Kapitel 1
7.
Was ist tragisch?
Es
ist bekannt, wie emsig seit Lessing der deutsche Dichter bemüht war,
jene geheimnisvolle Eigenschaft des Dramas zu ergründen, welche man
das Tragische nannte. Es sollte der Niederschlag sein, welchen die sittliche
Weltanschauung des Dichters in dem Stücke absetzt, und der Dichter
sollte auch durch sittliche Wirkungen ein Bildner seiner Zeit werden;
es sollte eine ethische Kraft sein, womit der Dichter Handlung und Charaktere
zu füllen hat, und man war in diesem Fall nur verschiedener Meinung
über das Wesen des dramatischen Ethos. Die Ausdrücke tragische
Schuld, innere Reinigung, poetische Gerechtigkeit sind bequeme Schlagwörter
der Kritik geworden, bei denen man so Verschiedenes denkt. Darin aber
war man einig, daß die tragische Wirkung des Dramas von der Art
und Weise abhänge, wie der Dichter seine Charaktere durch die Handlung
führt, ihnen das Schicksal zuteilt, den Kampf ihres einseitigen Begehrens
gegen die widerstrebenden Kräfte leitet und endigt.
Da der Dichter seine Handlung frei zur Einheit fügt und diese Einheit
dadurch hervorbringt, daß er die Einzelheiten der dargestellten
Begebenheiten in vernünftigen innern Zusammenhang setzt, so ist allerdings
klar, daß sich auch die Vorstellungen des Dichters von menschlicher
Freiheit und Abhängigkeit, sein Verständnis des großen
Weltzusammenhanges, seine Ansicht über Vorsehung und Schicksal in
einer poetischen Erfindung ausdrücken müssen, welche Tun und
Leiden eines bedeutenden Menschen in großen Verhältnissen aus
dem Innern desselben herleitet. Es ist ferner deutlich, daß dem
Dichter obliegt, diesen Kampf zu einem Schluß zu führen, welcher
die Humanität und Vernunft der Hörer nicht verletzt, sondern
befriedigt. Und daß es für die gute Wirkung seines Dramas durchaus
nicht gleichgültig ist, ob er sich bei Herleitung der Schuld aus
dem Innern des Helden und bei Herleitung der Vergeltung aus dem Zwange
der Handlung als ein Mann von gutem Urteil und richtiger Empfindung bewährt.
Aber ebenso deutlich ist, daß Empfindung und Urteil der Dichter
in den verschiedenen Jahrhunderten ungleich und in den einzelnen Dichtern
nicht in gleicher Weise abgestuft sein werden. Offenbar wird derjenige
nach der Ansicht seiner Zeitgenossen am besten das Schicksal seiner Helden
leiten, der in seinem eigenen Leben hohe Bildung, umfassende Menschenkenntnis
und einen männlichen Charakter entwickelt hat. Denn was aus dem Drama
herausleuchtet, ist nur der Abglanz seiner eigenen Auffassung der größten
Weltverhältnisse. Es läßt sich nicht lehren, es läßt
sich nicht in das einzelne Drama hineinfügen wie eine Rolle oder
Szene.
Deshalb wird hier als Antwort auf die Frage, wie ein Dichter seine Handlung
zusammenfügen müsse, damit sie in diesem Sinne tragisch werde,
der ernst gemeinte Rat gegeben, daß er darum wenig zu sorgen habe.
Er soll sich selbst zu einem tüchtigen Mann machen, dann mit fröhlichem
Herzen an einen Stoff gehen, welcher kräftige Charaktere in großem
Kampf darbietet, und soll die wohltönenden Worte Schuld und Reinigung,
Läuterung und Erhebung andern überlassen. Es ist zuweilen unklarer
Most, in ehrwürdige Schläuche gefüllt. Was in Wahrheit
dramatisch ist, das wirkt in ernster starkbewegter Handlung tragisch,
wenn der ein Mann war, des es schrieb; wo nicht, zuverlässig nicht.
Der eigene Charakter des Dichters bestimmt im Drama hohen Stils weit mehr
die höchsten Wirkungen als bei I irgendeiner andern Kunstgattung.
Aber der Irrtum früherer Kunstanschauungen war, daß sie nur
aus Moral oder Ethos des Dramas die eigentümliche Gesamtwirkung desselben
zu erklären suchten, an welcher Wortklang, Gebärde, Tracht und
noch vieles andere Anteil haben.
Vom Dichter wird das Wort tragisch in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht;
es bezeichnet zuerst die eigentümliche Gesamtwirkung, welche ein
gelungenes Drama großen Stils auf die Seelen der Hörer ausübt,
und zweitens eine bestimmte Art von dramatischen Wirkungen, welche an
gewissen Stellen des Dramas entweder nützlich oder unentbehrlich
sind. Die erstere ist die physiologische Bedeutung des Ausdrucks, die
zweite eine technische Bezeichnung.
