Kapitel 1
2. Was ist dramatisch?
Dramatisch sind
diejenigen starken Seelenbewegungen, welche sich bis zum Willen und zum
Tun verhärten, und diejenigen Seelenbewegungen, welche durch ein
Tun aufgeregt werden; also die innern Vorgänge, welche der Mensch
vom Aufleuchten einer Empfindung bis zu leidenschaftlichem Begehren und
Handeln durchmacht, sowie die Einwirkungen, welche eigenes und fremdes
Handeln in der Seele hervorbringt; also das Ausströmen der Willenskraft
aus dem tiefen Gemüt nach der Außenwelt und das Einströmen
bestimmender Einflüsse aus der Außenwelt in das Innere des
Gemüts; also das Werden einer Tat und ihre Folgen auf
das Gemüt.
Nicht dramatisch ist die Aktion an sich und die leidenschaftliche
Bewegung an sich. Nicht die Darstellung einer Leidenschaft an sich, sondern
der Leidenschaft, welche zu einem Tun leitet, ist die Aufgabe der dramatischen
Kunst; nicht die Darstellung einer Begebenheit an sich, sondern ihrer
Einwirkung auf die Menschenseele ist Aufgabe der dramatischen Kunst. Ausführung
leidenschaftlicher Seelenbewegungen als solcher ist Sache der Lyrik, Schilderung
fesselnder Begebenheiten ist Aufgabe des Epos.
Beide Richtungen, in denen das Dramatische sich äußert, sind
allerdings nicht grundverschieden. Auch während der Mensch in der
Spannung und Arbeit ist, sein Inneres nach außen zu wenden, wirkt
seine Umgebung fördernd oder hemmend auf seine leidenschaftliche
Bewegung. Und wieder, auch während das Getane auf ihn zurückwirkt,
beharrt er nicht aufnehmend, sondern erhält durch die Aufnahme neue
Bewegungen und Wandlungen. Dennoch ist ein Unterschied in der Wirkung
beider eng verbundenen Vorgänge. Den höchsten Reiz hat immer
der erste Vorgang, der innere Kampf des Menschen bis zur Tat. Der zweite
fordert mehr äußerliche Bewegung, ein stärkeres Zusammenwirken
verschiedener Kräfte, fast alles, was die Schaulust vergnügt,
gehört ihm an; und doch ist er, wie unentbehrlich er dem Drama sei,
vornehmlich ein Befriedigen erregter Spannung, und leicht eilt über
ihn hinweg die Ungeduld des nachschaffenden Hörers, eine neue leidenschaftliche
Spannung im Innern der Helden suchend. Was wird, nicht, was als
ein Gewordenes Staunen erregt, fesselt am meisten.
Da die dramatische Kunst Menschen darstellt, wie ihr Inneres nach außen
wirkt oder durch Einwirkungen von außen ergriffen wird, so muß
sie folgerecht die Mittel benützen, durch welche sie den Zuhörern
diese Vorgänge der Menschennatur verständlich machen kann. Diese
Mittel sind Rede, Ton, Gebärde. Sie muß ihre Menschen vorführen
als sprechend, singend, im Gebärdenspiel. Die Poesie gebraucht also
zu Gehilfen für ihre Darstellung die Musik und Schauspielkunst.
