Edgar Allen Poe


Die Methode der Komposition

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Diese beiden Motive mußte ich nun verbinden: den Liebenden, der um seine verstorbene Geliebte trauert, und einen Raben, der ständig das Wort "Nevermore" wiederholt. Das mußte ich verknüpfen und zugleich meine Absicht bedenken, das Refrain-Wort bei jeder Wiederkehr anders zu gebrauchen; doch die einzig sinnvolle Möglichkeit einer solchen Verknüpfung besteht darin, sich den Raben so vorzustellen, daß er das Wort als Antwort auf die Fragen des Liebenden verwendet. Und eben hier fand ich augenblicklich die Gelegenheit für die Wirkung geboten, auf die es mir angekommen war: nämlich den Effekt der Variation in der Anwendung. Ich erkannte, daß ich die erste Frage des Liebenden - die erste, auf die der Rabe mit "Nevermore" antworten sollte - daß ich diese erste Frage allgemein halten konnte - die zweite etwas weniger - die dritte noch weniger usw. - bis schließlich der Liebende, durch den melancholischen Charakter des Wortes selbst - durch dessen ständige Wiederholung - und durch den Gedanken an den verhängnisvollen Ruf des Vogels, der es ausspricht, aus seiner ursprünglichen nonchalance aufgestört, in abergläubische Erregung gerät und ungestüm Fragen ganz anderer Art stellt - Fragen, deren Lösung ihm leidenschaftlich am Herzen liegt - er stellt sie halb aus Aberglauben und halb aus jener Art von Verzweiflung, die sich in Selbstquälerei, gefällt - er stellt sie nicht so sehr, weil er an das prophetische oder dämonische Wesen des Vogels glaubt (der, wie ihm sein Verstand versichert, nur mechanisch Angelerntes wiederholt), sondern weil es ihm eine wahnwitzige Lust bereitet, seine Fragen so zu fassen, um aus dem erwarteten "Nevermore" die köstlichste, weil unerträglichste Pein zu ziehen. Als ich die Möglichkeit erkannte, die sich mir so bot - oder sich mir eigentlich so im Verlauf des Planes aufgedrängt hatte -, dachte ich mir zuerst die Klimax oder Schlußfrage aus - jene Frage, auf die "Nevermore" die endgültige Antwort sein sollte -, so daß diese Antwort "Nevermore" die denkbar höchste Pein und Verzweiflung mit sich brächte. Und hier, kann man sagen, nahm das Gedicht seinen Anfang - am Ende, wo alle Kunstwerke beginnen sollten - denn eben hier, an diesem Punkt meiner Überlegungen, griff ich zum ersten Mal zur Feder und brachte diese Strophe zu Papier:
"Prophet," said I, "thing of evil! prophet still if bird or devil!
By that heaven that bends above us - by that God we both adore,
Tell this soul with sorrow laden, if within the distant Aidenn,
It shall clasp a sainted maiden whom the angels name Lenore -
Clasp a rare and radiant maiden whom the angels name Lenore."
Quoth the raven "Nevermore."
Ich schrieb diese Strophe zu diesem Zeitpunkt erstens, um durch die Festlegung des Höhepunkts besser die vorangehenden Fragen des Liebenden in Ernst und Bedeutsamkeit variieren und steigern zu können - und zweitens, um endgültig den Rhythmus, das Metrum, die Länge und den allgemeinen Bau der Strophe zu bestimmen - und dazu die vorherigen Strophen so abzustufen, daß keine von ihnen diese letzte an rhythmischer Wirkung überträfe. Hätte ich bei der weiteren Arbeit kraftvolle Strophen bilden können, ich hätte sie ohne Bedenken absichtlich so abgeschwächt, daß sie nicht die Wirkung des Höhepunkts beeinträchtigten.

Hier möchte ich auch gleich einige Worte zur Versifikation sagen. Mein vornehmliches Ziel war (wie üblich) Originalität. Das Ausmaß, in dem diese bei der Versifikation vernachlässigt wird, ist eines der unerfindlichsten Dinge auf Erden. Zugegeben, es gibt wenig Variationsmöglichkeiten beim reinen Rhythmus, doch es ist klar, daß die möglichen Abwandlungen von Metrum und Strophe völlig unzählbar sind - dennoch hat jahrhundertelang kein Mensch in der Lyrik jemals etwas Originales gemacht oder offenbar auch nur daran gedacht, es zu tun. Fest steht, daß Originalität (außer bei besonders kraftvollen Geistern) keineswegs, wie manche meinen, eine Sache des Instinkts oder der Intuition ist. Im allgemeinen läßt sie sich nur durch mühseliges Suchen finden, und sie verlangt, wenngleich von höchstem positivem Wert, für ihre Verwirklichung doch weniger Einfall als Auswahl.