Schon den Griechen war ein Eigentümliches in der Gesamtwirkung des
Dramas sehr wohl bekannt. Aristoteles hat die besonderen Einflüsse
der dramatischen Wirkungen auf das Leben der Zuschauer scharf beobachtet
und so gut als eine charakteristische Eigenschaft des Dramas begriffen,
daß er sie in seine berühmte Begriffsbestimmung der Tragödie
aufnahm. Diese Erklärung: die Tragödie ist die künstlerische
Umbildung einer würdigen und einheitlich abgeschlossenen Begebenheit,
welche Größe hat usw., schließt mit den Worten:
und sie bewirkt durch Erregung von Mitleid und Furcht die Katharsis
solcher Gemütsbewegungen. Ausführlich erklärt er
an anderer Stelle (Rhetorik II, 8), was Mitleid sei und wodurch dasselbe
erregt werde. Mitleid erregend ist ihm das ganze Gebiet menschlicher Leiden,
Zustände und Handlungen, deren Beobachtung das hervorbringt, was
wir Rührung und Erschütterung nennen. Das Wort Katharsis aber,
welches als ein Ausdruck der alten Heilkunde die Ableitung von Krankheitsstoffen,
als Ausdruck des Götterdienstes die durch Sühnung hervorgebrachte
Befreiung des Menschen von Befleckendem bezeichnete, ist ein offenbar
von ihm geschaffener Kunstausdruck für die eigenartige Wirkung der
Tragödie auf die Hörer. Diese besonderen Wirkungen, welche der
scharfsinnige Beobachter an seinen Zeitgenossen wahrnahm, sind nicht mehr
ganz dieselben, welche die Aufführung eines großen dramatischen
Kunstwerks auf unsere Zuschauer ausübt, aber sie sind ihnen nahe
verwandt, und es lohnt, den Unterschied zu beachten.
Wer je an sich selbst die Wirkungen einer Tragödie beobachtet hat,
der muß mit Erstaunen bemerken, wie die Rührung und Erschütterung,
welche durch die Bewegung der Charaktere verursacht wird, verbunden mit
der mächtigen Spannung, welche der Zusammenhang der Handlung hervorbringt,
das Nervenleben ergreifen. Weit leichter als im wirklichen Leben rollt
die Träne, zuckt der Mund; dieser Schmerz ist aber zugleich mit kräftigem
Wohlbehagen verbunden: während der Hörer Gedanken, Leiden und
Schicksale der Helden mit einer Lebendigkeit nachempfindet, als ob sie
seine eigenen wären, hat er mitten in der heftigsten Erregung die
Empfindung einer unumschränkten Freiheit, welche ihn zugleich hoch
über die Ereignisse heraushebt, durch welche seine Fähigkeit,
Eindrücke aufzunehmen, vollständig in Anspruch genommen scheint.
Er wird nach dem Fallen des Vorhangs trotz der starken Anstrengung, in
welche er durch Stunden versetzt war, eine Steigerung seiner Lebenskraft
wahrnehmen, das Auge leuchtet, der Schritt ist elastisch, jede Bewegung
fest und frei. Auf die Erschütterung ist ein Gefühl von freudiger
Sicherheit gefolgt, in den Empfindungen der nächsten Stunde ist ein
edler Aufschwung, in seiner Wortfügung nachdrückliche Kraft,
die gesamte eigene Produktion ist ihm gesteigert. Der Glanz großer
Anschauungen und starker Gefühle, der in seine Seele gezogen, liegt
wie eine Verklärung auf seinem Wesen. Diese merkwürdige Ergriffenheit
von Leib und Seele, das Herausheben aus den Stimmungen des Tages, das
freie Wohlgefühl nach großen Aufregungen ist genau das, was
bei dem modernen Drama der Katharsis des Aristoteles entspricht. Es ist
kein Zweifel, daß solche Folge szenischer Aufführungen bei
den fein beanlagten Hellenen nach einer zehnstündigen Anspannung
durch die stärksten Wirkungen gesteigerter und auffallender zutage
kam.
Die erhebende Einwirkung des Schönen auf die Seele ist keiner Kunst
ganz fremd, aber das Besondere, welches durch die Verbindung von Schmerz,
Schauer und Behagen mit einer starken Anspannung der Phantasie und Urteilskraft
und durch die hohe Befriedigung unserer Forderungen an einen vernünftigen
Weltzusammenhang hervorgebracht wird, ist der dramatischen Dichtkunst
allein eigen. Auch die durchdringende Stärke dieses dramatischen
Effekts ist bei der Mehrzahl der Menschen größer als die Stärke
der Wirkungen, welche durch andere Künste ausgeübt werden. Nur
die Musik vermag noch heftiger das Nervenleben zu beeinflussen, aber die
Erschütterungen, welche der Ton hervorruft, fallen vorzugsweise in
das Gebiet der unmittelbaren Empfindung, welche sich nicht zum Gedanken
verklärt, sie sind mehr verzückt und weniger vergeistigt.
