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Gustav Freytag


Die Technik des Dramas

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Kapitel 1

5. Wichtigkeit und Größe der Handlung

Die Handlung des ernsten Dramas muß Wichtigkeit und Größe haben.

Die Kämpfe der einzelnen Menschen sollen ihr innerstes Leben ergreifen, der Gegenstand des Kampfes soll nach allgemeiner Auffassung ein hoher sein, die Behandlung eine würdige.

Solchem Inhalt der Handlung müssen auch die Charaktere entsprechen, um eine große Wirkung des Dramas hervorzubringen. Ist die Handlung dem angeführten Gesetz gemäß zugerichtet und die Charaktere genügen nicht den dadurch erregten Forderungen, oder haben die Charaktere eine große und leidenschaftliche Bewegung, während der Handlung diese Eigenschaften fehlen, so wird das Mißverhältnis vom Hörer peinlich empfunden. Iphigeneia in Aulis hat bei Euripides einen Inhalt, welcher die furchtbarsten menschlichen Seelenkämpfe für die Bühne liefert, aber die Charaktere sind, allenfalls mit Ausnahme der Klytämnestra, schlecht erfunden, entweder durch unnötige Niedrigkeit der Gesinnung oder durch Kraftlosigkeit oder durch unbegründete plötzliche Wandlungen der Empfindung entstellt, so Agamemnon, Menelaos, Achilleus, Iphigeneia. Und wieder im Timon von Athen des Shakespeare hat zwar der Charakter des Helden von dem Augenblick, wo er in Bewegung gesetzt wird, eine immer steigende Energie und Kraft, welcher eine finstere Großartigkeit durchaus nicht fehlt, aber Idee und Handlung stehen im Mißverhältnis dazu. Daß ein warmherziger, vertrauensvoller Verschwender nach Verlust der äußern Güter durch Undank und Gemeinheit seiner frühern Freunde zum Menschenhasser wird, setzt Schwäche des eigenen Charakters und Erbärmlichkeit seiner Umgebung voraus, und diese Haltlosigkeit und Kläglichkeit aller dargestellten Verhältnisse verengt trotz großer Dichterkunst das Mitgefühl des Hörers.

Aber auch die Umgebung, der Lebenskreis des Helden beeinflußt die Würde und Größe der Handlung. Wir fordern mit Recht, daß der Held, dessen Schicksal uns fesseln soll, einen starken, über das gewöhnliche Maß menschlicher Kraft hinausreichenden Inhalt habe. Dieser Inhalt seines Wesens liegt aber nicht nur in der Energie seines Wollens und der Wucht seiner Leidenschaft, sondern nicht weniger in einem reichlichen Anteil an der Bildung, Sitte, der geistigen Tüchtigkeit seiner Zeit. Er hat sich in wichtigen Beziehungen seiner Umgebung als überlegen darzustellen, und seine Umgebung muß so beschaffen sein, daß dem Hörer an ihr eine hohe Anteilnahme leicht wird. Es ist daher kein Zufall, daß eine Handlung, welche in vergangene Zeiten zurückgeht, immer die Kreise aufsucht, in denen das wichtigste und größte Leben der Zeit enthalten war, die großen Angelegenheiten eines Volkes, das Leben seiner Führer und Beherrscher, diejenigen Höhen der Menschheit, welche nicht nur einen kräftigen geistigen Inhalt, sondern auch eine bedeutende Willenskraft entwickelten. Sind uns aus alter Zeit doch fast nur die Taten und Lebensschicksale solcher Herrschenden überliefert

Bei Stoffen aus neuerer Zeit ändert sich allerdings das Verhältnis. Nicht mehr sind für uns die stärksten Leidenschaften, die höchsten inneren Kämpfe an Höfen, in politischen Herrschern allein zu erkennen. Ja nicht einmal vorzugsweise. Immer aber bleibt solchen Gestalten für das Drama gerade das ein Vorzug, was für ihr und ihrer Zeitgenossen Leben ein Unglück werden mag. Sie stehen auch jetzt noch freier zu dem Zwange, welchen die bürgerliche Gesellschaft auf den Privatmann ausübt. Sie sind nicht ganz in dem Grade wie der Privatmann dem bürgerlichen Gesetz unterworfen, und sie wissen das. In innern und äußern Kämpfen hat ihr eigenes Selbst nicht größeres Recht, aber größere Macht. So erscheinen sie als freier, stärkerer Versuchung ausgesetzt und stärkerer Selbstbestimmung fähig. Dazu kommt, daß die Verhältnisse, in denen sie leben, und die verschiedenen Richtungen, nach denen sie wirken, einen Reichtum an Farben, die bunteste Mannigfaltigkeit an Gestalten darbieten. Endlich ist auch das Gegenspiel gegen ihre Person und gegen ihre Zwecke am tätigsten, und das Gebiet der Interessen, für welche sie leben sollen, umfaßt die höchsten irdischen Angelegenheiten.