Natürlich beanspruche ich weder für den Rhythmus noch für das Metrum des "Raben" Originalität. Jener ist trochäisch, dieses ein akatalektischer Oktameter, alternierend mit einem katalektischen Heptameter, der sich im Refrain der fünften Zeile wiederholt, und schließend mit einem katalektischen Tetrameter. Weniger pedantisch: der durchgängig gebrauchte Versfuß (der Trochäus) besteht aus einer langen und einer kurzen Silbe; die erste Zeile der Strophe hat acht derartige Takte - die zweite siebeneinhalb (eigentlich siebenzweidrittel) - die dritte acht - die vierte siebeneinhalb - die fünfte desgleichen - die sechste dreieinhalb. Für sich allein nun ist jede dieser Zeilen schon einmal verwandt worden, und was "The Raven" an Originalität besitzt, liegt in ihrer Zusammenstellung zu Strophen; denn nichts, das auch nur entfernt an diese Kombination herankäme, ist jemals versucht worden. Die Wirkung dieser Originalität durch Kombination unterstützen weitere ungewöhnliche und teilweise völlig neue Effekte, die sich aus einer erweiterten Anwendung von Reim- und Alliterationsprinzipien ergeben.

Als nächstes war zu überlegen, wie sich der Liebende und der Rabe zusammenbringen ließen - und die erste Teilfrage galt der Örtlichkeit. Dafür scheinen ein Wald oder das offene Land der natürlichste Einfall zu sein - aber mir zeigte sich stets, daß eine enge Begrenzung des Raums unbedingt für die Wirksamkeit eines abgeschlossenen Vorgangs nötig ist - sie bedeutet das gleiche wie ein Rahmen für ein Bild. Sie bringt den geistigen Nachdruck der gesammelten Aufmerksamkeit ein, und man darf sie natürlich nicht mit der bloßen Einheit des Ortes verwechseln.

Ich entschied mich also, den Liebenden in sein Zimmer zu versetzen - ein Zimmer, das ihm geheiligt ist durch Erinnerungen an Sie, die es oft aufgesucht hatte. Der Raum ist als reich ausgestattet gezeigt - dies ganz in Übereinstimmung mit meinen schon erörterten Vorstellungen über die Schönheit als den einzigen wahren poetischen Gegenstand.

Nachdem so der Ort festgelegt war, mußte ich nun den Vogel einführen - und unvermeidlich stellte sich der Gedanke ein, ihn durch das Fenster kommen zu lassen. Der Einfall, den Liebenden zunächst annehmen zu machen, das Schlagen der Flügel gegen den Laden sei ein "Pochen" an der Tür, entsprang dem Wunsch, durch ein Hinhalten die Neugierde des Lesers zu steigern, und dem Bedürfnis, eine zusätzliche Wirkung daraus hervorgehen zu lassen, daß der Liebende die Tür aufreißt, alles dunkel findet und sich daraufhin dem Wachtraum überläßt, der Geist seiner Geliebten habe angeklopft.

Die Nacht machte ich erstens deshalb stürmisch, um das Einlaß-Heischen des Raben zu begründen, und zweitens um der Wirkung des Kontrasts zu der (physischen) Ruhe im Zimmer willen.

Den Vogel ließ ich auf der Büste der Pallas niedersitzen, ebenfalls um einer Kontrastwirkung zwischen dem Marmor und dem Gefieder willen - es versteht sich, daß der Vogel unbedingt die Büste suggerierte - wobei es zur Büste der Pallas erstens deshalb kam, weil diese am besten zur Gelehrsamkeit der Liebenden paßte, und zweitens um des Wohlklanges im Wort "Pallas" selbst willen.

Ungefähr in der Mitte des Gedichtes habe ich gleichfalls das Gewicht des Kontrastes genutzt, um den Gesamteindruck zu vertiefen. Beispielsweise zeigt der Rabe bei seinem Erscheinen ein phantastisches Verhalten, das sich soweit wie nur angängig dem Lächerlichen nähert. Er tritt auf, "with many a flirt and flutter".
Not the least obeisance made be - not a moment stopped or stayed he,
But with mien of lord or lady, perched above my chamber door.
In den beiden folgenden Strophen ist die Absicht deutlicher ausgeführt:
Then this ebony bird beguiling my sad fancy into smiling
By the grave and stern decorum of the countenance it wore,
"Though thy crest be shorn and shaven thou," I said, "art sure no craven,
Ghastly grim and ancient Raven wandering from the nightly shore -
Tell me what thy lordly name is on the Night's Plutonian shore?"
Quoth the Raven "Nevermore."

