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Gustav Freytag


Die Technik des Dramas

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Kapitel 1

2. Was ist dramatisch?

Dramatisch sind diejenigen starken Seelenbewegungen, welche sich bis zum Willen und zum Tun verhärten, und diejenigen Seelenbewegungen, welche durch ein Tun aufgeregt werden; also die innern Vorgänge, welche der Mensch vom Aufleuchten einer Empfindung bis zu leidenschaftlichem Begehren und Handeln durchmacht, sowie die Einwirkungen, welche eigenes und fremdes Handeln in der Seele hervorbringt; also das Ausströmen der Willenskraft aus dem tiefen Gemüt nach der Außenwelt und das Einströmen bestimmender Einflüsse aus der Außenwelt in das Innere des Gemüts; also das Werden einer Tat und ihre Folgen auf das Gemüt.

Nicht dramatisch
ist die Aktion an sich und die leidenschaftliche Bewegung an sich. Nicht die Darstellung einer Leidenschaft an sich, sondern der Leidenschaft, welche zu einem Tun leitet, ist die Aufgabe der dramatischen Kunst; nicht die Darstellung einer Begebenheit an sich, sondern ihrer Einwirkung auf die Menschenseele ist Aufgabe der dramatischen Kunst. Ausführung leidenschaftlicher Seelenbewegungen als solcher ist Sache der Lyrik, Schilderung fesselnder Begebenheiten ist Aufgabe des Epos.

Beide Richtungen, in denen das Dramatische sich äußert, sind allerdings nicht grundverschieden. Auch während der Mensch in der Spannung und Arbeit ist, sein Inneres nach außen zu wenden, wirkt seine Umgebung fördernd oder hemmend auf seine leidenschaftliche Bewegung. Und wieder, auch während das Getane auf ihn zurückwirkt, beharrt er nicht aufnehmend, sondern erhält durch die Aufnahme neue Bewegungen und Wandlungen. Dennoch ist ein Unterschied in der Wirkung beider eng verbundenen Vorgänge. Den höchsten Reiz hat immer der erste Vorgang, der innere Kampf des Menschen bis zur Tat. Der zweite fordert mehr äußerliche Bewegung, ein stärkeres Zusammenwirken verschiedener Kräfte, fast alles, was die Schaulust vergnügt, gehört ihm an; und doch ist er, wie unentbehrlich er dem Drama sei, vornehmlich ein Befriedigen erregter Spannung, und leicht eilt über ihn hinweg die Ungeduld des nachschaffenden Hörers, eine neue leidenschaftliche Spannung im Innern der Helden suchend. Was wird, nicht, was als ein Gewordenes Staunen erregt, fesselt am meisten.

Da die dramatische Kunst Menschen darstellt, wie ihr Inneres nach außen wirkt oder durch Einwirkungen von außen ergriffen wird, so muß sie folgerecht die Mittel benützen, durch welche sie den Zuhörern diese Vorgänge der Menschennatur verständlich machen kann. Diese Mittel sind Rede, Ton, Gebärde. Sie muß ihre Menschen vorführen als sprechend, singend, im Gebärdenspiel. Die Poesie gebraucht also zu Gehilfen für ihre Darstellung die Musik und Schauspielkunst.

In engem Verbande mit ihren helfenden Künsten, in kräftiger, geselliger Arbeit, sendet sie ihre Bilder in die Seelen der Aufnehmenden, welche zugleich Hörende und Schauende sind. Die Eindrücke, welche sie hervorbringt, werden Wirkungen genannt. Die dramatischen Wirkungen haben eine sehr eigentümliche Beschaffenheit, sie unterscheiden sich nicht nur von den Wirkungen der bildenden Künste durch nachdrücklichere Kraft und die allmähliche gesetzmäßige Steigerung in bestimmtem Zeitmaß, sondern auch von den mächtigen Wirkungen der Musik dadurch, daß sie durch zwei Sinne zugleich einströmen und, daß sie nicht allein das Empfindungsleben, sondern auch die Denkkraft des Hörers reizvoll spannen

