Gedicht als Metapher

Paul Celan, Flutender (aus: Atemwende 1967)

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An dieser Stelle angesprochene Probleme der Interpretation:
Problematik der Neologismen
Abgrenzung der "Normalbedeutung"
Ambivalenz oder Ambiguität
Strophe, in der modernen Lyrik eine häufig sehr eigenwillig verwendete Ordnung
Farbwerte

Alle Begriffsbestimmungen sind dem Duden Bedeutungswörterbuch entnommen, wenn nichts anderes vermerkt ist.

Flutender: Begriff der Bewegung
Groß -
zelliger :

Durch den Gedanken- oder Trennstrich wird der Begriff, den wir erwarten "großzelliger" in zwei Bestandteile gesplittet. Aus diesem Grunde können wir nicht einfach davon ausgehen, daß der "Schlafbau" großzellig ist, sondern daß er selber auch groß sein kann und aus Zellen besteht. In diesem Falle würde keine Aussage über die Zellen als solche gemacht. Da dieser Begriff jedoch in einem abgegrenzten Teil (traditionell Strophe) steht, müssen wir beide Möglichkeiten realisieren.

Schlafbau: Es kann sich um einen Bau handeln, in dem man schläft, oder der selber schläft.

Dieser "Schlafbau" hat "Zwischenwände", die von "Graugeschwadern" befahren werden.

Ohne zu wissen, was "Graugeschwader" sein mögen, kann man nach dem Duden Bedeutungswörterbuch sagen: "Geschwader = Verband von Kriegsschiffen oder Kampfflugzeugen".

Da sich im Text kaum weitere Hinweise auf Krieg finden lassen, können wir diese Bedeutungsebene erst einmal vernachlässigen, auch die Flugzeuge können wir auf diese Art ausscheiden (Flugzeuge fliegen auch eher, als daß sie fahren). Es bleiben Schiffe, die in einer bestimmten Ordnung fahren. Diese Festlegung als Schiffe wird auch in der zweiten Strophe noch durch "Kähne" gestützt, die auch selten als Kriegsschiffe verwendet werden.

In diesem Verband (Geschwader) befinden sich "Buchstaben", sie sind als Teile des Geschwaders aufzufassen, denn sie 'scheren aus', das heißt, sie verlassen die Ordnung, sie müssen also dazugehören, aber sie verhalten sich nicht nach den Regeln.

"Kähne" sind kleine Ruderboote oder auch kleine Boote, um Lasten zu transportieren. Also nichts Besonderes.

Die Kähne sind Buchstaben, und diese sind 'traumdicht'.

Diese Verbindung von 'Traum' und 'dicht' finden wir auch nicht im Wörterbuch, es scheint sich ebenso wie bei "Schlafbau" und "Graugeschwader" um eine Prägung von Celan zu handeln, also um einen 'Neologismus'. Die Einzelteile dieses Neologismus können wir in Verbindung mit Kähnen erklären.

Wenn nichts in etwas eindringen kann - in ein Boot normalerweise Wasser- nennen wir es 'wasserdicht', in diesem Falle aber sind die Kähne 'traumdicht', es können also keine Träume eindringen.

Warum nun, wenn diese Kähne Buchstaben sind, in sie keine Träume eindringen können, erklärt sich aus den nächsten Hinweisen zu ihnen.

Sie tragen einen "Teil des Zeichens im Schlepptau". Wenn wir Zeichen wieder dem Duden gemäß ansehen, dann ist Zeichen: "etwas, Wahrnehmbares, was etwas ausdrücken soll". Zeichen haben also eine Bedeutung.

Demgegenüber ist ein Buchstabe: "Zeichen einer Schrift, das einem Laut entspricht." Der Buchstabe an sich hat also keine Bedeutung. Erst mehrere Buchstaben, zu einem Wort oder Satz verbunden, haben eine Bedeutung. Wie der Duden schreibt: "Bedeutung, das durch ein Zeichen, ein Wort o. ä. hervorgerufene Wissen eines Zusammenhangs; Sinn, Inhalt."

Wir müssen jetzt einen gedanklichen Sprung machen, um zum Sinn des Gedichtes vorstoßen zu können. Unsere Untersuchung hat bis jetzt gezeigt, daß unser Text etwas mit Sprache zu tun hat.

Wenn die Graugeschwader aus ähnlichen Fahrzeugen bestehen, was bei einem Geschwader wahrscheinlich ist, dann sind die, die nicht 'ausscheren', wohl Worte oder auch Sätze. Denn Wörter und Sätze haben im Gegensatz zu Buchstaben eine Bedeutung und folgen bestimmten Regeln.

