch, für die Bühne zu arbeiten, vergeblich und hoffnungslos.

Dem Dichter aber, der für sein Leben mit dramatischer Kraft ausgerüstet wurde, wünschen wir vor anderen Gütern ein festes und geduldiges Herz.

Noch anderes Fördernde muß er für sein Handwerk mitbringen. Er soll schnell und freudig das Reizende eines Stoffes empfinden und doch die Dauer haben, denselben in sich zur Reife zu tragen. Er soll sich, bevor er selbst als Schaffender auf die Bühne steigt, längere Zeit mit einigen Hauptgesetzen des Schaffens vertraut machen, denn er muß zu prüfen verstehen, ob ein Stoff in der Hauptsache brauchbar sei. Auch darin muß das Urteil sein warmes Herz überwachen von dem ersten Augenblick, wo der Anreiz zum Schaffen in ihm entsteht. Ein Bühnenwerk, welches mißlungen ist, bezeichnet ihm durchschnittlich ein verlorenes Jahr seines Lebens.

Nicht mit gleicher Schnelligkeit heftet sich die Einbildungskraft der einzelnen Dichter an den Stoff; dem Anfänger flattert die suchende Seele leicht auf einen Gipfelpunkt, welcher sich darbietet, und unter dem ersten grünenden Zweig wird das Nest gebaut. Wer durch Erfahrungen gewarnt ist, wird wählerisch und prüft wohl zu lange. Häufig ist nicht Zufall, was einen Stoff der Seele nahe legt, sondern Stimmung und Eindruck des eigenen Lebens, welcher die Phantasie nach einer bestimmten Richtung zieht. Dann arbeitet die Seele schon heimlich über dem Stück, bevor sie einen Helden und seine Hauptszenen gefunden hat, und was sie von dem Stoffe fordert, ist, daß er ihr die Möglichkeit gewisser szenischer Wirkungen darbiete.

Die Schwierigkeiten, welche die einzelnen Stoffkreise bereiten, sind genügend hervorgehoben. Wer aber von schwerem Entschluß ist, möge auch bedenken, daß es bei den meisten Begebenheiten von der Kraft seiner Begabung abhängt, ob dieselben in eine brauchbare Handlung verwandelt werden. Eine sichere Dichterkraft bedarf nur weniger Momente aus Sage, Geschichte, Erzählung, nur eines starken und folgenschweren Gegensatzes, um eine Handlung daraus zu bilden.

Wenn der dramatische Dichter des Altertums diese Züge in seinen Sagen kurz vor dem Untergange der großen Helden des Epos fand, so darf doch gefragt werden, ob es bei historischen Dramen ebenfalls notwendig ist, die Haupthelden der Geschichte derart zum Mittelpunkt der Handlung zu machen, daß diese sich um ihr Schicksal und ihren Untergang bewegt. Wie schwer und mißlich es ist, ein bedeutendes geschichtliches Leben künstlerisch zu verwerten, ist bereits ausgeführt. Und man wende auch nicht ein, daß der größere historische Anteil, welchen die Haupthelden der Geschichte einflößen, und daß die vaterländische Begeisterung, welche der Dichter wie der Zuschauer ihnen entgegenbringt, sie vorzugsweise zu Helden des Dramas geeignet machen. Zunächst bietet die ältere deutsche Geschichte verhältnismäßig wenig Heldengestalten, deren Andenken durch ein großes Interesse der Gegenwart teuer ist. Was sind unserem Volke die Kaiser des sächsischen, fränkischen, staufischen, habsburgischen Hauses? Die Ziele, für welche sie siegten und untergingen, werden vielleicht durch die Überzeugungen der Gegenwart verurteilt, die Kämpfe ihres Lebens sind für uns ohne leichtverständliche Ergebnisse geblieben, sie sind für das Volk tot und eingesargt. Ferner aber wird der gewissenhafte Dichter vor den nicht sehr zahlreichen geschichtlichen Helden, welche noch in der Erinnerung des Volkes fortleben, besondere und neue Hemmnisse erkennen, welche ihm die Frische seines Schaffens einengen. Gerade der patriotische Anteil, welchen er selbst mitbringt und bei dem Hörer erwartet, vermindern ihm die überlegene Freiheit, mit der er als Dichter über jedem seiner Charaktere schweben muß, und verleiten ihn zu tendenziöser Darstellung oder zu porträtmäßiger Zeichnung. Ist einmal einem deutschen Dichter das dramatische Bild des großen Kurfürsten gelungen, so sind Luther, Maria Theresia, der alte Fritz um so öfter verunglückt.

Aber es ist durchaus nicht nötig, die Könige und Heerführer der Geschichte zu Haupthelden eines historischen Dramas zu machen, welches sich mit Vorteil doch nur auf einem kleinen Teilstück ihres geschichtlichen Lebens aufzubauen vermag. Als weit bequemer und lohnender wird sich erweisen, die Rückwirkungen, welche aus ihrer Persönlichkeit in das Leben Anderer fallen, zu verwerten. Wie gut hat das Schiller schon im Carlos, dann in der Maria Stuart getan! Der Philipp des ersten Stückes ist glänzendes Beispiel, wie ein geschichtlicher Charakter als Mitspieler für das Drama zu gebrauchen ist.

