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Gustav Freytag


Die Technik des Dramas

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Kapitel 1

4. Wahrscheinlichkeit der Handlung

Die Handlung des ernsten Dramas soll wahrscheinlich sein.

Die poetische Wahrheit wird einem der Wirklichkeit entnommenen Stoff dadurch zuteil, daß derselbe, dem zufälligen Zusammenhange enthoben, einen allgemeinverständlichen Inhalt und Bedeutung erhält. In der dramatischen Poesie wird dies Umwandeln der Wirklichkeit in poetische Wahrheit dadurch hervorgebracht, daß die Hauptsachen durch eine ursächliche Verbindung zu innerer Einheit verbunden und alle Nebenerfindungen als wahrscheinliche und glaubliche Momente der dargestellten Begebenheiten. begriffen werden. Aber nicht diese poetische Wahrheit allein ist im Drama nötig. Der Genießende gibt sich zwar der Erfindung des Dichters willig hin, er läßt sich Voraussetzungen eines Stückes gern gefallen und ist im ganzen sehr geneigt, dem erfundenen menschlichen Zusammenhang in der Welt des schönen Scheins beizustimmen; aber er vermag doch nicht ganz die Wirklichkeit zu vergessen, er hält an das poetische Gebilde, welches reizvoll vor ihm aufsteigt, das Bild der wirklichen Welt, in der er selbst atmet. Er bringt eine gewisse Kenntnis geschichtlicher Verhältnisse, bestimmte ethische und sittliche Forderungen an das Menschenleben, Ahnungen und sicheres Wissen über den Lauf der Welt .mit vor die Bühne. Es ist ihm bis zu gewissem Grade unmöglich, auf diesen Inhalt seines eigenen Lebens zu verzichten, zuweilen empfindet er lebhaft, wenn das poetische Bild damit in Widerspruch tritt. Daß Seeschiffe am Ufer von Böhmen landen, daß Karl der Große mit Kanonen schießt, erscheint unsern Zuschauern als eine Unrichtigkeit.

Daß dem Juden Shylock Gnade versprochen wird, wenn er ein Christ werde, verstößt gegen die sittlichen Empfindungen des Zuschauers, und er ist vielleicht nicht geneigt zuzugeben, daß ein gerechter Richter so geurteilt habe. Daß Thoas, der so gebildet und würdig um die Priesterin Iphigenie wirbt, in seinem Lande Menschenopfer duldet, erscheint als ein innerer Widerspruch zwischen dem edlen Inhalt der Charaktere und den Voraussetzungen des Stückes und vermag vielleicht, wie klug der Dichter diesen vernunftwidrigen Bestandteil verdeckt, die Wirkung zu beeinträchtigen. Daß König Ödipus viele Jahre herrscht, ohne sich um den Tod des Laios zu kümmern, erschien vielleicht schon bei der ersten Aufführung des Stückes den Athenern als eine bedenkliche Voraussetzung.

Nun ist wohlbekannt, daß dies Bild der Wirklichkeit, welches der Zuschauer gegen das einzelne Drama hält, nicht in jedem Jahrhundert dasselbe bleibt, sondern durch jeden Fortschritt der menschlichen Bildung verändert wird. Das Verständnis vergangen er Zeit, die sittlichen Forderungen, die gesellschaftlichen Verhältnisse sind nichts Feststehendes, jeder Zuhörer aber ist ein Kind seiner Zeit, jedem wird sein Erfassen des Gemeingültigen eingeschränkt durch seine Persönlichkeit und die Zeitbildung.

Und ferner ist klar, daß dies Bild von dem Leben der Wirklichkeit in jedem Menschen anders abgeschattet ist und daß der Dichter, wie völlig und reich er die Bildung seines Geschlechtes in das eigene Leben aufgenommen habe, doch tausend verschieden gefärbten Auffassungen der Wirklichkeit gegenübersteht. Wohl, er hat den großen Beruf, seiner Zeit ein Apostel der freiesten und höchsten Bildung zu sein und, ohne daß er sich lehrhaft gebärde, seine Hörer zu sich heraufzuziehen. Aber dem dramatischen Dichter sind dafür heimliche Schranken abgesteckt, er darf nicht über diese Schranken hinausgehen, er darf in vielen Fällen nichts von dem Raume leer lassen, den sie einschließen. Wo sie sich unsichtbar erheben, das kann in jedem einzelnen Fall nur durch Feingefühl und sichere Empfindung geahnt werden.

