Kapitel 1
5.
Wichtigkeit und Größe der Handlung
Die Handlung des ernsten Dramas muß Wichtigkeit und Größe
haben.
Die Kämpfe der einzelnen Menschen sollen ihr innerstes Leben
ergreifen, der Gegenstand des Kampfes soll nach allgemeiner Auffassung
ein hoher sein, die Behandlung eine würdige.
Solchem Inhalt der Handlung müssen auch die Charaktere entsprechen,
um eine große Wirkung des Dramas hervorzubringen. Ist die Handlung
dem angeführten Gesetz gemäß zugerichtet und die Charaktere
genügen nicht den dadurch erregten Forderungen, oder haben die Charaktere
eine große und leidenschaftliche Bewegung, während der Handlung
diese Eigenschaften fehlen, so wird das Mißverhältnis vom Hörer
peinlich empfunden. Iphigeneia in Aulis hat bei Euripides einen Inhalt,
welcher die furchtbarsten menschlichen Seelenkämpfe für die
Bühne liefert, aber die Charaktere sind, allenfalls mit Ausnahme
der Klytämnestra, schlecht erfunden, entweder durch unnötige
Niedrigkeit der Gesinnung oder durch Kraftlosigkeit oder durch unbegründete
plötzliche Wandlungen der Empfindung entstellt, so Agamemnon, Menelaos,
Achilleus, Iphigeneia. Und wieder im Timon von Athen des Shakespeare hat
zwar der Charakter des Helden von dem Augenblick, wo er in Bewegung gesetzt
wird, eine immer steigende Energie und Kraft, welcher eine finstere Großartigkeit
durchaus nicht fehlt, aber Idee und Handlung stehen im Mißverhältnis
dazu. Daß ein warmherziger, vertrauensvoller Verschwender nach Verlust
der äußern Güter durch Undank und Gemeinheit seiner frühern
Freunde zum Menschenhasser wird, setzt Schwäche des eigenen Charakters
und Erbärmlichkeit seiner Umgebung voraus, und diese Haltlosigkeit
und Kläglichkeit aller dargestellten Verhältnisse verengt trotz
großer Dichterkunst das Mitgefühl des Hörers.
Aber auch die Umgebung, der Lebenskreis des Helden beeinflußt die
Würde und Größe der Handlung. Wir fordern mit Recht, daß
der Held, dessen Schicksal uns fesseln soll, einen starken, über
das gewöhnliche Maß menschlicher Kraft hinausreichenden Inhalt
habe. Dieser Inhalt seines Wesens liegt aber nicht nur in der Energie
seines Wollens und der Wucht seiner Leidenschaft, sondern nicht weniger
in einem reichlichen Anteil an der Bildung, Sitte, der geistigen Tüchtigkeit
seiner Zeit. Er hat sich in wichtigen Beziehungen seiner Umgebung als
überlegen darzustellen, und seine Umgebung muß so beschaffen
sein, daß dem Hörer an ihr eine hohe Anteilnahme leicht wird.
Es ist daher kein Zufall, daß eine Handlung, welche in vergangene
Zeiten zurückgeht, immer die Kreise aufsucht, in denen das wichtigste
und größte Leben der Zeit enthalten war, die großen Angelegenheiten
eines Volkes, das Leben seiner Führer und Beherrscher, diejenigen
Höhen der Menschheit, welche nicht nur einen kräftigen geistigen
Inhalt, sondern auch eine bedeutende Willenskraft entwickelten. Sind uns
aus alter Zeit doch fast nur die Taten und Lebensschicksale solcher Herrschenden
überliefert
Bei Stoffen aus neuerer Zeit ändert sich allerdings das Verhältnis.
Nicht mehr sind für uns die stärksten Leidenschaften, die höchsten
inneren Kämpfe an Höfen, in politischen Herrschern allein zu
erkennen. Ja nicht einmal vorzugsweise. Immer aber bleibt solchen Gestalten
für das Drama gerade das ein Vorzug, was für ihr und ihrer Zeitgenossen
Leben ein Unglück werden mag. Sie stehen auch jetzt noch freier zu
dem Zwange, welchen die bürgerliche Gesellschaft auf den Privatmann
ausübt. Sie sind nicht ganz in dem Grade wie der Privatmann dem bürgerlichen
Gesetz unterworfen, und sie wissen das. In innern und äußern
Kämpfen hat ihr eigenes Selbst nicht größeres Recht, aber
größere Macht. So erscheinen sie als freier, stärkerer
Versuchung ausgesetzt und stärkerer Selbstbestimmung fähig.