Denn mit dem Leben bekannter historischer Helden sind eine Menge Gestalten verbunden, von denen einzelne eigenartige Züge berichtet werden, welche die freie Erfindung gedeihlich anregen. Solche Nebengestalten der Geschichte, über deren Leben und Ausgang der Dichter freier verfügen kann, sind ihm vorzüglich bequem. Ein Verrat und seine Strafe, eine leidenschaftliche Tat des Hasses und ihre Folgen, eine Szene aus großem Familienzwist, ein trotziger Kampf oder ein schlaues Spiel gegen überlegene Gewalt geben ihm einen massenhaften Stoff. Und solche Züge finden sich auf jedem Blatt unserer Geschichte wie bei anderen gebildeten Völkern.

Wer Selbstgefühl hat, wählt zuverlässig seine Bilder lieber aus dem für die Kunst noch nicht zugerichteten Stoff, welcher in dem wirklichen Leben der Vergangenheit und neuer Zeit zu finden ist, als aus solchen Vorlagen, welche ihm durch andere Gattungen der Kunstpoesie geboten werden. Für das ernste Drama sind Stoffe, welche aus Romanen und modernen Novellen gehoben werden, wenig dankbar. Wenn Shakespeare Novellenstoffe benutzte, so waren seine Quellen in unserem Sinne nichts als kurze Anekdoten, in denen allerdings ein künstlerischer Zusammenhang und ein kräftiger Abschluß bereits erfunden war. Bei den ausgeführten epischen Erzählungen der Gegenwart jedoch erweist die Phantasie eines Dichters ihre Kraft häufig gerade in Wirkungen, welche den dramatischen innerlich feindlich sind, und die geschmückte und behagliche Ausführung der Menschen und Situationen im Roman mag dem Dramendichter die Einbildungskraft eher abstumpfen als reizen. Unrecht aber gegen fremdes Eigentum wird er schwerlich verüben, wenn er seinen Stoff auch aus diesem Kreise der Erfindung holt. Denn ist er ein Künstler, so geht doch nur sehr wenig von der Schöpfung Anderer auf sein Drama über.

Der tragische Dichter vermag sich allerdings seine Handlung auch ohne jede Benutzung eines bereits vorhandenen Stoffes zu erfinden. Gleichwohl geschieht das seltener und schwerfälliger, als man wohl meint. Unter den großen Dramen unserer Bühne gibt es, gerade wie einst im Altertum, sehr wenige, welche nicht auf einem vorhandenen Stoff ausgebaut sind: Denn es ist eine Eigenheit der Einbildungskraft, daß sie die Bewegung im Leben eines Menschen lebendiger und genauer empfindet, wenn sie sich an eine gegebene Gestalt und deren Schicksal anspinnen kann. Nicht leicht wird ihr das selbstgefundene Bild so fest und gewaltig, daß sie eine kräftige Arbeit daran zu knüpfen geneigt ist.

Und noch eine Überzeugung mag der Dichter in stiller Seele bewahren: daß kein Stoff völlig gut und wenige ganz unbrauchbar sind. Es gibt auch nach dieser Seite kein vollkommenes Kunstwerk. Jeder Stoff hat innere Übelstände, welche die Kunst des Dichters so weit zu bewältigen vermag, daß das Ganze den Eindruck der Schönheit und Größe macht. Zu erkennen sind diese Schwächen aber immer für den geübten Blick, und jedes Kunstwerk ohne Ausnahme gibt nach dieser Seite der Kritik Veranlassung zu Ausstellungen. Der Beurteilende hat dafür zu sorgen, daß auch er gegenüber diesen Mängeln des Stoffes verstehe, ob der Dichter seine Pflicht getan, d. h. alle Mittel seiner Kunst angewendet habe, sie zu bewältigen und zu verdecken.

In der fröhlichen Stimmung, daß er ein wackeres Werk beginne, wird der Dichter sich das Liebgewordene streng prüfend gegenüberstellen, sobald seine Seele anfängt, die Stoffmasse verschönernd zu umziehen. Er wird sich die Idee deutlich zu machen, alles Zufällige, was aus der Wirklichkeit daran hängt, abzustreifen haben.

Zu dem ersten Reizvollen, welches in seiner Seele lebendig wird, gehören charakteristische Lebensäußerungen des Helden in einzelnen Augenblicken innerer Bewegung oder kräftiger Tat. Um diese Bilder zu vermehren und um die Charaktere zu vertiefen, wird er ernsthaft das wirkliche Leben seines Helden und dessen Umgebung zu verstehen suchen. Er wird deshalb vor einem historischen Drama gute Studien machen, und diese Arbeit wird ihm reichlich belohnt, denn aus ihr geht ihm eine große Zahl von Anschauungen und Bildern auf, welche ihm schnell durch die Phantasie in das entstehende Werk eingefügt werden. Die anerkennende Seele des Deutschen hat gerade für solche bezeichnende Einzelheiten sehr lebhafte Empfindung, und der Dichter wird sich deshalb auch wohl einmal hüten müssen, daß das historische Kostüm, Wunderliches und Besonderes einer Zeit, ihm nicht zu wichtig werde.