Much I marvelled this ungainly fowl to hear discourse so plainly
Though its answer little meaning - little relevancy bore;
For we cannot help agreeing that no living human being
Ever yet was blessed with seeing bird above his chamber door -
Bird or beast upon the sculptured bust above his chamber door,
With such name as "Nevermore."
Nachdem so der Schlußeffekt vorbereitet ist, lasse ich sofort das Phantastische zugunsten einer tiefernsten Tonart fallen: diese setzt in der Strophe unmittelbar nach der zuletzt zitierten mit der Zeile ein:
But the Raven sitting lonely on that placid bust spoke only, etc.
Nach dieser Wende scherzt der Liebende nicht mehr - sieht er nicht einmal mehr etwas Phantastisches im Gebaren des Raben. Er nennt ihn einen "grim, ungainly, ghastly, gaunt, and ominous bird of yore" und spürt, wie sich seine "fiery eyes" ihm in des "bosom's core" brennen. Dieser Umschwung im Denken und in der Vorstellung des Liebenden ist darauf angelegt, einen gleichen im Leser hervorzurufen - ihn in die richtige geistige Verfassung für das dénouement zu bringen - das nun so rasch und direkt wie möglich herankommt.

Mit dem eigentlichen dénouement - mit der Antwort des Raben "Nevermore" auf die letzte Frage des Liebenden, ob er seine Geliebte in einer anderen Welt wiedersehen werde - kann das Gedicht in seinem äußeren Vorgang, dem einer einfachen Schilderung, als abgeschlossen gelten. Bis hier bleibt alles in den Grenzen des Erklärbaren - des Wirklichen. Einen Raben, auf das Wort "Nevermore" dressiert und aus der Obhut seines Besitzers entflohen, treibt ein wütender Sturm, um Mitternacht Einlaß durch ein Fenster zu suchen, hinter dem noch Licht schimmert - das Fenster eines Gelehrten, der über einem Buch träumerischen Erinnerungen an eine verstorbene Geliebte nachhängt. Nachdem er auf den Flügelschlag des Vogels hin das Fenster geöffnet hat, läßt sich der Vogel auf dem günstigsten Platz außer Reichweite des Gelehrten nieder, der ihn, erheitert von dem Vorfall und von dem wunderlichen Betragen seines Besuchers, im Scherz und ohne eine Antwort zu erwarten, nach seinem Namen fragt. Der also angeredete Vogel antwortet mit seinem eingelernten Wort "Nevermore" - ein Wort, das sogleich im melancholischen Gemüt des Gelehrten ein Echo findet; und wie dieser aus der Situation geborene Gedanken artikuliert, verschreckt ihn abermals das wiederholte "Nevermore" des Vogels. Der Gelehrte errät zwar den Sachverhalt, aber, wie ich schon erläutert habe, das menschliche Verlangen nach Selbstquälerei und teilweise auch der Aberglaube treiben ihn dazu, dem Vogel solche Fragen zu stellen, daß sie ihm, dem Liebenden, durch die erwartete Antwort "Nevermore" ein Übermaß an Pein einbringen. Mit der extremen Befriedigung dieser Selbstquälerei findet die Schilderung in dem, was ich als ihren ersten oder äußeren Vorgang bezeichnet habe, ihren natürlichen Abschluß, und bis hier sind die Grenzen des Wirklichen nicht überschritten.

Doch derart, wenn auch noch so geschickt oder in der Anordnung der Vorkommnisse noch so lebhaft behandelte Gegenstände behalten stets eine gewisse Härte oder Nacktheit, die den künstlerischen Blick stören. Zweierlei ist unabänderlich nötig: erstens ein gewisses Maß an Vielseitigkeit, oder eigentlich Schmiegsamkeit; und zweitens ein gewisses Maß an Mehrdeutigkeit - eine, wenn auch noch so unbestimmte, Unterströmung an Bedeutung. Und zumal diese verleiht einem Kunstwerk so viel von dem Reichtum (um ein prägnantes Wort der Umgangssprache zu verwenden), den wir nur zu gern mit dem Idealischen verwechseln. Eben das Übermaß an nahegelegter Bedeutung - wenn sie zur Ober- statt zur Unterströmung der Thematik wird - verwandelt die sogenannte Poesie der sogenannten Transzendentalisten in Prosa (und zwar von plattester Art).

Gemäß diesen Ansichten fügte ich dem Gedicht die beiden abschließenden Strophen an - und gab ihnen eine Mehrdeutigkeit, die die ganze vergangene Schilderung in einem neuen Licht erscheinen läßt. Die Unterströmung an Bedeutung tritt zum ersten Mal in diesen Versen zutage:
"Take thy beak from out my heart, and take
thy form from off my door!"
Quoth the Raven "Nevermore!"
Es fällt auf, daß die Worte "from out my heart" den ersten metaphorischen Ausdruck des Gedichts bringen. Sie bestimmen, zusammen mit der Antwort "Nevermore", das Denken dazu, in allem bisher Geschilderten eine tiefere Bedeutung zu suchen. Der Leser beginnt den Raben als sinnbildlich zu verstehen - doch erst in der letzten Zeile der letzten Strophe läßt sich die Absicht, ihn zum Sinnbild trauervoller und nie endender Erinnerung zu machen, eindeutig erkennen.

And the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting,
On the pallid bust of Pallas, just above my chamber door;
And his eyes have all the seeming of a demon's that is dreaming,
And the lamplight o'er him streaming throws his shadow on the floor;
And my soul from out that shadow that lies floating on the floor
Shall be lifted - nevermore.
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