In engem Verbande mit ihren helfenden Künsten, in kräftiger,
geselliger Arbeit, sendet sie ihre Bilder in die Seelen der Aufnehmenden,
welche zugleich Hörende und Schauende sind. Die Eindrücke, welche
sie hervorbringt, werden Wirkungen genannt. Die dramatischen Wirkungen
haben eine sehr eigentümliche Beschaffenheit, sie unterscheiden sich
nicht nur von den Wirkungen der bildenden Künste durch nachdrücklichere
Kraft und die allmähliche gesetzmäßige Steigerung in bestimmtem
Zeitmaß, sondern auch von den mächtigen Wirkungen der Musik
dadurch, daß sie durch zwei Sinne zugleich einströmen
und, daß sie nicht allein das Empfindungsleben, sondern auch die
Denkkraft des Hörers reizvoll spannen
Schon aus dem Gesagten ist klar, daß die nach den Bedürfnissen
dramatischer Kunst zugerichteten Personen einiges Besondere in ihrem Wesen
haben müssen, was sie nicht nur von den unendlich mannigfaltigeren
und komplizierteren Menschenbildern, welche uns das wirkliche Leben in
die Seele drückt, unterscheidet, sondern auch von den poetischen
Gebilden, welche durch andere Gattungen der Kunst, das Epos und den Roman
oder die Lyrik, wirksam gemacht werden. Die dramatische Person soll menschliche
Natur darstellen, nicht wie sie sich tätig und gefühlvoll in
ihrer Umgebung regt und spiegelt, sondern ein großartig und leidenschaftlich
bewegtes Innere, welches danach ringt, sich in die Tat umzusetzen, Wesen
und Tun anderer umgestaltend zu leiten. Der Mensch des Dramas soll in
starker Befangenheit, Spannung und Wandlung erscheinen; vorzugsweise die
Eigenschaften werden bei ihm in Tätigkeit dargestellt, welche im
Kampf mit anderen Menschen zur Geltung kommen, Energie der Empfindung,
Wucht der Willenskraft, Beschränktheit durch leidenschaftliches Begehren,
gerade die Eigenschaften, welche den Charakter bilden und durch den Charakter
verständlich werden. Es geschieht also nicht ohne Grund, daß
die Kunstsprache kurzweg die Personen des Dramas Charaktere nennt.
Aber die Charaktere, welche durch die Poesie und ihre helfenden Künste
vorgeführt werden, vermögen ihr inneres Leben nur zu betätigen
an einem Geschehenden, als Teilnehmer an einer Begebenheit, deren Verlauf
und innerer, Zusammenhang durch die dramatischen Vorgänge in der
Seele der Helden dem Zuhörer deutlich wird. Diese Begebenheit,wenn
sie nach den Bedürfnissen der Kunst zugerichtet ist, heißt
die Handlung.*
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* Die wenigen technischen Ausdrücke verlangen vom Leser eine unbefangene
Aufnahme. Mehre derselben haben auch im Tagesgebrauch seit den letzten
hundert Jahren einige feinere Wandelungen der Bedeutung durchgemacht.
Was hier Handlung heißt: der für das Drama bereits zugerichtete
Stoff (bei Aristoteles Mythos, bei den Römern Fabula), das heißt
bei Lessing noch zuweilen Fabel, während er den rohen Stoff, Praxis
oder Pragma des Aristoteles, durch Handlung übersetzt. Aber auch
Lessing gebraucht schon zuweilen das Wort Handlung besser, so wie es hier
verwendet wird.
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Jeder Teilnehmer an der dramatischen Handlung hat eine bestimmte Stellung
zum Ganzen, für jeden ist eine genau umschriebene Persönlichkeit
notwendig, welche so beschaffen sein muß, daß das Zweckvolle
derselben vom Zuhörer mit Behagen empfunden, das Menschliche und
Eigentümliche von dem Schauspieler durch die Mittel seiner Kunst
wirksam dargestellt werden kann.
Jene Seelenvorgänge, welche oben als die dramatischen bezeichnet
wurden, werden allerdings nicht an jeder der dargestellten Personen vollständig
sichtbar, zumal nicht auf der neuern Bühne, welche liebt, eine größere
Anzahl von Menschen als Träger ihrer Handlung aufzuführen. Aber
die Hauptpersonen müssen davon erfüllt sein, nur wenn diese
ihr Wesen in der angegebenen Weise kräftig, reichlich und bis zu
den geheimsten Falten des Innern darlegen, vermag das Drama große
Wirkungen hervorzubringen. Wird an den Hauptpersonen dies letzte Dramatische
nicht sichtbar und nicht dem Aufnehmenden eindringlich, so fehlt dem Drama
das Leben, es wird eine gekünstelte, leere Form ohne den entsprechenden
Inhalt, das anspruchsvolle Zusammenwirken mehrer verbundener Künste
macht diese Leere doppelt peinlich.
