Denis Diderot


Genie

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Genie (Literatur und Philosophie) Band VII der Enzyklopädie 1757.
Ausgabe der Werke Diderots von J. Assézat. Paris 1875 - 1877, Bd. XV, S. 35 - 41.

Geistige Weite, Einbildungskraft und seelische Regsamkeit: all das zusammen bedeutet 'Genie'. Von der Weise, wie man seine Ideen empfängt, hängt die Weise ab, wie man sie sich ins Gedächtnis zurückruft. Der in die Welt geworfene Mensch empfängt mit mehr oder weniger lebhaften Empfindungen Ideen von allen Dingen. Die meisten Menschen bekommen lebhafte Empfindungen nur durch den Eindruck von den Gegenständen, die eine unmittelbare Beziehung zu ihren Bedürfnissen, ihrer Neigung usw. haben. Alles, was ihren Leidenschaften fremd ist, und alles, was ihrer Daseinsweise nicht verwandt ist, wird von ihnen entweder gar nicht wahrgenommen oder nur einen Augenblick gesehen, aber nicht empfunden; und dann für immer vergessen.

Genial ist der Mensch, dessen Seele die größte Weite hat, also von allen Dingen Empfindungen erfährt, Anteil an allem nimmt, was in der Natur existiert, und deshalb keine Idee empfängt, ohne daß in der Seele ein Gefühl geweckt wird. Alles belebt die Seele und bleibt darin bewahrt.

Ist die Seele vom Gegenstand selbst affiziert worden, so wird sie auch durch die Erinnerung an ihn affiziert. Beim 'genialen' Menschen aber geht die Einbildungskraft darüber hinaus: er erinnert sich der Ideen mit einem Gefühl, das lebhafter ist als dasjenige, das er beim Empfangen der Ideen hatte, weil sich mit diesen Ideen tausend andere verbinden, die noch geeigneter sind, das Gefühl hervorzurufen. Ist das 'Genie' von Gegenständen umgeben, mit denen es sich beschäftigt, so erinnert es sich nicht, sondern schaut; doch beschränkt es sich nicht auf das Schauen, sondern wird dadurch bewegt. In der Stille und Dunkelheit des Arbeitszimmers genießt es den Anblick einer lachenden und fruchtbaren Landschaft, wird es eiskalt vom Heulen des Sturmes, wird es heiß unter der glühenden Sonne, erschrickt es vor dem Unwetter. Die Seele gefällt sich oft in solchen plötzlichen Affektionen; sie bereiten ihr ein Vergnügen, das ihr köstlich erscheint; sie gibt sich allem hin, was dieses Vergnügen steigern kann; sie möchte den Phantomen, die ihr Werk sind und die sie entzücken oder belustigen, Gestalt durch echte Farben und unauslöschliche Umrisse geben.

Wenn sie einige dieser Gegenstände, die sie bewegen, malen will, so verlieren die Dinge manchmal ihre Mängel. In ihre Bilder geht nur das Erhabene und Erfreuliche ein. In diesem Fall malt das 'Genie' nur das Schöne. Ein andermal sieht die Seele in tragischen Ereignissen nur die schrecklichsten Umstände, und in diesem Augenblick verteilt das 'Genie' die düstersten Farben, die wirkungsvollsten Ausdrücke der Klage und des Schmerzes, beseelt dadurch den Gegenstand und färbt den Gedanken. In der glühenden Begeisterung beherrscht es nicht mehr die Natur und Folgerichtigkeit seiner Ideen; es wird in die Lage der Personen versetzt, die es handeln läßt, und nimmt dabei ihren Charakter an. Wenn es im höchsten Grade heroische Leidenschaften empfindet, so zum Beispiel die Zuversicht einer großen Seele, die das Gefühl ihrer eigenen Kräfte über jede Gefahr erhebt, oder die bis zur Selbstvergessenheit gesteigerte Vaterlandsliebe, dann bringt es das Erhabene hervor: den Ausruf der Medea: „Ich habe es getan“, den Ausspruch des greisen Horatius: „Er sterbe...“, die Erklärung des Brutus: „Konsul bin 'ich'!“ Wird das 'Genie' von anderen Leidenschaften hingerissen, so läßt es die Hermione fragen: „Wer hat dir das verraten?“ oder den Orosman sagen: „Ich ward geliebt“ oder den Thyestes ausrufen: „Ich erkenne meinen Bruder!“

Diese Begeisterungsfähigkeit gibt das sachgemäße Wort ein, wenn es kraftvoll ist; oft opfert sie es auch kühnen Bildern; sie inspiriert zum täuschenden Wohlklang, zu Vergleichen aller Art, zu lebhaftesten Zeichen und zu täuschenden Lauten ebensooft wie zu charakteristischen Worten.