Allerdings sind die Wirkungen des Dramas bei uns nicht mehr ganz dieselben
wie zur Zeit des Aristoteles. Und er selbst erklärt uns das. Er,
der so gut wußte, daß die Handlung die Hauptsache im Drama
sei und daß Euripides seine Handlungen übel zusammenfüge,
nennt diesen doch den am meisten tragischen Dichter, d. h. den, welcher
die einem Drama eigentümlichen Wirkungen am stärksten hervorzubringen
wußte. Uns aber macht kaum ein Stück des Euripides starke Gesamtwirkung,
wie sehr die Seelenstürme der Helden in einzelnen seiner bessern
Dramen erschüttern Woher kommt diese Verschiedenheit der Auffassung?
Euripides war Meister in Darstellung der leidenschaftlichen Bewegung,
mit zu geringer Rücksicht auf die scharfe Ausprägung der Personen
und auf den vernünftigen Zusammenhang der Handlung.
Den Griechen aber war ihr Drama aus einer Verbindung der Musik und Lyrik
heraufgekommen, es bewahrte über Aristoteles hinaus einiges aus seiner
ersten Jugend. Der musikalische Bestandteil dauerte nicht nur in den Chören,
auch dem Helden steigerte sich auf Höhenpunkten die rhythmisch bewegte
Sprache leicht zum Gesange, und die Höhenpunkte waren häufig
durch breit ausgeführte Pathosszenen bezeichnet. Der Gesamteindruck
der alten Tragödie stand also zwischen dem unserer Oper und unseres
Dramas, vielleicht der Oper noch näher, er behielt etwas von dem
gewaltig Aufwühlenden der Musik.
Dagegen war in der antiken Tragödie eine andere Wirkung nur unvollständig
entwickelt, welche unserem Trauerspiel unentbehrlich ist. Die dramatischen
Ideen und Handlungen der Griechen entbehrten eine vernünftige Weltordnung,
d. h. eine Fügung der Begebenheiten, welche aus der Anlage und der
Einseitigkeit der dargestellten Charaktere vollständig erklärt
wird. Wir sind freiere Männer geworden, wir erkennen auf der Bühne
kein anderes Schicksal an als ein solches, das aus dem Wesen der Helden
selbst hervorgeht. Der moderne Dichter hat dem Zuschauer die stolze Freude
zu bereiten, daß die Welt, in welche er ihn einführt, durchaus
den idealen Forderungen entspricht, welche Gemüt und Urteil der Hörer
gegenüber den Ereignissen der Wirklichkeit erheben. Menschliche Vernunft
erscheint in dem neueren Drama als einig und eins mit dem Göttlichen,
alles Unbegreifliche der Weltordnung nach den Bedürfnissen unseres
Geistes und Gemütes umgebildet. Und diese Eigentümlichkeit der
Handlung verstärkt allerdings dem Zuschauer der besten neueren Dramen
die schöne Klarheit und fröhliche Gehobenheit, sie hilft, ihn
selbst auf Stunden größer, freier, edler zu machen. Dies ist
der Punkt, wo der Charakter des modernen Dichters, seine freie Männlichkeit,
größeren Einfluß auf die Gesamtwirkung ausübt als
im Altertum.
Diese Einheit des Göttlichen und Vernünftigen suchte auch der
attische Dichter, aber ihm wurde schwer, sie zu finden. Allerdings leuchtet
dies freie Tragische auch in einzelnen ! Dramen des Altertums auf. Und
das ist erklärlich. Denn die Lebensgesetze des poetischen Schaffens
bestimmen den Schaffenden, lange bevor die Kunstbetrachtung Formeln dafür
gefunden hat, und in seinen besten Stunden mag der Dichter eine innere
Freiheit und Größe erhalten, welche ihn weit über die
Beschränktheiten seiner Zeit hinaushebt. Sophokles leitet einige
Male in fast germanischer Weise Charakter und Schicksal seiner Helden.
Im ganzen aber kamen die Griechen nicht über eine Gebundenheit hinaus,
welche uns auch bei der stärksten Kunstwirkung als ein Mangel erscheint.