Neben den Hauptpersonen erhalten ihre Gehilfen, je nach dem Raum, welchen
sie im Stück einnehmen, mehr oder weniger Anteil an diesem dramatischen
Leben. Und völlig schwindet es auch in den kleinsten Rollen nicht,
selbst bei den Personen, welche nur durch wenige Worte ihre Teilnahme
erweisen können; bei dem Begleiter, dem Anmeldenden wird wenigstens
der Schauspielkunst die Pflicht, durch Tracht, Sprechweise, Haltung, Gebärde,
Aufstellung der eintretenden Person den für das Stück zweckmäßigen
Inhalt derselben äußerlich darzustellen, wenn auch knapp und
bescheiden.
Da aber die Darstellung derjenigen Seelenvorgänge, welche Vorrecht
und Bedürfnis des Dramas sind, Zeit in Anspruch nimmt, und dem Dichter
je nach der Gewohnheit seines Volkes auch das Zeitmaß für seine
Wirkungen begrenzt ist, so folgt schon hieraus, daß die dargestellte
Begebenheit die Hauptpersonen weit stärker hervorheben muß,
als bei einem Ereignis der Wirklichkeit, welches durch gemeinsame Tätigkeit
mehrer Menschen hervorgebracht wird, notwendig ist.
Die Fähigkeit, dramatische Wirkungen durch die. Kunst hervorzubringen,
ist dem Menschengeschlecht nicht in jedem Zeitraum seines Daseins verliehen.
Die dramatische Poesie erscheint später als Epos und Lyrik; ihre
Blüte in einem Volke hängt allerdings von dem glücklichen
Zusammentreffen vieler hervortreibender Kräfte ab, zunächst
aber davon, daß in dem wirklichen Leben der Volksgenossen die entsprechenden
Seelenvorgänge bereits häufig und reichlich sichtbar werden.
Und dies ist erst möglich, wenn das Volk eine gewisse Höhe der
Entwickelung erreicht hat, wenn die Menschen gewöhnt sind, sich selbst
und andere vor den Momenten einer Tat scharfsichtig zu beobachten,
wenn die Sprache einen hohen Grad von Beweglichkeit und. gewandter Dialektik
ausgebildet hat, wenn der einzelne licht mehr durch den epischen Bann
alter Überlieferung und äußerer Gewalt, durch hergebrachte
Formel und volksgemäße Gewohnheit gefesselt wird, sondern sich
freier das eigene Leben zu formen vermag. Wir unterscheiden zwei Zeiträume,
in denen das Dramatische dem Geschlecht der Erde gekommen ist. Zum ersten
Mal trat diese Vertiefung der Menschenseele in die antike Welt etwa um
das Jahr 500 v. Chr. , als sich das jugendliche Selbstgefühl der
freien hellenischen Stadtgemeinden mit der Blüte des Handels, der
öffentlichen Reden und der Teilnahme des Bürgers am Staat erhob.
Das zweite Mal trat das Dramatische in die neuere Völkerfamilie Europas
nach der Reformation zugleich mit der Vertiefung des Gemütes und
Geistes, welche durch das sechzehnte Jahrhundert sowohl bei den Germanen
als bei den Romanen - in sehr verschiedener Weise - hervorgebracht wurde.
Allerdings hatten schon Jahrhunderte vor dein Eintritt dieser kräftigen
Seelenarbeit sowohl die Hellenen als die Stämme der Völkerwanderung
sich die ersten Anfänge einer Redeweise und Kunst des Gebärdenspiels
entwickelt, welche das Dramatische suchte. Dort wie hier hatten große
Götterfeste einen Gesang in feierlicher Tracht und das Spiel volkstümlicher
Masken veranlaßt. Aber das Eintreten der dramatischen Kraft in diese
lyrischen oder epischen Schaustellungen war doch beide Male ein wunderbar
schnelles, fast plötzliches. Beide Male entfaltete sich das Dramatische
von dem Augenblick, in dem es lebendig wurde, mit großer Kraft zu
einer Schönheit, welche durch die spätern Jahrhunderte nicht
leicht erreicht wurde. Unmittelbar nach .den Perserkriegen kamen Aeschylos,
Sophokles, Euripides dicht hintereinander herauf. Kurz nach der Reformation
erwuchs in der Völkerfamilie Europas zuerst bei den Engländern
und Spaniern, dann bei den Franzosen endlich bei den zurückgebliebenen
Deutschen aus unbehilflicher Schwäche die höchste volksgemäße
Blüte der seltenen Kunst.