Hat er in solcher Weise die Welt seiner künstlerischen Anschauungen so viel als möglich erweitert, dann werfe er seine Bücher bei Seite und ringe wieder nach der Freiheit, welche ihm nötig ist, um über dem vorhandenen Stoff frei spielend zu walten. Vier Regeln aber halte er als Beschränkungen seiner treibenden Kraft fest in der Seele: der Handlung ein kurzer Verlauf, wenig Personen, wenig Verwandlungen, schon bei dem ersten Entwurf starkes Herausheben der wichtigen Teile der Handlung.

Er mag sich Pläne niederschreiben oder nicht. Im Ganzen ist darauf nicht viel zu geben. Breite schriftliche Auseinandersetzungen haben das Gute, daß sie die einzelnen Absichten durch Nachdenken deutlich machen, aber den Übelstand, daß sie leicht die Einbildungskraft lähmen und außerdem das fortwährend nötige Umbilden und Ausscheiden erschweren. Ein Blatt kann für den Entwurf vollständig genügen.

Bevor der Dichter an die Ausführung geht, sollen ihm die Charaktere seiner Helden, ihre Stellung zu einander in allen Hauptsachen feststehen, und ebenso die Ergebnisse jeder einzelnen Szene; dann gestalten sich leicht die Bilder der Szenen und ihr dramatischer Verlauf während der Arbeit.

Allerdings schließt die kräftigste Arbeit vor Beginn des Schreibens spätere kleine Abänderungen in den Charakteren nicht aus, denn die schaffende Kraft des Dichters steht nicht still. Er meint seine Gestalten zu treiben, und er wird heimlich von ihnen getrieben. Es ist ein freudvoller Vorgang, den er in der Arbeit an sich selbst beobachtet, wie durch seine schöpferische Kraft und unter dem logischen Zwang der Begebenheiten die empfundenen Gestalten in den Szenen lebendig werden. An die einzelne Erfindung hängt sich eine neue, plötzlich blitzt eine schöne und große Wirkung auf. Und während dem klaren Geiste Ziele und Ruhepunkte des Weges feststehen, arbeitet die wogende Empfindung über den Wirkungen, den Dichter selbst aufregend und erhebend. Es ist eine starke innere Bewegung, den günstig beanlagten Dichter beglückend und kräftigend, denn über der heftigsten Spannung durch die treibende Phantasie, welche ihm in leidenschaftlichen Stellen seiner Handlung die Nerven bis zum Zucken spannt und die Wangen rötet, schwebt in heiterer Klarheit, beherrschend, frei wählend und ordnend der Geist.

Verschieden ist die Arbeit desselben Dichters an den einzelnen Momenten. Manche derselben gehen glänzend auf, ihre vorausempfundenen Wirkungen bewegen das Gemüt lebhaft, das Niedergeschriebene erscheint nur als schwacher Abdruck eines leuchtenden inneren Bildes, dessen Farbenzauber geschwunden ist; andere Momente entwickeln sich vielleicht langsam, nicht ohne Mühe, die Phantasie ist träge, die Nervenspannung nicht stark genug, zuweilen ist, als sträube sich die schöpferische Kraft gegen die Situation. Nicht immer werden solche Szenen die schlechtesten.

Sehr verschieden ist auch die Stärke der Schaffenskraft. Der Eine ist schnell in der Arbeit des Niederschreibens, dem Andern gestaltet sich das Empfundene langsam, schwerflüssig auf dem Papier. Nicht immer sind die Schnelleren im Vorteil. Ihre Gefahr ist, daß sie zu frühe, bevor die Arbeit der Phantasie die nötige Reife erlangt hat, die Bilder feststellen. Denn oft ist es dem Dichter möglich, sich selbst zu sagen, daß die innere, unbewußte Arbeit fertig sei, und den Augenblick zu erkennen, wo die Einzelheiten der Wirkungen richtig ausgebildet sind. Das Reifenlassen der Bilder aber ist eine wichtige Sache, und es ist eine Eigentümlichkeit der schöpferischen Kraft, daß sie, wie wir annehmen möchten, auch in Stunden tätig ist, in denen der Dichter nicht über seiner Arbeit weilt.

