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Gustav Freytag


Die Technik des Dramas

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Einleitung

Daß die Technik des Dramas nichts Feststehendes, Unveränderliches sei, bedarf kaum der Erwähnung. Seit Aristoteles einige der höchsten Gesetze dramatischer Wirkung dargestellt hat, ist die Bildung des Menschengeschlechts um mehr als zweitausend Jahre älter geworden; nicht nur die Formen der Kunst, Bühne und Art der Darstellung haben sich gewaltig verändert, sondern, was wichtiger ist, der geistige und sittliche Inhalt der Menschen, das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Geschlecht und zu den höchsten Gewalten des Erdenlebens, die Idee der Freiheit und die Vorstellungen von dem Wesen der Gottheit haben große Umwandlungen erfahren; ein weites Gebiet dramatischer Stoffe ist uns verloren, ein neuer größerer Bereich gewonnen. Mit den sittlichen und politischen Grundsätzen, welche unser Leben beherrschen, haben sich auch die Vorstellungen vom Schönen und künstlerisch Wirksamen fortgebildet. Zwischen den höchsten Kunstwirkungen der griechischen Festspiele, der Autos sakramentales und der Dramen zur Zeit Goethes und Ifflands ist der Unterschied nicht weniger groß, als zwischen dem hellenischen Chortheater, dem Mysterienbau und dem geschlossenen Salon der modernen Bühne. Man darf als sicher betrachten, daß einige Grundgesetze des dramatischen Schaffens für alle Zeit Geltung behalten werden; im Ganzen aber sind sowohl die Lebensbedürfnisse des Dramas in einer beständigen Entwickelung begriffen, als auch die Kunstmittel, durch welche Wirkungen ausgeübt werden. Und man meine nicht, daß die Technik der Poesie nur durch die Schöpfungen der größten Dichter gefördert werde, wir dürfen ohne Selbstüberhebung sagen, daß wir gegenwärtig klarer sind über die höchsten Kunstwirkungen im Drama und über den Gebrauch der technischen Zurüstung, als Lessing, Schiller und Goethe.

Der Dichter der Gegenwart ist geneigt, mit Verwunderung auf eine Arbeitsweise hinabzusehen, welche den Bau der Szenen, die Behandlung der Charaktere, die Reihenfolge der Wirkungen nach einem überlieferten Lehrgebäude fester technischer Regeln einrichtete. Leicht dünkt uns solche Beschränkung der Tod eines freien künstlerischen Schaffens. Nie war ein Irrtum größer. Gerade ein ausgebildetes System von Einzelvorschriften, eine sichere, in volkstümlicher Gewohnheit wurzelnde Beschränkung bei Wahl der Stoffe und Bau der Stücke sind zu verschiedenen Zeiten die beste Hilfe der schöpferischen Kraft gewesen. Ja sie sind, so scheint es, notwendige Vorbedingung jener reichlichen Fruchtbarkeit, welche uns in einigen Zeiträumen der Vergangenheit rätselhaft und unbegreiflich erscheint. Noch erkennen wir, daß die griechische Tragödie eine solche Technik besaß
, und daß die größten Dichter nach Handwerksregeln schufen, welche zum Teil allen gemein waren, zum Teil Eigentum bestimmter Familien und Genossenschaften sein mochten. Viele derselben waren der attischen Kritik wohl bekannt, welche den Wert eines Stückes danach beurteilte, ob die Peripetieszene an rechter Stelle stand und die Pathosszene die wünschenswerte Stärke von Mitgefühl erregte. Daß das spanische Mantel- und Degendrama die Fäden seiner Intrige ebenfalls nach festen Regeln kunstvoll durcheinander schob, darüber belehrt uns freilich keine Poetik eines Kastilianers, aber wir vermögen mehre dieser Regeln aus dem gleichförmigen Bau und den immer wiederkehrenden Charakteren sehr wohl zu erkennen, und es würde nicht schwer sein, ein Lehrgebäude der eigentümlichen Vorschriften aus den Stücken selbst zu errichten.

Natürlich waren diese Regeln und Kunstgriffe auch für die Zeitgenossen, denen sie nützten, nicht etwas Unveränderliches, auch sie erfuhren durch Genie und kluge Erfindung der Einzelnen so lange Ausbildung und Umformung, bis sie erstarrten und nach einer Zeit geistloser Verwendung zugleich mit der Schöpferkraft der Dichter verloren wurden.

Es ist wahr, eine ausgebildete Technik, welche nicht nur die Form, auch viele ästhetische Wirkungen bestimmt, steckt der dramatischen Poesie einer Zeit auch Ziel und Grenze ab, innerhalb welcher die größten Erfolge erreicht werden, welche zu überschreiten selbst dem Genie selten möglich ist. Leicht wird solche Begrenzung in spätern Jahrhunderten als Hindernis einer vielseitigen Entwickelung aufgefaßt. Aber gerade wir Deutschen könnten uns ein abschätzendes Urteil der Nachwelt recht gern gefallen lassen, wenn wir nur jetzt die Hilfe einer gemeingültigen Technik besäßen. Denn wir leiden an dem Gegenteil einer engen Begrenzung, an übergroßer Zuchtlosigkeit und Formlosigkeit, uns fehlt ein volksmäßiger Stil, ein bestimmtes Gebiet dramatischer Stoffe, jede Sicherheit der Handgriffe; unser Schaffen ist fast nach allen Richtungen zufällig und unsicher geworden, noch heut, achtzig Jahre nach Schiller, wird es dem jungen Dichter sehr schwer, sich auf der Bühne vertraut und heimisch zu bewegen.