Aber darin unterscheidet sich jener ältere Eintritt des Dramatischen
in die alte Welt, daß das Drama des Altertums aus lyrischem Chorgesang
hervorwuchs, während das neuere auf der epischen Freude an Vorführung
wichtiger Begebenheiten beruht. Dort war im ersten Anfange die leidenschaftliche
Aufregung des Gefühls, hier das Schauen eines Ereignisses reizvoll
gewesen. Diese Verschiedenheit des Ursprungs hat auch nach der kunstvollen
Ausbildung Form und Inhalt des Dramas mächtig beeinflußt und,
wie erhaben die besten Leistungen der Kunst in beiden Zeiträumen
wurden, sie behielten etwas wesentlich Verschiedenes.
Aber selbst nachdem das dramatische Leben in dem Volke aufgegangen war,
blieben die höchsten Kunstwirkungen der Poesie ein Vorrecht weniger,
auch seit dieser Zeit wird die dramatische Kraft nicht jedem Dichter zuteil;
ja sie füllt nicht jedes Werk, auch der größten Dichter,
mit genügender Gewalt. Wir dürfen schließen, daß
schon zur Zeit des Aristoteles jene prunkvollen Schaustücke mit einfacher
Handlung, ohne charakteristisches Begehren der Hauptfiguren, mit lose
eingehängten Chören, wie er sie beschreibt, vielleicht lyrische
Schönheiten hatten, aber keine dramatischen. Und unter den geschichtlichen
Dramen, welche jetzt in Deutschland jährlich geschrieben werden,
enthält die größere Hälfte wenig mehr als dialogisierte
und verstümmelte Geschichte, etwa epischen Stoff in szenischer Form,
ebenfalls nicht dramatischen Inhalt. Ja auch einzelne Werke großer
Dichter kranken an demselben Mangel. Nur zwei berühmte Dramen seien
hier genannt. Die Hekabe des Euripides zeigt bis gegen das Ende nur kleine,
durchaus ungenügende Fortschritte aus der bewegten Stimmung zu einem
Tun: erst im Schlußkampf gegen Polymestor erweist Hekabe eine Leidenschaft,
die zum Willen wird, erst da beginnt eine dramatische Spannung, bis dahin
floß aus kurz skizzierten leidenvollen Zuständen der Hauptpersonen
nur lyrische Klage. Und wieder in Shakespeares Heinrich V., in dem der
Dichter ein vaterländisches Volksstück nach den alten epischen
Gewohnheiten seiner Bühnedichten wollte, mit kriegerischen Aufzügen,
Gefechten, kleinen Episoden, ist weder an dem Hauptcharakter noch den
Nebenfiguren eine tiefe Begründung ihres Tuns aus dramatisch darstellbaren
Motiven sichtbar. In kurzen Wellen kräuselt sich Wunsch und Forderung,
die Handlungen selbst sind die Hauptsache. Die Vaterlandsliebe muß
warme Teilnahme an der Handlung aufregen, was sie allerdings in Shakespeares
Zeit und Volk reichlich getan hat. Für uns ist das Drama weniger
darstellbar als die Teile Heinrichs VI. - Dagegen enthält, um nur
einige Stücke desselben Dichters zu nennen, Macbeth bis zur Bankettszene
der ganze Coriolan, Othello, Romeo und Julie, Julius Cäsar, Lear
bis zur Hüttenszene, Richard III. das machtvollste Dramatische, welches
je von einem Germanen geschaffen worden.
Nach der starken Spannung der Hauptpersonen aber schätzt in der Regel
schon die Mitwelt, in jedem Fall die Folgezeit die Bedeutung eines Dramas.
Wo dies Leben fehlt, vermag keine Kunst der Behandlung, kein günstiger
Stoff das Werk lebendig zu erhalten. Wo dies dramatische Leben vorhanden
ist, betrachtet auch noch späte Folgezeit ein Dichterwerk mit lebhafter
Achtung und übersieht ihm gern große Mängel.
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