Da diese 'Kähne', die Buchstaben, auch noch 'traumdicht' sind, in sie also keine Träume eindringen können, können Träume im Umkehrschluß wohl in Wörter und Sätze eindringen, was wahrscheinlich kaum jemand bestreiten möchte. Da wir meist im Schlaf träumen, wird der 'Schlafbau' wohl damit etwas zu tun haben. Danach kann der 'Schlafbau' die Umgebung sein, in der geträumt wird - also das Gehirn, worauf auch die Zellen ein Hinweis sind.

Bleiben wir bei dieser Vorstellung, können wir auch etwas mit dem 'Grau' aus 'Graugeschwader' anfangen.

Farben haben neben ihrem Farbwert noch einen Gefühlswert. Grün ist z. B. die Hoffnung, Rot die Liebe. Bei Grau finden wir, daß es als Gefühlswert nicht so eindeutig ist, was dem Farbwert, der "zwischen schwarz und weiß" liegt, entspricht. Es wird etwa in der Bedeutung "trostlos, öde" verwendet ("der graue Alltag, alles grau in grau sehen"), aber auch als etwas Unbestimmtes ("graue Vorzeit"). Dieses Unbestimmte wird auch deutlich in den Farbzusammenstellungen: "graublau, zwischen grau und blau liegend" und "graubraun, zwischen braun und grau liegend".

Welche dieser beiden Bedeutungsebenen wir auf unser Gedicht anwenden können, müssen wir erproben. Entweder stimmt das Öde, Trostlose oder das Unbestimmte, oder Beides mit unserem Text überein.

Beziehen wir Grau auf Träume, die häufig sehr unbestimmt sind, haben wir die eine Bedeutungsebene realisiert.

Nehmen wir das 'geierkrallige Schlepptau hinzu' - haben wir eine negative Bestimmung vor uns, denn der Geier wird fast immer negativ gesehen (Aasfresser), was natürlich nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.

Das 'Geierkrallig' gehört zu den Buchstaben und nicht zu dem Rest der Graugeschwader, so daß wir für die Graugeschwader die negative Komponente ausschließen können. Es bleibt die Unbestimmtheit, die Unbestimmtheit der Träume.

Stellen wir uns jetzt den Vorgang des Träumens als ein Hinabsinken von Bedeutungen (Zeichen ) in das Gedächtnis (das Gehirn, den 'Schlafbau') vor, dann wird deutlich, warum die Graugeschwader die 'Zwischenwände' befahren. Zwischenwände sind etwas Trennendes, aber dies innerhalb einer Einheit. Die Graugeschwader erreichen somit alle Teile des Schlafbaus.

Konfrontieren wir nun das Negative der Buchstaben mit dem Unbestimmten der Träume, so finden wir den Vorgang des Träumens, in Bezug gesetzt zu der Bestimmtheit von Wörtern und Sätzen. Fassen wir diesen Vorgang als den Vorgang des Denkens auf, dann steht das Regelsystem der Sprache gegen die Individualität des Träumens.

In unserem Gedicht findet somit ein Streit zwischen der Regelhaftigkeit der Sprache und der Individualität des Denkens (Träumens) statt, da die Buchstaben Teile der Bedeutung "des Zeichens" noch im Schlepptau haben, was im Text als negativ gesehen wird ("geierkrallig"). Und da dieses "Zeichen" noch in das Gehirn eindringen muß ("noch zu versenkende ..."), ist ohne diesen Vorgang der Gedankengang oder der Traum noch nicht vollständig.

Was es jetzt mit diesem Vorgang auf sich hat, können wir mit dem Wort "Flutender", das wir bis jetzt noch nicht genau betrachtet haben, klären.

Fluten ist ein natürlicher Vorgang, der kaum von Menschen geregelt werden kann, wie wir immer wieder bei Überschwemmungen sehen können. Die Bedeutungsebene, "in etwas eindringen" können wir vernachlässigen, da der Schlafbau selber 'flutet', also in einer unwiderstehlichen Bewegung ist. Dieses Fluten wird also, wenn wir den Schlafbau als Gehirn sehen, das Denken sein. Somit können wir den im Gedicht dargestellten Vorgang als den Vorgang des individuellen Denkens ansehen. Das individuelle Denken wird im Text als das Natürliche - im Gegensatz zu dem regelgeleiteten der Sprache gesehen. Positiv hingegen wird dieser Vorgang, wenn wir ihn als den 'normalen' Vorgang des Denkens sehen. Dann ist dieser Widerstreit im ganzen gesehen das Denken. Wie die Wörter und Sätze nicht ohne Buchstaben zu denken sind, so sind auch Gedanken und Träume ohne sie nur schwer vorstellbar. Der Widerstand der Regeln bringt geradezu den Gedanken hervor.


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© Jürgen Matoni
Stand: November 1998