Aber auch das Leben von Privatpersonen ist seit Jahrhunderten aus dem äußeren Zwange bestimmender Überlieferung herausgehoben, mit Adel und innerer Freiheit, mit kräftigen Gegensätzen und Kämpfen angefüllt. Überall, wo in der Wirklichkeit ein Kreis weltlicher Ziele und Handlungen von der Zeitbildung durchdrungen ist, vermag aus seiner Lebensluft ein tragischer Held heraufzuwachsen. Es kommt nur darauf an, ob ihm ein Kampf möglich ist, welcher nach der gemeingültigen Empfindung der Zuschauer ein großes Ziel hat und ob das Gegenspiel eine entsprechende, achtungswerte Tätigkeit entwickelt. Da aber die Wichtigkeit und Größe des Kampfes nur dadurch eindringlich gemacht werden kann, daß der Held die Fähigkeit besitzt, sein Inneres in großartiger Weise mit einer gewissen Reichlichkeit der Worte auszudrücken, und da diese Forderungen bei solchen Menschen, welche dem Leben der Neuzeit angehören, sich steigern, so wird auch dem modernen Helden auf der Bühne ein tüchtiges Maß seiner Zeitbildung unentbehrlich sein. Denn nur dadurch erhält er innere Freiheit. Deshalb Sind. solche Klassen der Gesellschaft, welche bis in unsere Zelt unter dem Zwang epischer Verhältnisse stehen deren Leben vorzugsweise durch die Gewohnheiten ihres Kreises gerichtet wird, welche noch unter dem Druck solcher Zustände dahinsiechen, die der Hörer übersieht und als ein Unrecht verurteilt, solche endlich, welche nicht vorzugsweise befähigt sind, Empfindungen und Gedanken schöpferisch In Rede umzusetzen, zu Helden des Dramas nicht gut verwendbar, wie kräftig auch in diesen Naturen die Leidenschaft arbeite, wie naturwüchsig stark ihr Gefühl in einzelnen Stunden hervorbreche

Aus dem Gesagten folgt, daß das Trauerspiel darauf verzichten muß, seine Bewegung auf Motive zu gründen, welche von der Empfindung der Zuschauer als kläglich, gemein oder als unverständig verurteilt werden. Auch dergleichen Beweggründe. vermögen einen Mann in den heftigsten Kampf mit seiner Umgebung zu treiben, aber die dramatische Kunst wird im ganzen betrachtet nicht imstande sein solche Gegensätze zu verwerten. Wer aus Gewinnsucht raubt, stiehlt, mordet, fälscht, wer aus Feigheit ehrlos handelt, wer aus Dummheit und Kurzsichtigkeit, aus Leichtsinn und Gedankenlosigkeit kleiner und schwächer wird als die Verhältnisse ihn fordern, der ist als Held eines ernsten Dramas völlig unbrauchbar.

Wenn vollends ein Dichter die. Kunst dazu entwürdigen wollte, gesellschaftliche Verbildungen des wirklichen Lebens, Gewaltherrschaft der Reichen, die gequälte Lage Gedrückter, die Stellung der Armen, welche von der Gesellschaft fast nur Leiden empfangen, streitlustig und tendenzvoll zur Handlung eines Dramas zu verwerten, so würde er durch solche Arbeit wahrscheinlich die Teilnahme seiner Zuschauer lebhaft erregen, aber diese Teilnahme würde am Ende des Stückes in einer quälenden Verstimmung untergehen. Die Schilderung der Gemütsvorgänge eines gemeinen Verbrechers gehört in den Saal des Schwurgerichts, die Sorge um Besserung der armen und gedrückten Klassen soll ein wichtiger Teil unserer Arbeit im wirklichen Leben sein, die Muse der Kunst ist keine barmherzige Schwester.

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