Die Wirkungen der dramatischen Kunst sind nämlich gesellige. Wie das dramatische Kunstwerk in einer Verbindung mehrer Künste, durch gemeinsame Tätigkeit zahlreicher Gehilfen dargestellt wird, so ist auch die Zuhörerschaft des Dichters eine Körperschaft aus vielen wechselnden Einzelwesen zusammengesetzt und doch als Ganzes ein einheitliches Wesen, welches, wie jede menschliche Gemeinschaft, die einzelnen Teilnehmer mächtig beeinflußt, eine gewisse Übereinstimmung des Empfindens und der Anschauungen entwickelt, den einen heraufhebt, den andern hinabdrückt, Stimmung und Urteil durch Gemeinsinn in hohem Grade ausgleicht. Dieser Gemeinsinn der Zuhörerschaft äußert sich fortwährend bei Aufnahme der dramatischen Wirkungen, er vermag die Kraft derselben außerordentlich zu steigern, er vermag sie ebenso sehr zu schwächen. Schwerlich wird sich der einzelne Hörer dem Einfluß entziehen, welchen ein teilnahmloses Haus, eine begeisterte Menge auf ihn ausüben. Wohl jeder hat empfunden, wie verschieden der Eindruck ist, den dasselbe Stück bei gleich guter Aufführung auf verschiedenen Bühnen vor einem anders zusammengesetzten Publikum macht. Beständig wird auch der Schaffende, vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein, durch die Auffassung bestimmt, welche er von Verständnis, Geschmack, den gemütlichen Bedürfnissen seiner Zuhörerschaft hat. Er weiß, daß er ihr nicht zu viel zumuten, nicht zu wenig bieten darf. Er wird also seine Handlung so einrichten müssen, daß sie einem guten mittleren Durchschnitt seiner Hörer nicht gegen die Voraussetzungen verstoße, welche diese aus dem wirklichen Leben vor die Bühne bringen, das heißt, er wird ihnen den Zusammenhang der Begebenheiten, Motive und Umrisse seiner Helden wahrscheinlich machen müssen. Gelingt ihm das mit dem Grundgewebe des Stücks, der Handlung und den Hauptlinien der Charaktere, so mag er den Hörern im übrigen die höchste Bildung und das feinste Verständnis seiner Ausführung zutrauen.

Diese Rücksicht muß den Dichter zumeist da bestimmen, wo er in Versuchung kommt, Fremdartiges und Wunderbares vorzuführen. Das Fremdartige reizvoll zu machen, ist sehr wohl möglich. Gerade die dramatische Kunst hat die reichsten Mittel, dasselbe zu erklären, seinen auch uns verständlichen Inhalt herauszuheben. Aber es ist dazu ein besonderer Aufwand von Kraft und Zeit nötig, und häufig wird die Frage berechtigt sein, ob die erzielte Wirkung die aufgewandte Zeit und die dadurch hervorgebrachte Einschränkung der Hauptsachen lohne. Namentlich der neuere Dichter, ohne ein fest begrenztes Gebiet der Stoffe, mitten in einer Kulturperiode, der überreiches Aufnehmen fremder Bilder eigen ist, kann verlockt werden, seinen Stoff aus den Bildungsverhältnissen einer dunklen Zeit, eines abgelegenen Volkes zu nehmen. Vielleicht ist ihm gerade das Fremdartige eines solchen Stoffes als besonders lohnend für scharf zeichnende Einzelschilderung erschienen. Schon eine genaue Betrachtung der deutschen Vorzeit oder der alten Welt bietet zahlreiche eigentümliche, dem Leben der Neuzeit fremde Zustände, in denen sich ein ergreifender und bedeutsamer Inhalt kundgibt, dem Kulturhistoriker von höchster Wichtigkeit. Für den Dichter wird dergleichen nur ausnahmsweise, bei sehr geschickter Behandlung, immer nur als ein Hilfsmittel, welches die Farbe verstärkt, zu verwenden sein. Denn nicht aus den Besonderheiten des Menschenlebens, sondern aus dem unsterblichen Inhalt desselben, aus dem, was uns mit der alten Zeit gemeinsam ist, erblühen ihm seine Erfolge. Noch mehr wird er vermeiden, solche fremde Völkerschaften aufzuführen, welche außerhalb der großen Kulturbewegung des Menschengeschlechtes stehen. Schon das Ungewohnte ihrer Sitten und Erscheinung, ihrer Tracht oder gar ihrer Hautfarbe zerstreut und erregt Nebenvorstellungen, welche für ernste Kunstwirkungen ungünstig sind. Denn in roher Weise wird dem Hörer die ideale Welt der Poesie mit einer Schilderung wirklicher Zustände verbunden, welche nur darum ein Interesse beanspruchen dürfen, weil sie wirklich sind. Aber auch das innere Leben solcher Fremden ist für dramatischen Ausdruck besonders ungeeignet, denn ohne Ausnahme fehlt ihnen in Wirklichkeit die Fähigkeit, innere Gemütsvorgänge, wie sie unsere Kunst nötig hat, reichlich darzulegen. Und das Hineintragen einer solchen Bildung in ihre Seelen erregt in dem Hörer mit Recht das Gefühl einer Ungehörigkeit. Wer seine Handlung unter die alten Ägypter oder die heutigen Fellah, zu Japanern oder selbst Hindus verlegen wollte, der würde durch das fremde Volkswesen vielleicht ein ethnographisches Interesse aufregen, aber dieser neugierige Anteil an dem Seltsamen würde dem Hörer vor der Bühne die Anteilnahme an dem etwaigen poetischen Inhalt nicht steigern, sondern durchkreuzen und beeinträchtigen. Es ist kein Zufall, daß nur solche Völker eine passende Grundlage für das Drama werden, welche in der Entwickelung ihres Gemütslebens so weit gekommen sind, daß sie selbst ein volksgemäßes Kunstdrama hervorbringen konnten, Griechen, Römer, die gebildeten Völker der Neuzeit. Neben ihnen etwa noch solche, deren Volkstum mit unserer oder der antiken Bildung enge verwachsen ist, wie die Hebräer, kaum noch die Türken.