Nicht unwichtig ist die Reihenfolge, in welcher der Dichter sein Stück niederschreibt. Dem Einen arbeitet die wohlgezogene Einbildungskraft Szenen und Akte in der Aufeinanderfolge aus, Andern heftet sie sich bald hier bald da an eine größere Wirkung. Das Geschriebene aber gewinnt eine Gewalt über das Ungeschriebene. Sobald Anschauung und Empfindung in Worte gefaßt sind, treten sie dem Dichter wie ein fremdes Bestimmendes gegenüber; sie regen von Neuem an, und ihre Farbe und ihre Wirkungen ändern die späteren ab. Wer in der gesetzlichen Reihenfolge arbeitet, wird den Vorteil haben, daß sich ihm Stimmung aus Stimmung, Situation aus Situation im regelmäßigen Laufe entwickelt; er wird nicht immer vermeiden, daß ihm leise und allmählich unter seinen Händen der Weg, den er seine Gestalten führen wollte, ein wenig abweicht. Es scheint, daß Schiller so gearbeitet hat. Wer dagegen sich zuerst das gegenüberstellt, was ihm gerade die spielende Phantasie lebhaft beleuchtet hat, der wird den Gesamteindruck und Gang seines Kunstwerks vielleicht sicherer übersehen, er wird während der Arbeit aber bald hier und da Veränderungen in Motiven und in Einzelzügen einzusetzen haben. Dies war wenigstens in einzelnen Fällen die Arbeit Goethes.

Ist das Stück bis über die Katastrophe vollendet und das Herz von Freude über das fertige Werk erhoben, dann beginnt die Gegenwirkung, welche die Welt im Großen und Kleinen gegen eine hochgesteigerte Stimmung des Menschen geltend macht. Noch ist die Seele des Dichters sehr warm, die Gesamtheit des Schönen, das er im Schaffen empfunden hat, das innere Bild, welches er von den Wirkungen hat, trägt er noch unbefangen auf das geschriebene Werk über. Es erscheint ihm nach der Stimmung der Stunde verfehlt oder höchlich gelungen, im Ganzen wird er bei gesunder Geistesanlage geneigt sein, der Kraft, die er dabei bewährt hat, zu vertrauen.

Aber sein Werk wird, wenigstens wenn er ein Deutscher ist, meist noch nicht vollendet sein. Wenn auch der Dichter für die Aufführung schreibt, empfindet er doch nicht, wie bereits gesagt wurde, in jedem Augenblick die Eindrücke, welche die Momente seines Stückes auf der Bühne hervorbringen. Ungleich arbeitet die dramatische Kraft auch nach dieser Richtung, und es ist anziehend, ihre Schwankungen an sich selbst zu beobachten. Man vermag sie auch an den Werken großer Dichter zu erkennen. Bald ist eine Szene durch lebhafte Empfindung der szenischen Handlung ausgezeichnet, die Rede gebrochen, die Wirkungen genauer durch Übergänge vermittelt; ein andermal fließt sie für die Leser bequemer als für die Schauspieler dahin. Und wie richtig der Dichter auch das Ganze der Szenenwirkung empfunden haben mag, im Einzelnen hat ihn doch der Sinn der Worte mehr gekümmert und die Wirkung, welche sie vom Schreibtische auf die empfangende Seele ausüben, als der Klang derselben und die Vermittelung mit dem Zuschauer durch die darstellenden Helfer. Aber nicht nur die Schauspielkunst macht ihre Rechte gegen sein Stück geltend und verlangt hier ein stärkeres Hervortreiben einer Wirkung, dort ein Abdämpfen; auch das Publikum ist dem Dichter gegenüber eine ideale Körperschaft, welche eine bestimmte Art der Behandlung fordert. Wie zur Zeit Shakespeares die Einbildungskraft der Hörenden reger war, der Genuß an den gesprochenen Worten größer, aber das Verständnis des Zusammenhanges langsamer, so hat auch jetzt die Zuhörerschaft eine Seele mit bestimmten Eigenschaften. Sie hat bereits vieles aufgenommen, ihr Verständnis des Zusammenhanges ist schnell, ihre Ansprüche an kräftigen Fortschritt groß, die Vorliebe für bestimmte Arten von Situationen übermäßig entwickelt.

Der Dichter wird deshalb genötigt sein, sein Werk der Schauspielkunst und dem Publikum anzupassen. Dieses Geschäft, dessen Regiebezeichnung aptieren ist, vermag der Dichter allerdings nur in seltenen Fällen allein vollständig durchzusetzen.