Dazu kommt, daß die Verhältnisse, in denen sie leben, und die
verschiedenen Richtungen, nach denen sie wirken, einen Reichtum an Farben,
die bunteste Mannigfaltigkeit an Gestalten darbieten. Endlich ist auch
das Gegenspiel gegen ihre Person und gegen ihre Zwecke am tätigsten,
und das Gebiet der Interessen, für welche sie leben sollen, umfaßt
die höchsten irdischen Angelegenheiten.
Aber auch das Leben von Privatpersonen ist seit Jahrhunderten aus dem
äußeren Zwange bestimmender Überlieferung herausgehoben,
mit Adel und innerer Freiheit, mit kräftigen Gegensätzen und
Kämpfen angefüllt. Überall, wo in der Wirklichkeit ein
Kreis weltlicher Ziele und Handlungen von der Zeitbildung durchdrungen
ist, vermag aus seiner Lebensluft ein tragischer Held heraufzuwachsen.
Es kommt nur darauf an, ob ihm ein Kampf möglich ist, welcher nach
der gemeingültigen Empfindung der Zuschauer ein großes Ziel
hat und ob das Gegenspiel eine entsprechende, achtungswerte Tätigkeit
entwickelt. Da aber die Wichtigkeit und Größe des Kampfes nur
dadurch eindringlich gemacht werden kann, daß der Held die Fähigkeit
besitzt, sein Inneres in großartiger Weise mit einer gewissen Reichlichkeit
der Worte auszudrücken, und da diese Forderungen bei solchen Menschen,
welche dem Leben der Neuzeit angehören, sich steigern, so wird auch
dem modernen Helden auf der Bühne ein tüchtiges Maß seiner
Zeitbildung unentbehrlich sein. Denn nur dadurch erhält er innere
Freiheit. Deshalb Sind. solche Klassen der Gesellschaft, welche bis in
unsere Zelt unter dem Zwang epischer Verhältnisse stehen deren Leben
vorzugsweise durch die Gewohnheiten ihres Kreises gerichtet wird, welche
noch unter dem Druck solcher Zustände dahinsiechen, die der Hörer
übersieht und als ein Unrecht verurteilt, solche endlich, welche
nicht vorzugsweise befähigt sind, Empfindungen und Gedanken schöpferisch
In Rede umzusetzen, zu Helden des Dramas nicht gut verwendbar, wie kräftig
auch in diesen Naturen die Leidenschaft arbeite, wie naturwüchsig
stark ihr Gefühl in einzelnen Stunden hervorbreche
Aus dem Gesagten folgt, daß das Trauerspiel darauf verzichten muß,
seine Bewegung auf Motive zu gründen, welche von der Empfindung der
Zuschauer als kläglich, gemein oder als unverständig verurteilt
werden. Auch dergleichen Beweggründe. vermögen einen Mann in
den heftigsten Kampf mit seiner Umgebung zu treiben, aber die dramatische
Kunst wird im ganzen betrachtet nicht imstande sein solche Gegensätze
zu verwerten. Wer aus Gewinnsucht raubt, stiehlt, mordet, fälscht,
wer aus Feigheit ehrlos handelt, wer aus Dummheit und Kurzsichtigkeit,
aus Leichtsinn und Gedankenlosigkeit kleiner und schwächer wird als
die Verhältnisse ihn fordern, der ist als Held eines ernsten Dramas
völlig unbrauchbar.
Wenn vollends ein Dichter die. Kunst dazu entwürdigen wollte, gesellschaftliche
Verbildungen des wirklichen Lebens, Gewaltherrschaft der Reichen, die
gequälte Lage Gedrückter, die Stellung der Armen, welche von
der Gesellschaft fast nur Leiden empfangen, streitlustig und tendenzvoll
zur Handlung eines Dramas zu verwerten, so würde er durch solche
Arbeit wahrscheinlich die Teilnahme seiner Zuschauer lebhaft erregen,
aber diese Teilnahme würde am Ende des Stückes in einer quälenden
Verstimmung untergehen. Die Schilderung der Gemütsvorgänge eines
gemeinen Verbrechers gehört in den Saal des Schwurgerichts, die Sorge
um Besserung der armen und gedrückten Klassen soll ein wichtiger
Teil unserer Arbeit im wirklichen Leben sein, die Muse der Kunst ist keine
barmherzige Schwester.
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