Wie weit das Wunderbare für das Drama verwertet werden dürfe, darf auch uns Deutschen nicht zweifelhaft sein, auf deren Bühne der geistvollste und liebenswürdigste aller Teufel das Bürgerrecht erhalten hat. Die dramatische Poesie ist darin ärmer und reicher als ihre Schwestern, Lyrik und Epos, daß sie nur Menschen darzustellen vermag, und wenn man genauer zusieht, nur gebildete Menschen, diese aber tief und völlig wie keine andere Kunst. Sie muß sogar geschichtliche Verhältnisse sich dadurch zurichten, daß sie ihnen einen Zusammenhang erfindet, der menschlicher Vernunft durchaus begreiflich ist; wie sollte sie Überirdisches verkörpern können?

Gesetzt aber, sie unternähme dergleichen, so vermag sie es nur insofern, als das Nichtmenschliche bereits durch die Einbildungskraft des Volkes dichterisch zugerichtet, mit einer dem Menschen entsprechenden Persönlichkeit versehen, durch scharf ausgeprägte Züge bis ins einzelne hinein verbildlicht ist. So gestaltet lebten in der griechischen Welt die Götter unter ihrem Volke, so schweben noch unter uns die herzlich zugerichteten Bilder vieler Heiligen der christlichen Legende, fast zahllose Schattengestalten aus dem Hausglauben der deutschen Urzeit. Nicht wenige unter diesen Phantasiegebilden haben durch Sage, Dichtkunst, Malerei und durch das Gemüt unseres Volkes, welches sich noch heut gläubig oder mißtrauisch mit ihnen beschäftigt, so reiche Ausbildung erhalten, daß sie auch den Schaffenden wie alte, werte Freunde während seiner Arbeit umgeben. Die Jungfrau Maria, Sankt Peter an der Himmelspforte, mehre Heilige, Erzengel und Engel, nicht zuletzt die ansehnliche Schar der Teufelleben in unserem Volke traulich gesellt zu weißen Frauen und dem wilden Jäger, zu Elfen, Riesen und Zwergen. Doch wie lockend die Farben schimmern, welche sie in ihrem Dämmerlicht tragen, vor der scharfen Beleuchtung der tragischen Bühne verflüchtigen sie sich doch in wesenlose Schatten. Denn es ist wahr, sie haben durch das Volk einen Anteil an menschlicher Empfindung und an den Bedingungen irdischen Lebens erhalten. Aber dieser Anteil ist nur epischer Art; für die dramatischen Gemütsvorgänge sind sie nicht gebildet. Das deutsche Volk läßt in einigen der schönsten Sagen die kleinen Geister beklagen, daß sie nicht selig werden können, d. h. daß sie keine menschliche Seele haben. Derselbe Unterschied, den schon im Mittelalter das Volk ahnte hält sie der modernen Bühne in noch ganz anderer Weise fern die inneren Kämpfe fehlen ihnen, die Freiheit fehlt zu prüfen und zu wählen, sie stehen außerhalb Sitte, Gesetz Recht. Weder .völliger Mangel an Wandelbarkeit, weder vollendete Reinheit, noch völlige Schlechtigkeit sind darstellbar, weil sie jede innere Bewegung ausschließen. Auch die Griechen empfanden das. Wenn die Götter auf der Bühne mehr vorstellen sollten, als von der Maschine herab einen Befehl aussprechen, so mußten sie entweder ganz Menschen werden mit allem Schmerz und Zorn, wie Prometheus, oder sie sanken unter den Adel der Menschennatur hinab, ohne daß der Dichter es verhindern konnte, zu starren Verallgemeinerungen in Liebe und Haß, wie Athene im Prolog des Aias.

