Einleitung
Daß die Technik des Dramas nichts Feststehendes,
Unveränderliches sei, bedarf kaum der Erwähnung. Seit Aristoteles
einige der höchsten Gesetze dramatischer Wirkung dargestellt hat,
ist die Bildung des Menschengeschlechts um mehr als zweitausend Jahre
älter geworden; nicht nur die Formen der Kunst, Bühne und Art
der Darstellung haben sich gewaltig verändert, sondern, was wichtiger
ist, der geistige und sittliche Inhalt der Menschen, das Verhältnis
des Einzelnen zu seinem Geschlecht und zu den höchsten Gewalten des
Erdenlebens, die Idee der Freiheit und die Vorstellungen von dem Wesen
der Gottheit haben große Umwandlungen erfahren; ein weites Gebiet
dramatischer Stoffe ist uns verloren, ein neuer größerer Bereich
gewonnen. Mit den sittlichen und politischen Grundsätzen, welche
unser Leben beherrschen, haben sich auch die Vorstellungen vom Schönen
und künstlerisch Wirksamen fortgebildet. Zwischen den höchsten
Kunstwirkungen der griechischen Festspiele, der Autos sakramentales und
der Dramen zur Zeit Goethes und Ifflands ist der Unterschied nicht weniger
groß, als zwischen dem hellenischen Chortheater, dem Mysterienbau
und dem geschlossenen Salon der modernen Bühne. Man darf als sicher
betrachten, daß einige Grundgesetze des dramatischen Schaffens für
alle Zeit Geltung behalten werden; im Ganzen aber sind sowohl die Lebensbedürfnisse
des Dramas in einer beständigen Entwickelung begriffen, als auch
die Kunstmittel, durch welche Wirkungen ausgeübt werden. Und man
meine nicht, daß die Technik der Poesie nur durch die Schöpfungen
der größten Dichter gefördert werde, wir dürfen ohne
Selbstüberhebung sagen, daß wir gegenwärtig klarer sind
über die höchsten Kunstwirkungen im Drama und über den
Gebrauch der technischen Zurüstung, als Lessing, Schiller und Goethe.
Der Dichter der Gegenwart ist geneigt, mit Verwunderung auf eine Arbeitsweise
hinabzusehen, welche den Bau der Szenen, die Behandlung der Charaktere,
die Reihenfolge der Wirkungen nach einem überlieferten Lehrgebäude
fester technischer Regeln einrichtete. Leicht dünkt uns solche Beschränkung
der Tod eines freien künstlerischen Schaffens. Nie war ein Irrtum
größer. Gerade ein ausgebildetes System von Einzelvorschriften,
eine sichere, in volkstümlicher Gewohnheit wurzelnde Beschränkung
bei Wahl der Stoffe und Bau der Stücke sind zu verschiedenen Zeiten
die beste Hilfe der schöpferischen Kraft gewesen. Ja sie sind, so
scheint es, notwendige Vorbedingung jener reichlichen Fruchtbarkeit, welche
uns in einigen Zeiträumen der Vergangenheit rätselhaft und unbegreiflich
erscheint. Noch erkennen wir, daß die griechische Tragödie
eine solche Technik besaß,
und daß die größten Dichter nach Handwerksregeln schufen,
welche zum Teil allen gemein waren, zum Teil Eigentum bestimmter Familien
und Genossenschaften sein mochten. Viele derselben waren der attischen
Kritik wohl bekannt, welche den Wert eines Stückes danach beurteilte,
ob die Peripetieszene an rechter Stelle stand und die Pathosszene die
wünschenswerte Stärke von Mitgefühl erregte. Daß
das spanische Mantel- und Degendrama die Fäden seiner Intrige ebenfalls
nach festen Regeln kunstvoll durcheinander schob, darüber belehrt
uns freilich keine Poetik eines Kastilianers, aber wir vermögen mehre
dieser Regeln aus dem gleichförmigen Bau und den immer wiederkehrenden
Charakteren sehr wohl zu erkennen, und es würde nicht schwer sein,
ein Lehrgebäude der eigentümlichen Vorschriften aus den Stücken
selbst zu errichten.