Wenn wir aber auch darauf verzichten müssen, mit den Vorteilen der sichern und handwerksmäßigen Überlieferung zu schaffen, welche der dramatischen Kunst gerade so wie den bildenden Künsten früherer Jahrhunderte eigen war, so sollen wir doch nicht verschmähen, die technischen Regeln aus alter und neuer Zeit, welche auf unserer Bühne künstlerische Wirkungen erleichtern, zu suchen und verständig zu gebrauchen. Es versteht sich, daß diese Regeln nicht durch Willkür eines Einzelnen, auch nicht durch den Einfluß eines großen Denkers oder Dichters auferlegt sein dürfen, sondern daß sie aus den edelsten Wirkungen unserer Bühne gezogen, nur das für uns Notwendige enthalten müssen
, daß sie der Kritik und der schaffenden Kraft nicht als Gewaltherrscher, sondern als ehrliche Helfer zu dienen haben, und daß auch bei ihnen eine Wandlung und Fortbildung nach den Bedürfnissen der Zeit nicht ausgeschlossen wird.

Es ist immerhin auffallend, daß die technischen Hilfsregeln früherer Zeit, nach denen der Schaffende den kunstvollen Bau des Dramas zusammenzufügen hatte, so selten durch Schrift spätern Geschlechtern überliefert sind. Zweitausend zweihundert Jahre sind vergangen, seit Aristoteles den Hellenen einen Teil dieser Gesetze darstellte. Leider ist die Poetik nur unvollständig auf uns gekommen, das Erhaltene ist vielleicht nur Auszug, den ungeschickte Hände gemacht haben, es hat Lücken und verderbten Text, auch scheinen einzelne Kapitel durcheinander geworfen. Trotz dieser Beschaffenheit ist das Erhaltene für uns von höchstem Wert, die Altertumswissenschaft verdankt ihm einen Einblick in die verschüttete Bühnenwelt der Hellenen, in unsern ästhetischen Lehrbüchern bildet es noch heut die Grundlage für die Theorie der dramatischen Kunst, auch dem arbeitenden Dichter sind einige Kapitel der kleinen Schrift belehrend. Denn das Werk enthält außer einer Theorie der dramatischen Wirkungen, wie sie der größte Denker des Altertums seinen Zeitgenossen zurechtlegte, und außer mehren Grundsätzen einer volkstümlichen Kritik, wie sie der gebildete Athener vor neuen Stücken in Anwendung brachte, auch noch einige feine Handgriffe aus den dramatischen Werkstätten des Altertums, welche wir für unsere Arbeit sehr vorteilhaft verwenden können. Im Folgenden wird, soweit der praktische Zweck dieses Buches erlaubt, davon die Rede sein.

Hundert und zwanzig Jahre sind es, seit Lessing den Deutschen die Geheimschrift der alten Poetik zu entziffern unternahm. Seine hamburgische Dramaturgie wurde der Ausgangspunkt für eine volksmäßige Auffassung des dramatisch Schönen. Und der siegreiche Kampf, welchen er in diesem Werk gegen die Tyrannei des französischen Geschmacks führte, wird demselben die Achtung und Liebe der Deutschen auf immer erhalten. Für unsere Zeit ist der streitende Teil der wichtigste. Wo Lessing den Aristoteles erklärt, erscheint sein Verständnis des Griechen unserer Gegenwart, welche mit reicheren Hilfsmitteln arbeitet, nicht überall genügend; wo er belehrend die Gesetze des Schaffens darlegt, ist sein Urteil begrenzt durch die enge Auffassung des Schönen und Wirkungsvollen, in welcher er damals noch selbst stand.

Freilich die beste Quelle für den Gewinn technischer Regeln sind die Dramen großer Dichter, welche ihren Zauber auf Leser und Zuschauer noch heut ausüben. Zunächst die griechischen Tragödien. Wer sich gewöhnt, von den Besonderheiten der alten Form abzusehen, der findet mit inniger Freude, daß der kunstvollste tragische Dichter der Athener, Sophokles, die Hauptgesetze des dramatischen Aufbaues mit einer beneidenswerten Sicherheit und Klugheit verwendet. Für Steigerung, Höhenpunkt und Umkehr der Handlung - den zweiten, dritten und vierten Akt unserer Stücke - ist er noch uns ein selten erreichtes Vorbild.

Etwa zweitausend Jahre nach Ödipus auf Kolonos schrieb Shakespeare das Trauerspiel Romeo und Julie, er die zweite geniale Kraft, welche der dramatischen Kunst unsterblichen Ausdruck gegeben hat. Er schuf das Drama der Germanen, seine Behandlung des Tragischen, Anordnung der Handlung, Art und Weise der Charakterbildung, Darstellung der Seelenvorgänge haben für die Einleitung des Dramas und für die erste Hälfte bis zum Höhenpunkt einige technische Gesetze, welche uns noch leiten, festgestellt.

Auf einem Umwege kamen die Deutschen zur Erkenntnis von der Größe und Bedeutung seiner Arbeit für uns. Die großen Dichter der Deutschen, billig die nächsten Muster, an denen wir uns zu bilden haben, lebten in einer Zeit des geistvollen Anstellens von Versuchen mit dem Erbe alter Vergangenheit, deshalb fehlt der Technik, welche sie erwarben, Einiges von der Sicherheit und Folgerichtigkeit der Wirkungen; und gerade weil das Schöne, das sie gefunden, uns in das Blut übergegangen ist, sind wir auch verpflichtet, bei der Arbeit Manches von uns abzuwehren, was bei ihnen auf unfertiger oder unsicherer Grundlage ruht.

Die Beispiele, welche in dem Folgenden herangezogen werden, sind aus Sophokles, Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller geholt. Denn es war wünschenswert, die Beispiele auf allbekannte Werke zu beschränken.


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