Schon das epische Gebiet ihrer Stoffe war für eine freie Leitung
der Heldengeschicke durchaus ungünstig. Von außen greift ein
unverständliches Schicksal in die Handlung ein, Weissagungen und
Orakelsprüche wirken auf den Entschluß, zufälliges Unglück
schlägt auf die Helden, Untaten der Eltern bestimmen auch das Schicksal
der spätern Nachkommen, die Personifikationen der Gottheit treten
als Freunde und Feinde in die Handlung ein, zwischen dem, was ihren Zorn
aufregt, und den Strafen, welche sie verhängen, ist nach menschlichem
Urteil nicht immer ein Zusammenhang, noch weniger ein vernünftiges
Verhältnis. Die Einseitigkeit und Willkür, mit welcher sie herrschen,
ist furchtbar und beängstigend, auch wo sie sich einmal mild versöhnen,
bleiben sie ein Fremdes. Solcher kalten übermacht gegenüber
ist demütige Bescheidenheit des Menschen die höchste Weisheit.
Wer fest auf sich selbst zu stehen meint, der verfällt am ersten
einer unheimlichen Gewalt, welche den Schuldigen wie den Unschuldigen
vernichtet. Bei dieser Auffassung, welche im letzten Grunde traurig, finster,
zermalmend war, blieb dem griechischen Dichter nur das Mittel, auch in
die Charaktere seiner unfreien Helden etwas zu legen, was einigermaßen
das Furchtbare, das sie zu leiden hatten, erklärte. Und die große
Kunst des Sophokles zeigt sich unter anderem auch in dieser Färbung
seiner Personen. Aber nicht immer reicht die weise Fügung seiner
Charaktere hin, um den Verlauf ihres Schicksals zu begründen: sie
bleibt nicht selten ein unzureichendes Motiv. Die Größe, welche
die antiken Dichter hervorbrachten, lag zunächst in der Stärke
der Leidenschaften, dann in dem Ungeheuern der Kämpfe, durch welche
ihre Helden niedergeworfen wurden, endlich in der Strenge, Härte
und Schonungslosigkeit, mit welcher sie die Charaktere handeln und leiden
machten.
Die Griechen aber fühlten sehr gut, daß es nicht ratsam sei,
den Zuschauer nach solchen Wirkungen von den Gebilden der schönen
Kunst zu entlassen. Sie schlossen deshalb die Aufführung des Tages
mit einer Parodie, in welcher sie die ernsten Helden der Tragödie
mit übermütigem Scherz behandelten und die Kämpfe derselben
launig nachbildeten. Die Satyrspiele waren ein äußerliches
Mittel, um die Erfrischung hervorzubringen, welche für uns in den
Wirkungen der Tragödie selbst liegt.
Aus diesen Gründen gilt von jener Begriffsbestimmung des Aristoteles
der letzte Satz nicht ohne Einschränkungen für unser Drama.
Ihm wie uns ist Hauptwirkung des Dramas die Entladung von den trüben
und beengenden Stimmungen des Tages, welche uns durch den Jammer und das
Fürchterliche in der Welt kommen. Aber wenn er diese Befreiung -
an anderer Stelle - dadurch zu erklären weiß, daß der
Mensch das Bedürfnis habe, sich gerührt und erschüttert
zu sehen, und daß die gewaltige Befriedigung und Sättigung
dieses Bedürfnisses ihm innere Freiheit gebe, so ist diese Erklärung
zwar auch für uns nicht unverständlich, aber sie nimmt als den
letzten innern Grund dieses Bedürfnisses pathologische Zustände
an, wo wir fröhliche Rührigkeit der Hörer erkennen.
Denn der letzte Grund jeder großen Wirkung des Dramas liegt nicht
in dem Bedürfnis des Hörers, leidend Eindrücke aufzunehmen,
sondern in seinem unablässigen Drange zu schaffen und zu bilden.
Der dramatische Dichter zwingt den Hörer zum Nachschaffen. Die ganze
Welt von Charakteren, von Leid und. Schicksal muß der Hörende
in sich selbst lebendig machen; während er mit höchster Spannung
aufnimmt, ist er zugleich in stärkster und schnellster schöpferischer
Tätigkeit. Eine ähnliche Wärme und beglückende Heiterkeit,
wie sie der Dichter im Schaffen empfand, erfüllt auch den nachschaffenden
Hörer: daher der Schmerz mit Wohlgefühl, daher die Erhebung,
welche den Schluß des Werkes überdauert. Und diese Aufregung
der schaffenden Kräfte wird bei dem Drama der Neuzeit allerdings
noch von einem milderen Licht durchstrahlt. Denn eng damit verbunden ist
uns die erhebende Empfindung von der ewigen Vernunft in den schwersten
Schicksalen und Leiden des Menschen. Der Hörer fühlt und erkennt,
daß die Gottheit, welche sein Leben leitet, auch wo sie das einzelne
menschliche Dasein zerbricht, in liebevollem Bündnis mit dem Menschengeschlecht
handelt, und er selbst fühlt sich schöpferisch gehoben, als
einig mit der großen, weltlenkenden Gewalt.