Die Einbildungskraft nimmt verschiedene Formen an; sie verleiht diesen Formen verschiedene Eigenschaften, die den Charakter der Seele formen. Manche Leidenschaften, die Mannigfaltigkeit der Umstände, gewisse Eigenschaften des Geistes geben der Einbildungskraft eine besondere Richtung; die Seele erinnert sich aber nicht aller ihrer Ideen mit Gefühl, weil nicht immer Beziehungen zwischen ihr und den Dingen bestehen.

Das 'Genie' ist nicht immer 'Genie'. Manchmal ist es eher liebenswürdig als erhaben; es empfindet dabei an den Gegenständen weniger das Schöne als das Anmutige und malt das Anmutige. Es empfindet weniger Entzückung als sanfte Rührung und läßt diese nachempfinden.

Zuweilen ist im 'genialen' Menschen die Einbildungskraft auf das Heitere eingestellt; dann beschäftigt sie sich mit kleinen menschlichen Schwächen, gewöhnlichen Fehlern und Torheiten. Das Gegenteil der Ordnung erscheint ihr nur lächerlich, aber auf so neue Weise, als ob der Blick des 'Genies' das Lächerliche in den Gegenstand gebracht hätte, obgleich er es an diesem doch nur entdeckt. Die auf das Heitere eingestellte Einbildungskraft des 'Genies' erweitert den Bereich des Lächerlichen, und während die Menge es in all dem erblickt und empfindet, was die bestehenden Bräuche verletzt, entdeckt und empfindet das 'Genie' es in dem, was die Weltordnung verletzt.

Der Geschmack ist oft getrennt vom 'Genie'. Das 'Genie' ist ein reines Geschenk der Natur. Was es hervorbringt, ist das Werk eines Augenblicks. Der Geschmack dagegen ist das Produkt des Studiums und der Zeit; er legt Wert auf die Kenntnis einer Menge von feststehenden oder vorausgesetzten Regeln; er bringt nur Schönes hervor, das herkömmlich ist. Soll eine Sache schön nach den Regeln des Geschmackes sein, so muß sie geschliffen, vollendet, ausgearbeitet sein, ohne so zu scheinen. Soll sie 'genial' sein, so muß sie zuweilen nachlässig sein und unregelmäßig, zerklüftet, wild aussehen. Das Erhabene und das Geniale blitzen bei Shakespeare wie in tiefer Nacht auf; doch Racine ist immer schön, Homer reich an 'Genie' und Virgil reich an Anmut.

Die Regeln und Gesetze des Geschmacks würden dem 'Genie' Fesseln anlegen; es sprengt sie, um sich zum Erhabenen, zum Ergreifenden, zum Großartigen aufzuschwingen. Die Liebe zu diesem Ewigschönen, das so bezeichnend für die Natur ist, und das leidenschaftliche Verlangen, die eigenen Bilder irgendeinem Modell anzugleichen, das sich das 'Genie' geschaffen hat und mit dem seine Ideen und Gefühle des Schönen in Einklang stehen, bilden den Geschmack des Mannes von 'Genie'. Das Bedürfnis nach dem Ausdruck der Leidenschaften, die ihn bewegen, wird durch die Gesetze der Sprache und durch die Sitte fortwährend gehemmt. Oft sträubt sich die Sprache, in der er schreibt, gegen den Ausdruck eines Bildes, das in einer anderen Sprache erhaben wäre. Homer konnte nicht in einer einzigen Mundart die notwendigen Ausdrücke für sein Genie finden; Milton verletzt in jedem Augenblick die Regeln seiner Sprache und sucht nach wirkungsvollen Ausdrücken in drei oder vier anderen Sprachen. Kurz: Kraft und Fülle, irgend etwas Schroffes, das Unregelmäßige, das Erhabene, das Ergreifende, das alles ist in den Künsten charakteristisch für das 'Genie'. Es rührt nicht oberflächlich, es gefällt nicht, ohne Erstaunen hervorzurufen, und erregt auch Erstaunen durch seine Fehler.