Schon aus dem Gesagten ist klar, daß die nach den Bedürfnissen dramatischer Kunst zugerichteten Personen einiges Besondere in ihrem Wesen haben müssen, was sie nicht nur von den unendlich mannigfaltigeren und komplizierteren Menschenbildern, welche uns das wirkliche Leben in die Seele drückt, unterscheidet, sondern auch von den poetischen Gebilden, welche durch andere Gattungen der Kunst, das Epos und den Roman oder die Lyrik, wirksam gemacht werden. Die dramatische Person soll menschliche Natur darstellen, nicht wie sie sich tätig und gefühlvoll in ihrer Umgebung regt und spiegelt, sondern ein großartig und leidenschaftlich bewegtes Innere, welches danach ringt, sich in die Tat umzusetzen, Wesen und Tun anderer umgestaltend zu leiten. Der Mensch des Dramas soll in starker Befangenheit, Spannung und Wandlung erscheinen; vorzugsweise die Eigenschaften werden bei ihm in Tätigkeit dargestellt, welche im Kampf mit anderen Menschen zur Geltung kommen, Energie der Empfindung, Wucht der Willenskraft, Beschränktheit durch leidenschaftliches Begehren, gerade die Eigenschaften, welche den Charakter bilden und durch den Charakter verständlich werden. Es geschieht also nicht ohne Grund, daß die Kunstsprache kurzweg die Personen des Dramas Charaktere nennt.

Aber die Charaktere, welche durch die Poesie und ihre helfenden Künste vorgeführt werden, vermögen ihr inneres Leben nur zu betätigen an einem Geschehenden, als Teilnehmer an einer Begebenheit, deren Verlauf und innerer, Zusammenhang durch die dramatischen Vorgänge in der Seele der Helden dem Zuhörer deutlich wird. Diese Begebenheit,wenn sie nach den Bedürfnissen der Kunst zugerichtet ist, heißt die Handlung.*

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* Die wenigen technischen Ausdrücke verlangen vom Leser eine unbefangene Aufnahme. Mehre derselben haben auch im Tagesgebrauch seit den letzten hundert Jahren einige feinere Wandelungen der Bedeutung durchgemacht. Was hier Handlung heißt: der für das Drama bereits zugerichtete Stoff (bei Aristoteles Mythos, bei den Römern Fabula), das heißt bei Lessing noch zuweilen Fabel, während er den rohen Stoff, Praxis oder Pragma des Aristoteles, durch Handlung übersetzt. Aber auch Lessing gebraucht schon zuweilen das Wort Handlung besser, so wie es hier verwendet wird.
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Jeder Teilnehmer an der dramatischen Handlung hat eine bestimmte Stellung zum Ganzen, für jeden ist eine genau umschriebene Persönlichkeit notwendig, welche so beschaffen sein muß, daß das Zweckvolle derselben vom Zuhörer mit Behagen empfunden, das Menschliche und Eigentümliche von dem Schauspieler durch die Mittel seiner Kunst wirksam dargestellt werden kann.

Jene Seelenvorgänge, welche oben als die dramatischen bezeichnet wurden, werden allerdings nicht an jeder der dargestellten Personen vollständig sichtbar, zumal nicht auf der neuern Bühne, welche liebt, eine größere Anzahl von Menschen als Träger ihrer Handlung aufzuführen. Aber die Hauptpersonen müssen davon erfüllt sein, nur wenn diese ihr Wesen in der angegebenen Weise kräftig, reichlich und bis zu den geheimsten Falten des Innern darlegen, vermag das Drama große Wirkungen hervorzubringen. Wird an den Hauptpersonen dies letzte Dramatische nicht sichtbar und nicht dem Aufnehmenden eindringlich, so fehlt dem Drama das Leben, es wird eine gekünstelte, leere Form ohne den entsprechenden Inhalt, das anspruchsvolle Zusammenwirken mehrer verbundener Künste macht diese Leere doppelt peinlich.