So ist die Gesamtwirkung des Dramas, das Tragische, bei uns jener griechischen
verwandt, nicht mehr ganz dieselbe. Der Grieche lauschte in der grünen
Jugendzeit des Menschengeschlechts nach den Tönen des Proszeniums,
erfüllt von dem heiligen Rausch des Dionysos, der Germane schaut
in die Welt des Scheins, nicht weniger bewegt, aber als ein Herr der Erde;
das Menschengeschlecht hat seitdem eine lange Geschichte durchlebt, wir
alle sind durch historische Wissenschaft erzogen.
Aber nicht nur die Gesamtwirkung des Dramas bezeichnet man durch das Wort
tragisch. Der Dichter der Gegenwart und zuweilen auch das Volk gebrauchen
das Wort in engerer Bedeutung. Wir verstehen darunter auch eine besondere
Art der dramatischen Wirkungen.
Wenn an einem Punkte der Handlung plötzlich, unerwartet, im Gegensatz
zu dem Vorhergehenden etwas Trauriges, Finsteres, Schreckliches eintritt,
das wir doch sofort als aus der ursächlichen Verbindung der Ereignisse
hervorgegangen und aus den Voraussetzungen des Stückes als vollständig
begreiflich empfinden, so ist dies Neue ein tragisches Moment. Das tragische
Moment muß also folgende drei Eigenschaften haben: 1. Es muß
wichtig und folgenschwer für den Helden sein, 2. es muß unerwartet
aufspringen, 3. es muß durch eine dem Zuschauer sichtbare Kette
von Nebenvorstellungen in vernünftigem Zusammenhang mit früheren
Teilen der Handlung stehen. Nachdem die Verschworenen den Cäsar getötet
und sich, wie sie meinen, den Antonius verbündet haben, wiegelt Antonius
durch seine Rede dieselben Römer, für deren Freiheit Brutus
den Mord begangen hat, gegen die Mörder auf. Als Romeo sich mit Julia
vermählt hat, ist er in die Notwendigkeit versetzt, ihren Vetter
Tybalt im Zweikampf zu töten, und wird verbannt. Als Maria Stuart
der Elisabeth so weit genähert ist, daß eine versöhnende
Zusammenkunft der beiden Königinnen möglich wird, entbrennt
zwischen beiden ein Zank, der tödlich für Maria wird. Hier sind
die Rede des Antonius, der Tod des Tybalt, der Zank der Königinnen
die tragischen Momente. Ihre Wirkung beruht darauf, daß der Zuschauer
das Bedeutungsvolle als überraschend und doch in festem Zusammenhange
mit dem Vorhergehenden begreift. Die Rede des Antonius empfindet der Hörer
lebhaft als eine Folge des Unrechts, welches die Verschworenen gegen Cäsar
geübt haben; durch die Stellung des Antonius zu Cäsar und sein
Verhalten in der vorausgegangenen Dialogszene mit den Verschworenen wird
sie zugleich als notwendige Folge der Schonung und des kopflosen und vorschnellen
Vertrauens, welches die Mörder ihm schenken, begriffen. Daß
Romeo den Tybalt töten muß, wird augenblicklich als unvermeidliche
Folge des tödlichen Familienzwistes und des Zweikampfes mit Mercutio
verstanden; den Streit der beiden Königinnen faßt der Hörer
sogleich als natürliche Folge des Stolzes, Hasses und der alten Eifersucht.