In der Philosophie, in der man vielleicht immer strenge Aufmerksamkeit, Zurückhaltung und Überlegung üben muß - Dinge, die sich mit glühender Einbildungskraft kaum vereinbaren, geschweige denn mit der Zuversicht, die das 'Genie' gibt -, ist der Weg des 'Genies' ebenso eigenartig wie in den Künsten: es verbreitet in ihr häufig glänzende Irrtümer, erzielt zuweilen aber auch große Erfolge. In der Philosophie muß man das Wahre emsig suchen und es geduldig erwarten. Da braucht man Menschen, die Herr über die Ordnung und Aufeinanderfolge ihrer Ideen sind und ihre Kette verfolgen oder unterbrechen können, um zu folgern oder zu zweifeln; da bedarf es der Forschung, der Erörterung, der Bedächtigkeit, und solche Eigenschaften besitzt man weder im Aufruhr der Leidenschaften noch im Ungestüm der Einbildungskraft. Eigentümlich sind sie dem forschenden Geist, der sich beherrscht und keine Wahrnehmung empfängt, ohne sie mit einer anderen Wahrnehmung zu vergleichen; der das sucht, was verschiedene Gegenstände gemeinsam haben, und das, was sie voneinander unterscheidet; der Schritt für Schritt einen großen Zwischenraum durchmißt, um weit auseinanderliegende Ideen in Zusammenhang zu bringen; der einen besonderen Gegenstand aus der Menge der gleich- oder verschiedenartigen Gegenstände herauszugreifen versteht, um die besonderen, feinen, flüchtigen Verbindungen zwischen einigen verwandten Ideen oder deren Gegensatz und Kontrast zu erfassen; der gleichsam ein Mikroskop auf einen unsichtbaren Punkt einstellt und irgend etwas erst dann genau gesehen zu haben glaubt, wenn er es lange betrachtet hat. Solche Menschen gehen von Beobachtungen zu Beobachtungen über, kommen zu richtigen Folgerungen und finden nur natürliche Analogien. Die Wißbegierde ist ihr Antrieb, die Wahrheitsliebe ihre Leidenschaft; der Wunsch nach der Entdeckung des Wahren ist bei ihnen ein beständiger Wille, der sie beseelt, ohne sie zu erhitzen, und ihren Gang lenkt, dessen Richtigkeit die Erfahrung bestätigen muß.

Auf das 'Genie' wirkt alles ein, und wenn es nicht sofort seinen Gedanken ganz hingegeben ist und von der Begeisterung überwältigt wird, forscht es sozusagen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Durch die Eindrücke, die ihm die Gegenstände machen, wird es genötigt, sich unaufhörlich mit Kenntnissen zu bereichern, die es nichts gekostet haben. Es wirft allgemeine Blicke auf die Natur und dringt in ihre Abgründe ein. Es sammelt in seinem Schoß unsichtbare Keime, die unbemerkt in diesen eingehen und im Laufe der Zeit so überraschende Wirkungen hervorbringen, daß es selbst in die Versuchung kommt, sich für inspiriert zu halten; dennoch hat es Freude an Beobachtungen, beobachtet aber im Nu einen großen Raum und eine Vielzahl von Dingen.

Die Bewegung, die sein natürlicher Zustand ist, ist zuweilen. so sanft, daß es sie kaum bemerkt. Meistens ruft diese Bewegung jedoch Stürme hervor, und das 'Genie' wird eher von einem reißenden Strom von Ideen ergriffen, als daß es freiwillig ruhigen Betrachtungen nachhängt. Bei dem Menschen, den die Einbildungskraft beherrscht, werden die Ideen durch die Umstände und durch das Gefühl verbunden: er sieht abstrakte Ideen oft nur in ihrer Beziehung zu sinnlichen Ideen. Er gibt den Abstraktionen ein eigenes Dasein, unabhängig von dem Geist, der sie gebildet hat; er verleiht seinen Phantomen Gestalt, seine Begeisterung wächst beim Anblick der eigenen Schöpfungen, das heißt seiner neuen Kombinationen, dieser einzigartigen Schöpfungen des Menschen. Da er vom Strom seiner Gedanken fortgerissen wird, ganz in der Möglichkeit aufgeht, sie zu verbinden, und zum Schaffen genötigt wird, findet er tausend blendende Beweise und kann sich doch von keinem überzeugen. Er errichtet kühne Gebäude, in denen die Vernunft gewiß nicht wohnen möchte und die ihm durch ihre riesigen Ausmaße, nicht aber durch Festigkeit gefallen. Er bewundert seine Systeme, wie er den Entwurf einer Dichtung bewundern würde; er nimmt sie als schöne Systeme an und bildet sich dabei ein, er liebe sie als wahre Systeme.