Neben den Hauptpersonen erhalten ihre Gehilfen, je nach dem Raum, welchen sie im Stück einnehmen, mehr oder weniger Anteil an diesem dramatischen Leben. Und völlig schwindet es auch in den kleinsten Rollen nicht, selbst bei den Personen, welche nur durch wenige Worte ihre Teilnahme erweisen können; bei dem Begleiter, dem Anmeldenden wird wenigstens der Schauspielkunst die Pflicht, durch Tracht, Sprechweise, Haltung, Gebärde, Aufstellung der eintretenden Person den für das Stück zweckmäßigen Inhalt derselben äußerlich darzustellen, wenn auch knapp und bescheiden.

Da aber die Darstellung derjenigen Seelenvorgänge, welche Vorrecht und Bedürfnis des Dramas sind, Zeit in Anspruch nimmt, und dem Dichter je nach der Gewohnheit seines Volkes auch das Zeitmaß für seine Wirkungen begrenzt ist, so folgt schon hieraus, daß die dargestellte Begebenheit die Hauptpersonen weit stärker hervorheben muß, als bei einem Ereignis der Wirklichkeit, welches durch gemeinsame Tätigkeit mehrer Menschen hervorgebracht wird, notwendig ist.

Die Fähigkeit, dramatische Wirkungen durch die. Kunst hervorzubringen, ist dem Menschengeschlecht nicht in jedem Zeitraum seines Daseins verliehen. Die dramatische Poesie erscheint später als Epos und Lyrik; ihre Blüte in einem Volke hängt allerdings von dem glücklichen Zusammentreffen vieler hervortreibender Kräfte ab, zunächst aber davon, daß in dem wirklichen Leben der Volksgenossen die entsprechenden Seelenvorgänge bereits häufig und reichlich sichtbar werden. Und dies ist erst möglich, wenn das Volk eine gewisse Höhe der Entwickelung erreicht hat, wenn die Menschen gewöhnt sind, sich selbst und andere vor den Momenten einer Tat scharfsichtig zu beobachten, wenn die Sprache einen hohen Grad von Beweglichkeit und. gewandter Dialektik ausgebildet hat, wenn der einzelne licht mehr durch den epischen Bann alter Überlieferung und äußerer Gewalt, durch hergebrachte Formel und volksgemäße Gewohnheit gefesselt wird, sondern sich freier das eigene Leben zu formen vermag. Wir unterscheiden zwei Zeiträume, in denen das Dramatische dem Geschlecht der Erde gekommen ist. Zum ersten Mal trat diese Vertiefung der Menschenseele in die antike Welt etwa um das Jahr 500 v. Chr. , als sich das jugendliche Selbstgefühl der freien hellenischen Stadtgemeinden mit der Blüte des Handels, der öffentlichen Reden und der Teilnahme des Bürgers am Staat erhob. Das zweite Mal trat das Dramatische in die neuere Völkerfamilie Europas nach der Reformation zugleich mit der Vertiefung des Gemütes und Geistes, welche durch das sechzehnte Jahrhundert sowohl bei den Germanen als bei den Romanen - in sehr verschiedener Weise - hervorgebracht wurde. Allerdings hatten schon Jahrhunderte vor dein Eintritt dieser kräftigen Seelenarbeit sowohl die Hellenen als die Stämme der Völkerwanderung sich die ersten Anfänge einer Redeweise und Kunst des Gebärdenspiels entwickelt, welche das Dramatische suchte. Dort wie hier hatten große Götterfeste einen Gesang in feierlicher Tracht und das Spiel volkstümlicher Masken veranlaßt. Aber das Eintreten der dramatischen Kraft in diese lyrischen oder epischen Schaustellungen war doch beide Male ein wunderbar schnelles, fast plötzliches. Beide Male entfaltete sich das Dramatische von dem Augenblick, in dem es lebendig wurde, mit großer Kraft zu einer Schönheit, welche durch die spätern Jahrhunderte nicht leicht erreicht wurde. Unmittelbar nach .den Perserkriegen kamen Aeschylos, Sophokles, Euripides dicht hintereinander herauf. Kurz nach der Reformation erwuchs in der Völkerfamilie Europas zuerst bei den Engländern und Spaniern, dann bei den Franzosen endlich bei den zurückgebliebenen Deutschen aus unbehilflicher Schwäche die höchste volksgemäße Blüte der seltenen Kunst.