In derselben technischen Bedeutung wird das Wort tragisch zuweilen auch
auf Ereignisse des wirklichen Lebens angewandt. Die. Tatsache z. B:, daß
Luther, der starke Kämpfer für die Freiheit der Gewissen, in
der letzten Hälfte seines Lebens selbst ein unduldsamer Beherrscher
der Gewissen wurde, enthält, so hingestellt, nichts Tragisches. In
Luther mag sich übergroße Herrschsucht entwickelt haben, er
mag altersschwach geworden sein usw. Von dem Augenblick aber, wo uns durch
eine Reihe von Nebenvorstellungen klar wird, daß diese Unduldsamkeit
die notwendige Folge desselben ehrlichen, rücksichtslosen Ringens
nach Wahrheit war, welches die Reformation durchgesetzt hat, daß
dieselbe fromme Festigkeit, mit welcher Luther seine Auffassung der Bibel
der. römischen Kirche gegenüberhielt, ihn dazu brachte, diese
Auffassung gegen abweichendes Urteil zu vertreten., daß ihm, wenn
er in seiner Stellung außerhalb der Kirche nicht verzweifeln wollte,
nur übrig blieb, stierköpfig den Buchstaben seiner Schrift festzuhalten,
- von dem Augenblicke also, wo wir den innerlichen Zusammenhang, seiner
Unduldsamkeit mit allem Guten und Großen seiner Natur begreifen,
macht diese Verdüsterung seines späteren Lebens den Eindruck
des Tragischen. Ebenso bei Cromwell. Daß der Volksführer als
Tyrann herrschte, wirkt an sich nicht tragisch. Daß er es aber wider
seinen Willen tat und tun mußte, weil die Parteistellung, durch
welche er heraufgekommen war, und sein Anteil an der .Hinrichtung des
Königs die Herzen der Gemäßigten gegen Ihn empört
hatte, daß der starke Held aus dem Zwange, den ihm sein früheres
Leben auflegte, sich nicht loszuringen vermochte, das macht die Schatten,
welche durch die ungesetzliche Herrschaft in sein Leben fielen, für
uns tragisch. Daß Konradin, das Hohenstaufenkind, einen Haufen zusammenrafft
und in Italien von seinem Gegner erschlagen wird das ist an sich nicht
dramatisch und in keiner Bedeutung des Wortes tragisch. Ein schwacher
Jüngling mit geringen Hilfsmitteln, - es war in der Ordnung, daß
er unterlag. Wenn uns aber In die Seele fällt, daß der Jüngling
nur dem alten Zuge seines Geschlechtes nach Italien folgt, daß demselben
Zuge fast alle großen Fürsten seines Hauses unterlegen sind
und daß dieser Zug eines Kaisergeschlechts nichts Zufälliges
ist, sondern auf der uralten, geschichtlichen Verbindung Deutschlands
mit Italien ruht, so erscheint uns der Tod Konradins allerdings tragisch,
nicht für ihn selbst, sondern als letzter Ausgang des größten
Herrengeschlechts jener Zeit.
Mit besonderem Nachdruck muß noch einmal hervorgehoben werden, daß
das tragische Moment in seinem vernünftigen, ursächlichen Zusammenhange
mit den Grundbedingungen der Handlung verstanden werden muß. Für
unser Drama haben solche Ereignisse, welche unbegreiflich eintreten, Zwischenfälle,
deren Beziehung zur Handlung sich geheimnisvoll verhüllt, Einflüsse,
deren Bedeutung auf abergläubischen Vorstellungen beruht, Motive,
die aus dem Traumleben genommen sind, Prophezeiungen, Ahnungen nur untergeordnete
Bedeutung. Wenn ein Familienbild, welches vom Nagel fällt, Tod und
Verderben vorbedeutsam anzeigen soll; wenn ein Dolch, der zu einer Untat
verwendet wurde, mit einem geheimnisvoll fortwirkenden Fluch behaftet
erscheint, bis er auch dem Mörder den Tod bringt, so sind dergleichen
Versuche, die tragische Wirkung auf einen innern Zusammenhang zu begründen,
der uns unverständlich ist oder unvernünftig erscheint, für
das freie Geschlecht der Gegenwart schwächlich oder gar unleidlich.
Was uns als Zufall, selbst als überraschender, entgegentritt, ziemt
nicht für große Wirkungen der Bühne. Es ist erst einige
Jahrzehnte her, daß in Deutschland neben vielem andern auch die
Verwertung solcher Motive versucht wurde.
Die Hellenen waren, nebenbei bemerkt, in Benutzung dieser vernunftwidrigen
Momente zu tragischer Wirkung etwas weniger wählerisch. Sie mochten
sich auch einmal damit begnügen, wenn der innere Zusammenhang eines
plötzlich eintretenden tragischen Moments mit Vorhergehendem nur
in ahnungsvollem Schauer empfunden wurde. Wenn Aristoteles als ein in
dieser Richtung wirksames Beispiel anführt, daß die einem Manne
errichtete Bildsäule im Umfallen den erschlug, der an dem Tode des
Mannes schuld war, so würden wir zwar im Leben des Tages solchen
Zufall als bedeutsam empfinden, für die Kunst würden wir ihn
nicht mit Erfolg verwerten. Sophokles weiß auch bei solchen Momenten
einen natürlichen und verständlichen Zusammenhang zwischen Ursache
und Wirkung hervorzuheben, soweit seine Mythen das irgend gestatteten.
Sehr merkwürdig ist z. B. die Art und Weise, wie er die giftige Wirkung
des Nessoskleides, welches Deianeira dem Herakles sendet, mit realistischer
Ausführlichkeit erklärt.
Das tragische Moment ist aber im Drama eine einzelne von vielen Wirkungen.