Während Götter und Geister im ernsten Drama üblen Stand haben, gelingt es ihnen in der Komödie weit besser. Und die jetzt abgelebten Zauberpossen geben nur eine sehr blasse Vorstellung von dem, was unsere Geisterwelt bei launiger und humoristischer Darstellung einem Dichter sein könnte. Wenn die Deutschen erst für eine politische Komödie reif sein werden, dann wird man den Wert des unerschöpflichen Schatzes von Motiven und Gegensätzen benutzen lernen, welcher aus dieser Phantasiewelt für drollige Laune, politische Satire und humoristische Einzelschilderung zu heben ist.

Für das Gesagte ist der Faust und in ihm die Rolle des Mephistopheles der beste Beweis. Hier hat die Kraft des größten deutschen Dichters ein Bühnen-Problem geschaffen, welches eine Lieblingsaufgabe unserer Charakterspieler geworden ist. Jeder von ihnen sucht sich auf seine Weise mit der unlösbaren Aufgabe abzufinden, der eine holt die Maske des alten Holzschnitt- Teufels heraus, ein anderer den kavaliermäßigen Junker Voland, am besten wird die Sache noch dem Darsteller geraten, der sich begnügt, mit Klugheit und Geist die feine Redekunst der Dialoge verständlich zu machen und in den drolligen Szenen Haltung und gute Laune zu zeigen. Der Dichter freilich hat es dem Schauspieler, an den er beim Schreiben überhaupt nicht dachte, besonders schwer gemacht, denn die Rolle schillert in allen Farben, von der treuherzigen Sprache des Hans Sachs bis zu den feinen Erörterungen eines Spinozisten, vom Grotesken bis in das Furchtbare. Und sieht man näher zu, wie die Darstellung dieses Geistes auf der Bühne doch noch möglich wird, so ist der letzte Grund das Eintreten eines komischen Elements. Mephisto erscheint in einigen ernsten Situationen, aber er ist eine im großen Stil behandelte Lustspielfigur, und soweit er auf der Bühne wirkt, tut er es nach dieser Richtung.