Natürlich waren diese Regeln und Kunstgriffe auch für die Zeitgenossen,
denen sie nützten, nicht etwas Unveränderliches, auch sie erfuhren
durch Genie und kluge Erfindung der Einzelnen so lange Ausbildung und
Umformung, bis sie erstarrten und nach einer Zeit geistloser Verwendung
zugleich mit der Schöpferkraft der Dichter verloren wurden.
Es ist wahr, eine ausgebildete Technik, welche nicht nur die Form, auch
viele ästhetische Wirkungen bestimmt, steckt der dramatischen Poesie
einer Zeit auch Ziel und Grenze ab, innerhalb welcher die größten
Erfolge erreicht werden, welche zu überschreiten selbst dem Genie
selten möglich ist. Leicht wird solche Begrenzung in spätern
Jahrhunderten als Hindernis einer vielseitigen Entwickelung aufgefaßt.
Aber gerade wir Deutschen könnten uns ein abschätzendes Urteil
der Nachwelt recht gern gefallen lassen, wenn wir nur jetzt die Hilfe
einer gemeingültigen Technik besäßen. Denn wir leiden
an dem Gegenteil einer engen Begrenzung, an übergroßer Zuchtlosigkeit
und Formlosigkeit, uns fehlt ein volksmäßiger Stil, ein bestimmtes
Gebiet dramatischer Stoffe, jede Sicherheit der Handgriffe; unser Schaffen
ist fast nach allen Richtungen zufällig und unsicher geworden, noch
heut, achtzig Jahre nach Schiller, wird es dem jungen Dichter sehr schwer,
sich auf der Bühne vertraut und heimisch zu bewegen.
Wenn wir aber auch darauf verzichten müssen, mit den Vorteilen der
sichern und handwerksmäßigen Überlieferung zu schaffen,
welche der dramatischen Kunst gerade so wie den bildenden Künsten
früherer Jahrhunderte eigen war, so sollen wir doch nicht verschmähen,
die technischen Regeln aus alter und neuer Zeit, welche auf unserer Bühne
künstlerische Wirkungen erleichtern, zu suchen und verständig
zu gebrauchen. Es versteht sich, daß diese Regeln nicht durch Willkür
eines Einzelnen, auch nicht durch den Einfluß eines großen
Denkers oder Dichters auferlegt sein dürfen, sondern daß sie
aus den edelsten Wirkungen unserer Bühne gezogen, nur das für
uns Notwendige enthalten müssen,
daß sie der Kritik und der schaffenden Kraft nicht als Gewaltherrscher,
sondern als ehrliche Helfer zu dienen haben, und daß auch bei ihnen
eine Wandlung und Fortbildung nach den Bedürfnissen der Zeit nicht
ausgeschlossen wird.
Es ist immerhin auffallend, daß die technischen Hilfsregeln früherer
Zeit, nach denen der Schaffende den kunstvollen Bau des Dramas zusammenzufügen
hatte, so selten durch Schrift spätern Geschlechtern überliefert
sind. Zweitausend zweihundert Jahre sind vergangen, seit Aristoteles den
Hellenen einen Teil dieser Gesetze darstellte. Leider ist die Poetik nur
unvollständig auf uns gekommen, das Erhaltene ist vielleicht nur
Auszug, den ungeschickte Hände gemacht haben, es hat Lücken
und verderbten Text, auch scheinen einzelne Kapitel durcheinander geworfen.