Das Wahre oder das Unwahre in philosophischen Erzeugnissen ist kein Unterscheidungsmerkmal für das 'Genie'.

Es gibt sehr wenige Irrtümer bei Locke und zu wenige Wahrheiten bei Shaftesbury: der erste ist allerdings nur ein umfassender, durchdringender und richtig urteilender Geist, der zweite dagegen ein außergewöhnliches 'Genie'. Locke hat beobachtet, Shaftesbury geschaffen, gebaut und erbaut. Wir verdanken Locke große, kühl erkannte, methodisch verfolgte, nüchtern verkündete Wahrheiten und Shaftesbury glänzende, oft kaum begründete, aber an erhabenen Wahrheiten reiche Systeme. Selbst in den Momenten seines Irrtums gefällt und bezwingt er noch durch den Zauber seiner Beredsamkeit.

Das 'Genie' beschleunigt indes die Fortschritte der Philosophie durch die glücklichsten und am wenigsten erwarteten Entdeckungen. Mit Adlerflug erhebt es sich zu einer leuchtenden Wahrheit, einer Quelle von tausend Wahrheiten, zu denen später die vorsichtige Menge der klugen Beobachter gewissermaßen auf allen Vieren gelangt. Aber neben dieser leuchtenden Wahrheit errichtet das 'Genie' die Gebäude seiner Einbildungskraft: es ist nicht fähig, den vorgeschriebenen Weg zu gehen und alle Etappen Schritt für Schritt zurückzulegen, sondern es geht von einem Punkt aus und stürmt auf das Ziel los; es entreißt der Finsternis ein furchtbares Prinzip, verfolgt aber selten die Kette der Konsequenzen; es ist, um einen Ausdruck Montaignes zu gebrauchen, „sprunghaft“. Es stellt sich mehr vor, als es gesehen hat, bringt mehr hervor, als es entdeckt, und reißt mehr mit, als es führt. 'Genie' hat Menschen wie Platon, Descartes, Malebranche, Bacon, Leibniz beseelt. Je nachdem bei diesen großen Männern die Einbildungskraft mehr oder weniger vorherrschte, brachte es glänzende Systeme hervor oder führte zur Entdeckung großer Wahrheiten.

In der unermeßlichen, noch nicht ergründeten Wissenschaft von der Regierung sind der Charakter und die Wirkungen des 'Genies' ebenso leicht zu erkennen wie in den Künsten und in der Philosophie. Doch ich bezweifle, ob das 'Genie', das so oft erfaßt hat, auf welche Weise die Menschen in gewissen Zeiten geführt werden müssen, selbst fähig ist, sie zu führen. Gewisse Eigenschaften des Geistes sowie gewisse Eigenschaften des Herzens hängen mit gewissen anderen zusammen und schließen fernere aus. Alles an den großen Männern zeigt auch Schwächen oder Grenzen an.

Ist die Kaltblütigkeit, diese Eigenschaft, die für die Regierenden so notwendig ist - und ohne die man nur selten die Mittel auf die Umstände richtig anwenden könnte, Inkonsequenzen unterworfen wäre und keine Geistesgegenwart hätte: ist die Kaltblütigkeit, die die Tätigkeit der Seele, ja der Vernunft unterwirft und uns bei allen Ereignissen vor Furcht, Trunkenheit, Überstürzung bewahrt, nicht eine Eigenschaft, die in den von der Einbildungskraft beherrschten Menschen nicht bestehen kann? Widerspricht diese Eigenschaft nicht unbedingt dem 'Genie'? Dieses hat seine Quelle in einer außerordentlichen Sensibilität, die es empfänglich für eine Menge neuer Eindrücke macht, durch die es von seiner Hauptabsicht abgelenkt und zwangsläufig so weit gebracht werden kann, daß es das Geheimnis verletzt, die Gesetze der Vernunft überschreitet und durch die Ungleichmäßigkeit seiner Haltung die Macht verspielt, die es durch überlegene Einsicht hätte gewinnen können. Die Männer von 'Genie', die nicht umhinkönnen, alles zu empfinden, die durch ihre Neigungen und Abneigungen bestimmt und durch tausend Gegenstände abgelenkt werden, die zu viel ahnen, aber zu wenig voraussehen, die ihre Wünsche und Hoffnungen maßlos übertreiben und unaufhörlich etwas zur Wirklichkeit der Dinge hinzufügen oder etwas von ihr wegnehmen, erscheinen mir eher dazu geschaffen, Staaten zu stürzen oder zu gründen, als sie zu erhalten, und auch mehr dazu, die Ordnung wiederherzustellen, als sie zu befolgen.