Damit ist nicht gesagt, daß das Geheimnisvolle, menschlicher Vernunft Unergründliche ganz aus dem Gebiet des Dramas verbannt werden soll. Träume, Ahnungen, Prophezeiungen, Gespensterschauer, das Eindringen der Geisterwelt in das Menschenleben, alles, wofür in der Seele der Zuhörer noch eine gewisse Empfänglichkeit vorausgesetzt werden darf, mag der Dichter allerdings zu gelegentlicher Verstärkung seiner Wirkungen benutzen. Es versteht sich, daß er dabei zunächst die Empfänglichkeit seiner Zeitgenossen richtig zu schätzen hat, wir sind nicht mehr geneigt, viel darauf zu geben, und nur sehr sparsame Verwendung zu Nebenwirkungen wird dem Schaffenden jetzt gebilligt werden. Shakespeare durfte dergleichen kleine Hilfsmittel mit größerem Behagen gebrauchen, denn in der Empfindung auch seiner gebildeten Zeitgenossen war die volkstümliche Überlieferung noch sehr lebendig, und der Zusammenhang mit der Geisterwelt wurde allgemein weit anders aufgefaßt. Auch die seelischen Vorgänge eines unter schwerer Last ringenden Menschen waren nicht nur im Volke, selbst bei Anspruchsvollen anders beschaffen. Bei aufgeregter Furcht, Gewissenszweifeln, Reue stellte die Einbildungskraft das Bild des Furchtbaren noch als ein äußeres gegenüber, der Mörder sah den Ermordeten als Geist vor sich aufsteigen, er fühlte, in die Luft greifend, die Waffe, womit er die Untat geübt, er hörte die Stimmen toter Opfer in sein Ohr dringen. Shakespeare und seine Zuhörer faßten deshalb auch auf der Bühne den Dolch Macbeths und die Geister Banquos, Cäsars, des alten Hamlet, der Schlachtopfer Richards III. weit anders auf als wir. Ihnen war dergleichen noch nicht ein bloßes herkömmliches Symbolisieren der inneren Kämpfe ihrer Helden, eine zufällige, kluge Erfindung des Dichters, der durch den gespenstigen Trödel seine Wirkungen unterstützt, sondern es war ihnen noch die notwendige, landesübliche Weise, in welcher sie selbst Schauer, Entsetzen, Seelenkämpfe erfuhren. Das Grauen war nicht künstlich aus Ammenerinnerungen aufgeregt, die Bühne stellte nur dar, was in ihrem eigenen Leben furchtbar gewesen war oder sein konnte. Denn wenn auch der junge Protestantismus die schwersten Kämpfe in das Gewissen der Menschen verlegt hatte, und wenn auch die Gedanken und leidenschaftlichen Stimmungen der erregten Seele bereits von jedem einzelnen sorgfältiger und schärfer beobachtet wurden, die mittelalterliche Empfindungsweise war deshalb noch nicht ganz geschwunden. Darum durfte Shakespeare diese Art von Wirkungen häufiger anwenden und mehr von ihnen erwarten als wir.

Aber er ist zugleich höchstes Muster, wie dergleichen spukhafte Gebilde künstlerisch für das Drama verwertet sein wollen. Wer Helden vergangener Jahrhunderte innerhalb der Lebensanschauung ihrer Zeit darzustellen hat, wird eine Unfreiheit und Abhängigkeit der Menschen von sagenhaften Gebilden nicht ganz verbergen; aber er wird sie so verwenden wie Shakespeare seine Hexen in den ersten Szenen des Macbeth, als Arabesken, welche Farbe und Stimmung der Zeit spiegeln und welche nur eine Veranlassung geben, das aus dem Innern des Helden herauszutreiben, was mit der für eine dramatische Gestalt notwendigen Freiheit in seiner eigenen Seele emporwächst

Für die Arbeit des modernen Dichters ist zu bemerken, daß solche Hilfsmittel der Handlung vorzugsweise dienen, Farbe und Stimmung zu geben. Sie gehören also in den Aufgang des Dramas. Aber auch, wenn sie in die Wirkungen späterer Teile geflochten sind, wird unvermeidlich ihr Erscheinen schon im Anfange durch eine damit stimmende Färbung zu rechtfertigen und außerdem besonders genau zu begründen sein. So ist das Erscheinen des schwarzen Ritters in der Jungfrau deshalb eine störende Zutat, weil die gespenstige Gestalt unvorbereitet aufsteigt und zu der glänzenden, gedankenreichen Sprache Schillers, zu Ton und Farbe des Stückes durchaus nicht paßt. Die Zeit und Handlung an sich hätte eine solche Erscheinung ganz wohl erlaubt, auch erschien er dem Dichter als ein Gegenbild zu der kriegerischen Himmelskönigin, welche Fahne und Schwert in das Drama liefert. Aber Schiller hat auch die Himmelskönigin nicht selbst vorgeführt, nur in seiner prächtigen Weise von ihr erzählen lassen. Hätte der Prolog die entscheidende Unterredung des Hirtenmädchens mit der Mutter Gottes in der Sprache und treuherzigen Haltung, wie sie der mittelalterliche Stoff nahe legte, dargestellt, so wäre auch dem späteren Erscheinen des bösen Geistes bessere Berechtigung geworden. Die Rolle ist übrigens auch in Tracht und Rede nicht vorteilhaft ausgestattet. Schiller verfügte mit bewundernswerter Meisterschaft über die verschiedenartigste historische Färbung, aber der Dämmerschein des Sagenhaften steht ihm, der immer in vollen Farben malt und, wenn ein spielender Vergleich erlaubt ist, leuchtendes Goldgelb und dunkles Himmelblau am liebsten verwendet, gar nicht an. Wundervoll hat dagegen Goethe, der unumschränkte Herr lyrischer Stimmungen, die Geisterwelt für die Farben des Faust verwendet, allerdings nicht zum Zweck einer Aufführung.

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