Aber darin unterscheidet sich jener ältere Eintritt des Dramatischen in die alte Welt, daß das Drama des Altertums aus lyrischem Chorgesang hervorwuchs, während das neuere auf der epischen Freude an Vorführung wichtiger Begebenheiten beruht. Dort war im ersten Anfange die leidenschaftliche Aufregung des Gefühls, hier das Schauen eines Ereignisses reizvoll gewesen. Diese Verschiedenheit des Ursprungs hat auch nach der kunstvollen Ausbildung Form und Inhalt des Dramas mächtig beeinflußt und, wie erhaben die besten Leistungen der Kunst in beiden Zeiträumen wurden, sie behielten etwas wesentlich Verschiedenes.

Aber selbst nachdem das dramatische Leben in dem Volke aufgegangen war, blieben die höchsten Kunstwirkungen der Poesie ein Vorrecht weniger, auch seit dieser Zeit wird die dramatische Kraft nicht jedem Dichter zuteil; ja sie füllt nicht jedes Werk, auch der größten Dichter, mit genügender Gewalt. Wir dürfen schließen, daß schon zur Zeit des Aristoteles jene prunkvollen Schaustücke mit einfacher Handlung, ohne charakteristisches Begehren der Hauptfiguren, mit lose eingehängten Chören, wie er sie beschreibt, vielleicht lyrische Schönheiten hatten, aber keine dramatischen. Und unter den geschichtlichen Dramen, welche jetzt in Deutschland jährlich geschrieben werden, enthält die größere Hälfte wenig mehr als dialogisierte und verstümmelte Geschichte, etwa epischen Stoff in szenischer Form, ebenfalls nicht dramatischen Inhalt. Ja auch einzelne Werke großer Dichter kranken an demselben Mangel. Nur zwei berühmte Dramen seien hier genannt. Die Hekabe des Euripides zeigt bis gegen das Ende nur kleine, durchaus ungenügende Fortschritte aus der bewegten Stimmung zu einem Tun: erst im Schlußkampf gegen Polymestor erweist Hekabe eine Leidenschaft, die zum Willen wird, erst da beginnt eine dramatische Spannung, bis dahin floß aus kurz skizzierten leidenvollen Zuständen der Hauptpersonen nur lyrische Klage. Und wieder in Shakespeares Heinrich V., in dem der Dichter ein vaterländisches Volksstück nach den alten epischen Gewohnheiten seiner Bühnedichten wollte, mit kriegerischen Aufzügen, Gefechten, kleinen Episoden, ist weder an dem Hauptcharakter noch den Nebenfiguren eine tiefe Begründung ihres Tuns aus dramatisch darstellbaren Motiven sichtbar. In kurzen Wellen kräuselt sich Wunsch und Forderung, die Handlungen selbst sind die Hauptsache. Die Vaterlandsliebe muß warme Teilnahme an der Handlung aufregen, was sie allerdings in Shakespeares Zeit und Volk reichlich getan hat. Für uns ist das Drama weniger darstellbar als die Teile Heinrichs VI. - Dagegen enthält, um nur einige Stücke desselben Dichters zu nennen, Macbeth bis zur Bankettszene der ganze Coriolan, Othello, Romeo und Julie, Julius Cäsar, Lear bis zur Hüttenszene, Richard III. das machtvollste Dramatische, welches je von einem Germanen geschaffen worden.

Nach der starken Spannung der Hauptpersonen aber schätzt in der Regel schon die Mitwelt, in jedem Fall die Folgezeit die Bedeutung eines Dramas. Wo dies Leben fehlt, vermag keine Kunst der Behandlung, kein günstiger Stoff das Werk lebendig zu erhalten. Wo dies dramatische Leben vorhanden ist, betrachtet auch noch späte Folgezeit ein Dichterwerk mit lebhafter Achtung und übersieht ihm gern große Mängel.

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