Sie kann einmal eintreten, wie gewöhnlich geschieht, sie kann In
demselben Stück öfter angewandt werden. So hat Romeo und Julia
drei tragische Momente: den Tod des Tybalt nach der Vermählung, die
Verlobung der Julia mit Paris nach der Brautnacht, den Tod des Paris vor
der Katastrophe. Die Stellung, welche dies Moment im Stücke einnimmt,
ist nicht immer dieselbe, ein Punkt aber ist vorzugsweise dafür
geeignet, so daß die Fälle in denen es einen andern Platz fordert,
als Ausnahme betrachtet werden können. Und es ist zweckmäßig,
im Zusammenhange mit dem Vorhergehenden darüber zu reden, obgleich
die Teile des Dramas erst im folgenden Kapitel besprochen werden.
Der Punkt, von welchem ab die Tat des Helden auf denselben zurückwirkt,
ist einer der wichtigsten im Drama. Dieser Beginn der Reaktion, mit dem
Höhenpunkt zuweilen in einer Szene verbunden, ist, so lange es eine
dramatische Kunst gibt, besonders ausgezeichnet worden. Die Befangenheit
des Helden und die verhängnisvolle Lage, in welche er sich gebracht
hat, soll dadurch eindringlich dargestellt werden; zugleich aber hat dieses
Moment die Aufgabe, für den zweiten Teil des Stückes neue Spannung
hervorzubringen, um so mehr, je glänzender der äußere
Erfolg des Helden bis dahin gewesen ist und je großartiger die Szene
des Höhenpunktes denselben dargestellt hat. Was jetzt in das Stück
tritt, muß alle die Eigenschaften haben, welche oben auseinandergesetzt
wurden, es muß ein scharfer Gegensatz, es muß nicht zufällig,
es muß folgenschwer sein. Deshalb wird es Wichtigkeit und eine gewisse
Größe haben müssen. Diese Szene des tragischen Momentes
folgt entweder der Szene des Höhenpunktes unmittelbar, wie die Verzweiflung
der Julia auf den Abschied Romeos, oder durch eine Zwischenszene verbunden,
wie die Rede des Antonius auf die Ermordung des Cäsar; oder sie ist
mit der Szene des Höhenpunktes zu einer szenischen Einheit zusammengekoppelt,
wie in Maria Stuart, oder sie ist gar durch einen Aktschluß davon
getrennt, wie in Kabale und liebe, wo das Briefschreiben Luisens den Höhenpunkt
bezeichnet, die Überzeugung Ferdinands von der Untreue der Geliebten
das tragische Moment.
Solche Szenen stehen fast immer noch im dritten Akt unserer Stücke,
weniger wirksam im Beginn des vierten.
Sie sind allerdings dem Trauerspiel nicht unbedingt notwendig, es ist
sehr wohl möglich, die wachsende Rückwirkung durch mehre Schläge
in allmählicher Verstärkung zu leiten. Dies wird zumeist da
der Fall sein, wo die Katastrophe durch Gemütsvorgänge des Helden
bewirkt wird, wie im Othello.
Es ist für uns Moderne von Wert, zu erkennen, wie wichtig den Griechen
dieses Eintreten des tragischen Momentes in die Handlung war. Es war unter
anderem Namen genau dieselbe Wirkung, und sie wurde durch die attischen
Kunstrichter noch bedeutsamer hervorgehoben, als uns nötig ist. Auch
ihren Tragödien war dies Moment nicht unentbehrlich, aber es galt
für eine der schönsten und wirkungsvollsten Erfindungen. Ja
sie unterschieden diese Wirkung darnach, ob sie in der Handlung selbst
oder in der Stellung der Hauptcharaktere zueinander eine Wendung hervorbrachte,
und hatten für jeden dieser Fälle besondere Benennungen, offenbar
Ausdrücke der alten Dichterwerkstatt, welche uns ein Zufall in der
Poetik des Aristoteles erhalten hat. *)
______
*) Beide Fachausdrücke werden noch jetzt nicht immer richtig verstanden.
Peripetie bezeichnet durchaus nicht den letzten Teil der Handlung
vom Höhenpunkte abwärts, welcher bei Aristoteles Katabasis heißt,
sondern es ist nur, was hier tragisches Moment genannt wird, eine einzelne
Szenenwirkung, zuweilen nur Teil einer Szene. - Das Kapitel über
die Anagnorisis aber, eins der lehrreichsten. in der Poetik, weil
es Einblick in die handwerksmäßige Methode der Dichterarbeit
gewährt, schien gar einmal den Herausgebern unecht.