Trotz dieser Beschaffenheit ist das Erhaltene für uns von höchstem
Wert, die Altertumswissenschaft verdankt ihm einen Einblick in die verschüttete
Bühnenwelt der Hellenen, in unsern ästhetischen Lehrbüchern
bildet es noch heut die Grundlage für die Theorie der dramatischen
Kunst, auch dem arbeitenden Dichter sind einige Kapitel der kleinen Schrift
belehrend. Denn das Werk enthält außer einer Theorie der dramatischen
Wirkungen, wie sie der größte Denker des Altertums seinen Zeitgenossen
zurechtlegte, und außer mehren Grundsätzen einer volkstümlichen
Kritik, wie sie der gebildete Athener vor neuen Stücken in Anwendung
brachte, auch noch einige feine Handgriffe aus den dramatischen Werkstätten
des Altertums, welche wir für unsere Arbeit sehr vorteilhaft verwenden
können. Im Folgenden wird, soweit der praktische Zweck dieses Buches
erlaubt, davon die Rede sein.
Hundert und zwanzig Jahre sind es, seit Lessing den Deutschen die Geheimschrift
der alten Poetik zu entziffern unternahm. Seine hamburgische Dramaturgie
wurde der Ausgangspunkt für eine volksmäßige Auffassung
des dramatisch Schönen. Und der siegreiche Kampf, welchen er in diesem
Werk gegen die Tyrannei des französischen Geschmacks führte,
wird demselben die Achtung und Liebe der Deutschen auf immer erhalten.
Für unsere Zeit ist der streitende Teil der wichtigste. Wo Lessing
den Aristoteles erklärt, erscheint sein Verständnis des Griechen
unserer Gegenwart, welche mit reicheren Hilfsmitteln arbeitet, nicht überall
genügend; wo er belehrend die Gesetze des Schaffens darlegt, ist
sein Urteil begrenzt durch die enge Auffassung des Schönen und Wirkungsvollen,
in welcher er damals noch selbst stand.
Freilich die beste Quelle für den Gewinn technischer Regeln sind
die Dramen großer Dichter, welche ihren Zauber auf Leser und Zuschauer
noch heut ausüben. Zunächst die griechischen Tragödien.
Wer sich gewöhnt, von den Besonderheiten der alten Form abzusehen,
der findet mit inniger Freude, daß der kunstvollste tragische Dichter
der Athener, Sophokles, die Hauptgesetze des dramatischen Aufbaues mit
einer beneidenswerten Sicherheit und Klugheit verwendet. Für Steigerung,
Höhenpunkt und Umkehr der Handlung - den zweiten, dritten und vierten
Akt unserer Stücke - ist er noch uns ein selten erreichtes Vorbild.
Etwa zweitausend Jahre nach Ödipus auf Kolonos schrieb Shakespeare
das Trauerspiel Romeo und Julie, er die zweite geniale Kraft, welche der
dramatischen Kunst unsterblichen Ausdruck gegeben hat. Er schuf das Drama
der Germanen, seine Behandlung des Tragischen, Anordnung der Handlung,
Art und Weise der Charakterbildung, Darstellung der Seelenvorgänge
haben für die Einleitung des Dramas und für die erste Hälfte
bis zum Höhenpunkt einige technische Gesetze, welche uns noch leiten,
festgestellt.
Auf einem Umwege kamen die Deutschen zur Erkenntnis von der Größe
und Bedeutung seiner Arbeit für uns. Die großen Dichter der
Deutschen, billig die nächsten Muster, an denen wir uns zu bilden
haben, lebten in einer Zeit des geistvollen Anstellens von Versuchen mit
dem Erbe alter Vergangenheit, deshalb fehlt der Technik, welche sie erwarben,
Einiges von der Sicherheit und Folgerichtigkeit der Wirkungen; und gerade
weil das Schöne, das sie gefunden, uns in das Blut übergegangen
ist, sind wir auch verpflichtet, bei der Arbeit Manches von uns abzuwehren,
was bei ihnen auf unfertiger oder unsicherer Grundlage ruht.
Die Beispiele, welche in dem Folgenden herangezogen werden, sind aus Sophokles,
Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller geholt. Denn es war wünschenswert,
die Beispiele auf allbekannte Werke zu beschränken.
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