Die Striche sind mit großem Unrecht im Lande der dramatischen Poesie übel berüchtigt, sie sind vielmehr, da zur Zeit das Schaffen des deutschen Dichters mit schwacher Entwickelung des Formensinnes zu beginnen pflegt, häufig die größte Wohltat, welche seinem Stück erwiesen werden kann, unentbehrliche Vorbedingungen für die Aufführung, das einzige Mittel, Erfolg zu sichern. Sie sind ferner ein Recht, welches zuweilen die Schauspielkunst gegen den Dichter geltend machen muß, sie sind auch die unsichtbaren Helfer, welche das Bedürfnis der Zuschauer und die Ansprüche des Schaffenden ausgleichen. Wer an seinem Arbeitstisch mit stillem Behagen die dichterische Schönheit eines Werkes durchempfindet, der denkt ungern daran, wie sehr in dem Lichte der Bühne die Wirkungen sich ändern. Auch würdige Schriftsteller, welche den verdienstlichen Beruf gewählt haben, die Schönheiten großer Dichter den Zeitgenossen zu erklären, sehen gern mit Verachtung auf einen Handwerksgebrauch der Bühnen herab, der die schönste Poesie unbarmherzig verstümmelt. Wer so empfindet, kennt zu wenig Gesetz und Recht der lebendigen Darstellung durch Menschen. Erst durch den Stift eines sorgfältigen Regisseurs treten die schönen Formen in den Kunstwerken Shakespeares und Schillers für unsere Bühne in das richtige Verhältnis. Allerdings erfreut sich nicht jede Bühne einer technischen Leitung, welche mit Feingefühl und Verständnis für das Bühnengemäße diese Arbeit verrichtet. Und sehr widerwärtig ist die rohe Faust, welche in das dramatisch Schöne hineinschneidet, weil es einmal unbequem wird oder dem Geschmack eines verwöhnten Publikums zuwiderläuft. Aber die schlechte Anwendung eines unentbehrlichen Kunstmittels sollte dasselbe nicht in Verruf bringen, und wenn man die Klagen der Dichter über Mißhandlung ihrer Werke nach ihrer Berechtigung abschätzen wollte, so würde man in der Mehrzahl der Fälle ihnen Unrecht geben müssen.

Nun ist bei diesem Aptieren des Stückes Vieles persönliche Ansicht, die Berechtigung des einzelnen Striches zuweilen zweifelhaft. Und die Regie eines Theaters, welche selbstverständlich die Wirkung auf einer bestimmten Bühne im Auge hat, wird auch die Persönlichkeiten ihrer Schauspieler dabei mehr berücksichtigen, als dem Dichter vor der Aufführung willkommen ist. Sie wird einem tüchtigen Schauspieler, welcher den Hörern besonders wert ist, auch einmal Entbehrliches stehen lassen, wenn sie eine Wirkung davon erwartet, sie wird wieder einer Rolle, deren Besetzung mangelhaft sein müßte, gern eine achtbare Nebenwirkung nehmen, wenn sie die Überzeugung hat, daß der Schauspieler dieselbe nicht herauszubringen vermag.

Der Verfasser des Stückes darf deshalb das Verkürzen seines Werkes nicht ganz Fremden überlassen; er vermag es, wenn ihm nicht längere Bühnenerfahrung zur Seite steht, schwerlich ohne fremde Hilfe zu Ende zu bringen. Er wird also sich zwar selbst das letzte Urteil vorbehalten müssen, und er wird einer Bühne gewöhnlich nicht gestatten, Kürzungen ohne seine Einwilligung vorzunehmen; aber er wird auch die Ansicht von Männern, welche bessere Erfahrung haben, mit Selbstverleugnung anhören und geneigt sein, ihnen nachzugeben, wo nicht sein künstlerisches Gewissen ihm Zugeständnisse unmöglich macht. Da aber sein Urteil noch nicht unbefangen ist, so wird er bei dem ersten Eindringen einer wohlwollenden Kritik in seine Seele durch Unsicherheit und innere Kämpfe sich hindurchwinden müssen. Zu großem Nutzen für sein Urteil. Die erste Störung in dem behaglichen Frieden eines Dichtergemütes, welches sich gerade der Vollendung eines Werkes freut, ist für eine weiche Seele vielleicht schmerzlich, aber sie ist heilsam wie ein frischer Luftzug in lauer Sommerzeit. Der Dichter soll sein Werk hochachten und lieben, solange er es als Ideal in sich trägt und daran arbeitet; das fertige Werk muß auch für ihn abgetan sein. Es muß ihm fremd werden, damit seine Seele die Unbefangenheit für neue Arbeit gewinne.

Zunächst freilich soll der Dichter noch in seiner Arbeitsstube das erste Anpassen versuchen. Es ist eine unfreundliche Tätigkeit, aber sie ist sehr nötig. Vielleicht hat er schon beim Schreiben Einzelnes als entbehrlich empfunden, er hat manche Stimmung, die ihm besonders lieb war, breiter ausgeführt, als eine leise Mahnung seines Gewissens gestatten wollte. Ja, es ist möglich, daß sein Werk nach Vollendung der Arbeit in dem Augenblicke, wo er es für fertig hält, noch eine ziemlich chaotische Masse von richtigen und kunstvollen Wirkungen und von episodischer Zutat oder schädlicher ungleichmäßiger Ausführung ist.

Jetzt ist die Zeit gekommen, wo er nachholen mag, was er bei der Arbeit versäumt. Szene um Szene durchmustere er prüfend, in jeder untersuche er den Lauf der einzelnen Rollen, die Aufstellung, die gebotenen Bewegungen der Personen, er versuche in jedem Moment der Szene ihr Bild auf der Bühne sich lebendig zu machen, treffe genaue Bestimmungen über die Ein- und Ausgänge, durch welche seine Personen auftreten und abgehen, überlege auch die Dekorationen und das Gerät, ob sie nicht hindern, wie sie am besten fördern.