Bei den Staatsgeschäften wird das 'Genie' durch die Umstände, die Gesetze und die Sitten nicht mehr gefesselt als in den schönen Künsten durch die Regeln des Geschmacks und in der Philosophie durch die Methode. Es gibt Augenblicke, in denen das 'Genie' sein Vaterland rettet, obgleich es, wenn es die Macht behielte, dieses später wieder zugrunde richten würde. In der Politik sind Systeme gefährlicher als in der Philosophie: die Einbildungskraft, die den Philosophen irreführt, verleitet ihn nur zu Irrtümern; aber die Einbildungskraft, die den Staatsmann irreführt, verleitet ihn dazu, schwere Fehler zu begehen und die Menschen unglücklich zu machen.

Im Krieg und im Staatsrat möge das 'Genie', gleich der Gottheit, die Vielzahl der Möglichkeiten schnell überblicken, die beste erkennen und sie verwirklichen; doch soll es nicht lange die Staatsgeschäfte führen, bei denen Aufmerksamkeit, Findigkeit und Beharrlichkeit notwendig sind. Mögen Alexander und Condé am Tage der Schlacht die Lage meistern und inspiriert erscheinen in den Momenten, in denen die Zeit für die Überlegung fehlt und der erste Gedanke der beste sein muß. Mögen sie entscheiden in den Augenblicken, in denen es darauf ankommt, die Beziehungen zwischen einer Stellung und einer Bewegung der eigenen Streitkräfte, die Lage des Feindes und das Ziel, das man sich setzt, mit einem Blick zu erkennen. Turenne und Marlborough sollen ihnen jedoch vorgezogen werden, wenn es gilt, die Operationen eines ganzen Feldzuges zu leiten.

In den Künsten, den Wissenschaften und den Staatsgeschäften scheint das 'Genie' die Natur der Dinge zu ändern; sein Charakter überträgt sich auf alles, was es anpackt, und seine weit über das Vergangene und das Gegenwärtige hinausgehende Einsicht erhellt die Zukunft; es eilt seinem Jahrhundert voraus, da es ihm nicht zu folgen vermag; es läßt den Geist hinter sich, der es mit Recht kritisiert, aber in seinem gleichmäßigen Gang nie aus der Einförmigkeit der Natur herauskommt. Das 'Genie' wird von dem Menschen, der es definieren will, besser empfunden als erkannt. Es sollte selbst sprechen. Und dieser Artikel, den vielleicht nicht ich hätte schreiben sollen, müßte das Werk eines jener außergewöhnlichen Menschen* sein, der unserem Jahrhundert Ehre macht und der, um das 'Genie' erkennen, nur sich selbst zu betrachten braucht.

* Zum Beispiel Herr von Voltaire

Handwerker und Künstler (Band I der Enzyklopädie, 1751)

J. Assézat, Band XIII, S. 373

Handwerker nennt man die Arbeiter, die jene mechanischen Künste ausüben, die am wenigsten Intelligenz voraussetzen. Man sagt von einem guten Schuhmacher, er sei ein tüchtiger 'Handwerker', und von einem geschickten Uhrmacher, er sei ein großer 'Künstler'.

'Künstler' nennt man die Arbeiter, die Hervorragendes in jenen mechanischen Künsten leisten, die Intelligenz voraussetzen, und auch diejenigen, die in gewissen, halb praktischen und halb spekulativen Wissenschaften den praktischen Teil sehr gut verstehen. So sagt man von einem Chemiker, der die von anderen erfundenen Verfahren geschickt durchzuführen versteht, er sei ein tüchtiger 'Künstler'. Nur bedeutet das Wort 'Künstler' im ersten Fall immer ein Lob und im zweiten Fall beinahe einen Tadel - nämlich den Tadel, daß man nur den untergeordneten Teil seines Berufes beherrsche.
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