______
Peripetie heißt den Griechen das tragische Moment, welches das Wollen
des Helden und damit die Handlung durch das plötzliche Einbrechen
eines zwar unvorhergesehenen und überraschenden, aber in der Anlage
der Handlung bereits gegründeten Ereignisses in einer Richtung forttreibt,
welche von der des Anfanges sehr verschieden ist. Solche Peripetieszenen
sind im Philoktet die Wandlung in den Ansichten des Neoptolemos, im König
Ödipus die Berichte des Boten und des Hirten an Jokaste und den König,
in den Trachinierinnen der Bericht des Hyllos an Deianeira über die
Wirkung des Nessoskleides. Vorzugsweise durch dieses Moment wurde eine
kräftige Bewegung des zweiten Teils hervorgebracht, und die Athener
unterschieden sorgfältig Tragödien mit und ohne Peripetie. Die
mit Peripetie galten im Ganzen betrachtet für die besseren. Nur darin
unterscheidet sich dies Moment der antiken Handlung von dem entsprechenden
neueren, daß es nicht notwendig eine unheilvolle Wendung bezeichnete,
weil die Tragödie des Altertums nicht immer traurigen Ausgang hatte,
sondern auch den plötzlichen Umschwung zum Besseren.
Kaum geringere Bedeutung beanspruchten die Szenen, in denen die Stellung
der handelnden Personen zueinander dadurch geändert wurde, daß
sich eine alte wichtige Beziehung zwischen ihnen unerwartet offenbarte.
Diese Szenen der Anagnorisis, Erkennungsszenen, waren es vorzugsweise,
In denen die gemütlichen Beziehungen der Helden zueinander in großartiger
Ausführung sichtbar wurden. Und da die griechische Bühne unsere
Liebesszenen nicht kannte, so nahmen sie eine ähnliche Stellung ein,
obgleich nicht immer Zuneigung, auch Haß in ihnen aufbrannte. Gelegenheit
zu solchen Szenen aber boten die Stoffe der Hellenen sehr reichlich. Die
Helden der griechischen Sage sind fast ohne Ausnahme ein umherschweifendes
Geschlecht. Ausziehen und wiederkehren, Freunde und Feinde unerwartet
finden, gehörte zu den häufigsten Zügen der Sage. Fast
jeder Sagenkreis enthält Kinder, welche ihre Eltern nicht kannten,
Gatten, welche nach längerer Trennung einander unter bedenklichen
Umständen wiedersahen, Gastfreunde und Feinde, welche Namen und Absicht
klug zu verhüllen suchten. Deshalb wurden bei vielen Stoffen Szenen
der Begegnung, des Wiederfindens, der Erinnerung an bedeutungsvolle Ereignisse
der Vergangenheit von entscheidender Wichtigkeit. Und nicht nur das Wiedererkennen
von Menschen, auch das Erkennen einer Gegend, einer beziehungsvollen Sache
konnte Motiv für eine starke Bewegung werden. Solche Szenen gaben
dem antiken Dichter eine willkommene Gelegenheit zur Darstellung von Gegensätzen
der Empfindung und zu den beliebten pathetischen Ausführungen, in
welchen das heftig erregte Gefühl in langen Wellen ausströmte.
Die Frau, welche einen Feind töten will und vor oder nach der Tat
den eigenen Sohn erkennt; der Sohn, welcher in der Todfeindin seine Mutter
wiederfindet, wie Ion; die Priesterin, welche den fremden Mann opfern
soll und in ihm den Bruder errät, wie Iphigenie; die Schwester welche
den toten Bruder betrauert und im Überbringer des Aschenkruges den
lebenden zurückerhält, wie Elektra; die Amme des Odysseus, welche
in einem Bettler den heimkehrenden Herrn an der Narbe des Fußes
herausfindet, sind einige von den zahlreichen Beispielen.
Häufig wurden solche Erkennungsszenen zu Peripetiemomenten, wie die
oben erwähnten Berichte des Boten und des Hirten für das Königspaar
von Theben. Bei Aristoteles mag man nachlesen, wie wichtig den Griechen
die Umstände waren, durch welche die Erkennung veranlaßt wurde,
sie werden von dem großen Phi1osophen genau nach ihrem inneren Werte
abgewogen und geschätzt. Und es macht fröhlich zu sehen, daß
auch schon die Griechen nicht zufällige äußere Merkmale
für kunstgemäße Motive galten, sondern innere Bezüge
zwischen den Erkennenden, welche sich ungezwungen und charakteristisch
für beide in der Gesprächszene offenbarten. Gerade hier wird
uns ein Einblick, wie fein und ausgebildet die Theaterkritik der Griechen
war und wie peinlich gewissenhaft sie vor einem neuen Drama auf das achteten,
was ihrer Kunstanschauung für schöne Wirkung galt.
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