Und nicht weniger genau untersuche er die dramatische Strömung der Szene selbst. Wahrscheinlich wird er dabei Längen entdecken, denn dem Schreibenden erscheint leicht ein Nebenzug zu wichtig, oder die Rolle eines Lieblings ist störend für die Gesamtwirkung in den Vordergrund getreten, oder die Ausführungen der Reden und Gegenreden sind zu zahlreich. Und unerbittlich tilge er wieder, was dem Bau der Szenen nicht zum Heile gereicht, wenn es an sich auch noch so schön ist. Und er gehe weiter und prüfe die Verbindung der Szenen eines Aktes, dann die Gesamtwirkung desselben. Er strenge seine ganze Kunst an, um Binnenwechsel der Dekorationen wegzuschaffen, vollends da, wo ein Akt ihm zweimal durch solche Einschnitte gebrochen wird. Beim ersten Anblick erscheint ihm das wahrscheinlich unmöglich, aber es muß möglich sein.

Und hält er die Akte für geschlossen, ihre Szenengliederung für befriedigend, dann vergleiche er die Steigerung der Wirkungen durch die einzelnen Akte, ob die Kraft des zweiten Teils auch der des ersten entspricht. Er steigere den Höhenpunkt durch Aufgebot seiner besten poetischen Kraft und habe ein scharfes Auge auf seinen Akt der Umkehr. Denn wenn die Hörer mit seiner Katastrophe nicht zufrieden sein sollten, liegt häufig der Fehler in dem vorhergegangenen Akte.

Dem Dichter wird durch die Gewöhnung seiner Mitlebenden die Länge der Zeit bestimmt, innerhalb welcher sich die Handlung vollenden muß. Mit Erstaunen lesen wir von der Fähigkeit der Athener, fast einen ganzen Tag die größten und angreifendsten tragischen Wirkungen zu ertragen. Noch Shakespeares Stücke sind nicht unbedeutend länger, als unserem Publikum bequem wäre, sie würden unverkürzt auch in einem kleinen Hause, wo schnelleres Sprechen möglich ist, in der Mehrzahl fast vier Stunden in Anspruch nehmen. Der deutsche Zuhörer verträgt im geschlossenen Theater nur schwer eine Darstellung, welche drei Stunden überdauert. Das ist ein keineswegs gering zu achtender Umstand; denn in der Zeit, welche darüber hinausreicht, sind, wie spannend die Handlung auch sein möge, Störungen durch einzelne abgehende Zuhörer und eine gewisse Unruhe der Bleibenden kaum zu verhindern. Diese Beschränkung ist aber auch deshalb ein Übelstand, weil gegenüber großem Stoff und reicher Ausführung die Zeit von drei Stunden eine enggemessene ist, zumal auf unseren Bühnen dem fünfaktigen Stück durch vier Zwischenakte noch fast eine halbe Stunde verloren geht. Von den deutschen Dichtern ist es Schiller bekanntlich am schwersten geworden, sich mit der Bühnenzeit abzufinden, und obgleich seine Verse schnell dahinschweben, würden seine Stücke unverkürzt doch fast sämtlich längere Zeit in Anspruch nehmen, als die Hörer vertragen.

Ein fünfaktiges Stück, welches nach der Zurichtung für die Bühne im Akte durchschnittlich fünfhundert Verse enthält, übersteigt schon die gegebene Zeit. Im Ganzen darf man 2000 Verse als die regelmäßige Länge eines Bühnenstückes betrachten, ein Umfang, dessen Zeitdauer freilich durch den Charakter des Stückes, das mittlere Tempo der Reden, Gedrungenheit oder leichteren Fluß der Verse bedingt wird, auch dadurch, ob die Handlung des Stückes selbst viele Einschnitte, Pausen, Massenbewegungen und mimische Tätigkeit der Schauspieler verlangt. Zuletzt durch die Bühne, worauf gespielt wird, denn die Größe und gute oder schlechte Schallfähigkeit des Hauses und die Gewohnheit des Ortes üben wesentlichen Einfluß.

Allerdings sind die meisten Bühnenwerke unserer großen Dichter bedeutend länger,* aber der Dichter würde sich vergebens auf ihr Vorbild berufen. Denn ihre Werke stammen sämtlich aus einer Zeit, in welcher der gegenwärtige Bühnenbrauch entweder noch gar nicht vorhanden oder weniger zwingend war. Und zuletzt nehmen sie auf unseren Bühnen die Freiheiten vornehmer Hausfreunde in Anspruch, sich die Zeit ihres Abschiedes zu wählen und die Bequemlichkeit Anderer nicht zu berücksichtigen. Wer jetzt auf der Bühne heimisch werden will, muß sich einem Brauch, der nicht sofort abzustellen ist, fügen. Der Dichter wird also sein Werk zuletzt auch nach der Verszahl schätzen, und wenn dasselbe, wie zu befürchten, über die Bühnenzeit hinausgeht, so wird er noch einmal mustern, was irgend entbehrlich ist.

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*Zwanzig unserer großen Bühnenstücke in Versen haben folgende Länge:

Carlos 5471 Verse, Othello 3133 Verse,
Maria Stuart 3927 Coriolan 3124
Wallensteins Tod 3865 Romeo und Julia 2979
Nathan 3847 Braut von Messina 2845
Hamlet 3715 Die Piccolomini 2669
Richard III. 3603 Kaufmann v. Venedig 2600
Torquato Tasso 3453 Julius Cäsar 2590
Jungfrau v. Orleans 3394 Iphigenie 2174
Wilhelm Tell 3286 Macbeth 2116
König Lear 3255 Prinz von Homburg 1854

Die Zahlen machen nicht den Anspruch unbedingter Genauigkeit, da die unvollendeten Verse abzuschätzen waren - sie sind durchschnittlich mitgezählt - und da die Stellen in Prosa, welche bei Shakespeare bekanntlich umfangreich sind, nur eine ungefähre Schätzung erlauben. Die Dramen in Prosa: Emilia Galotti, Clavigo, Egmont, Kabale und Liebe, entsprechen unserer Bühnenzeit besser. Von den aufgezählten Dramen in Versen sind nur die drei letzten ohne jede Verkürzung aufzuführen, die ihnen aus anderen Gründen doch nicht ganz erlassen wird. Carlos, der über alles Maß hinausgeht, würde unverkürzt sechs Stunden in Anspruch nehmen.

Da „Wallensteins Lager“ - mit den Liederzeilen - 1105 schnell dahinschwebende Verse hat, so würden die drei Stücke des dramatischen Gedichtes Wallenstein zusammen 7639 Verse zählen und bei Aufführung an einem Tage ungefähr soviel Zeit fordern als das Oberammergauer Passionsspiel. Keine einzige der Hauptrollen ist so umfangreich, daß ihre Bewältigung an einem Tage dem Schauspieler Übermäßiges zumutet.
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Hat er diese herbe Arbeit der Selbstprüfung, soweit er vermochte, beendet, dann möge er daran denken, das Stück für die Öffentlichkeit vorzubereiten.

Zu dieser Arbeit ist dem jungen deutschen Dichter ein erfahrener Bühnenfreund unentbehrlich. Er wird ihn in dem Leiter oder Regisseur einer größern Bühne zu erwerben suchen. Er wird diesem sein Werk in Handschrift einsenden.

Nun beginnt neues Erwägen, Verhandeln, Kürzen, bis der Wortlaut des Stückes für die Aufführung festgestellt ist. Hat der Dichter die zweckmäßigen Änderungen vorgenommen, so wird sein Werk bei dem Theater, mit dem er sich vertrauensvoll in Verbindung gesetzt hat, gewöhnlich rasch aufgeführt. Ist ihm möglich, dieser Aufführung beizuwohnen, so wird das ihm sehr nützlich sein, weniger deshalb, weil er selbst sofort die Übelstände und Mängel seiner Arbeit erkennt, denn bei jungen Schriftstellern kommt die Selbsterkenntnis selten so schnell, sondern weil auch dem erfahrenen Leiter einer Bühne manche Schwächen und Längen des Stückes erst durch die Aufführung deutlich werden.

Es ist wahr, die erste Verbindung des Dichters mit der Bühne ist für ihn nicht frei von Mißbehagen. Die Sorge um die Aufnahme des Stückes legt sich beengend auch um ein mutiges Herz, immer noch tun die Kürzungen weh, und das Beschreiten der halbdunklen Bühne wird peinlich durch die innere Unsicherheit und durch Bedenken gegen die unfertigen Leistungen der Darsteller. Aber diese Verbindung hat auch viel Herzerfreuendes und Lehrreiches: die Proben, das Aufnehmen des wirklichen Bühnenbildes, die Bekanntschaft mit Brauch und Ordnung des Theaters. Und bei erträglichem Erfolg des Dramas bleibt vielleicht die Erinnerung daran dem Dichter ein werter Besitz des späteren Lebens.

Hier eine Warnung. Der junge Dichter soll einigemal sich am Einüben und an den Aufführungen der Bühnen beteiligen. Er soll genau, bis ins Kleinste, die Einrichtung der Bühne, die Verwaltung des großen Organismus, die Wünsche der Darsteller kennenlernen. Aber er soll nicht auf seine Stücke reisen. Er soll nicht so warm in ihnen beharren, er soll nicht so eifrig den Beifall neuer Menschen suchen. Und ferner, er soll nicht den Regisseur spielen und soll sich während der Spielproben nur einmischen, wo das dringend geboten ist. Er ist kein Schauspieler und vermag in dem Eifer der forteilenden Proben schwerlich ein Verfehltes dem Darsteller durch Bessermachen zu ändern. Er merke sich an, was ihm auffällt, und bespreche dies später mit den Künstlern. Die Stelle des Dichters ist in der Leseprobe. Diese richte er so ein, daß zuerst er selbst - wenn ihm Stimme und Übung ward - sein Drama vorlese und daß, wo möglich, in einer zweiten Probe wieder die Künstler ihre Rollen lesen. Die gute Einwirkung, welche er auszuüben vermag, wird sich hier am besten bewähren.

Die größere Selbständigkeit der einzelnen Landschaften hat in Deutschland verhindert, daß die Erfolge eines Theaterstückes an der großen Bühne einer Hauptstadt maßgebend werden für die Erfolge auf den übrigen Theatern des Landes. Ein deutsches Drama muß das Glück haben, bei acht bis zehn größeren Theatern in den verschiedenen Teilen Deutschlands Erfolge zu erlangen, bevor sein Lauf über die übrigen als gesichert betrachtet werden kann. Während der Ruf eines Theaterstückes, welches von der Wiener Burg ausgeht, so ziemlich die übrigen Theater des Kaiserstaates bestimmt, hat schon das Berliner Hoftheater einen viel kleineren Kreis, in dem es den Ton angibt; was in Dresden gefällt, mißfällt vielleicht in Leipzig, und ein Erfolg in Hannover sichert noch keineswegs ähnlichen in Braunschweig. Indes so weit reicht doch der Zusammenhang der deutschen Bühnen, daß der gute Erfolg eines Bühnenwerkes auf einem oder zwei angesehenen Theatern die übrigen darauf aufmerksam macht. Überhaupt ist Mangel an Aufmerksamkeit auf das irgendwo dargestellte Brauchbare im Allgemeinen nicht der größte Vorwurf, welcher gegenwärtig den deutschen Theatern zu machen ist.

Hat ein Theaterstück die Probe einer ersten Aufführung durchgemacht, so gab es bisher zwei Wege, dasselbe an den Bühnen zu verbreiten. Der eine war, das Stück drucken zu lassen und an die einzelnen Theater zu versenden, der andere, die Handschrift einem Agenten zum Vertrieb zu übergeben.

Jetzt vertritt die Genossenschaft dramatischer Autoren und Komponisten zu Leipzig durch ihren Vorstand die Rechtsansprüche ihrer Mitglieder an deutsche Bühnen, sie besorgt den Vertrieb der dramatischen Werke zu Aufführungen, die Überwachung der Aufführungen, die Einziehung der Honorare und Tantiemen. Wer jetzt als junger Verfasser mit dem Theater zu tun hat, kann die Unterstützung durch die Genossenschaft gar nicht mehr entbehren, und es liegt deshalb in seinem Interesse, ein Mitglied derselben zu werden.

Aber außerdem ist einem jungen Schriftsteller auch wünschenswert, zu den Theatern selbst, ihren Vorständen, ausgezeichneten Mitgliedern usw. in unmittelbare Beziehung zu treten. Er lernt dadurch das Theaterleben, seine Forderungen und seine Bedürfnisse kennen. Deshalb schlägt er bei seinen ersten Stücken am besten einen Mittelweg ein. Ist sein Stück als Manuskript gedruckt ( er wählt nicht zu kleine Lettern, damit die Augen der Souffleure nicht über ihn weinen), so übergibt er dasselbe für die große Mehrzahl der Bühnen der Direktion seiner Genossenschaft, behält aber die Versendung und den Verkehr mit einigen Bühnen, von denen er besondere Förderung erwarten darf. Außerdem ist vorteilhaft, daß er einzelnen bedeutenden Darstellern der betreffenden Theater einen Abdruck seines Werkes sendet. Er bedarf der warmen Hingebung und des liebevollen Anteils der Schauspieler, es ist freundlich, daß auch er ihnen das Studium ihrer Rollen erleichtert. Die so eingeleitete Verbindung mit achtungswerten Talenten der Bühne wird dem Schriftsteller nicht nur nützlich sein, sie kann ihm auch bedeutende Menschen, warme Bewunderer des Schönen, vielleicht fördernde und treue Freunde gewinnen. Dem deutschen Dramatiker tut der frische, anregende Umgang mit gebildeten Darstellern mehr not als irgend etwas Anderes, denn am leichtesten erwirbt er durch ihn, was ihm gewöhnlich fehlt, genaue Kenntnis des Wirksamen auf der Bühne. Schon Lessing hat das erfahren.

Hat der Dichter dies alles getan, so wird er bei günstigem Erfolge seines Stückes bald durch einen ziemlich umfangreichen Briefwechsel in die Geheimnisse des Theaterlebens eingeweiht werden.

Und zuletzt, wenn der junge Bühnendichter in solcher Art das Kind seiner Träume in die Welt geschickt hat, wird er hinreichend Gelegenheit haben, noch etwas Anderes an sich herauszubilden als Bühnenkenntnis. Es wird seine Pflicht sein, glänzende Erfolge zu ertragen, ohne übermütig und eingebildet zu werden, und betrübende Niederlagen, ohne den Mut zu verlieren. Er wird viele Gelegenheit haben, sein Selbstgefühl zu prüfen und zu bilden, und wird auch in dem luftigen Reich der Bühne, gegenüber den Darstellern, den Tagesschriftstellern und den Zuschauern, noch etwas aus sich machen können, was mehr wert ist als ein gewandter und technisch gebildeter Dichter: einen festen Mann, der das Edle nicht nur in seinen Träumen empfindet, sondern auch durch sein eigenes Leben darzustellen redlich und unablässig bemüht sein soll.

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