Kapitel 1
4. Wahrscheinlichkeit
der Handlung
Die Handlung des ernsten Dramas soll wahrscheinlich sein.
Die poetische
Wahrheit wird einem der Wirklichkeit entnommenen Stoff dadurch zuteil,
daß derselbe, dem zufälligen Zusammenhange enthoben, einen
allgemeinverständlichen Inhalt und Bedeutung erhält. In der
dramatischen Poesie wird dies Umwandeln der Wirklichkeit in poetische
Wahrheit dadurch hervorgebracht, daß die Hauptsachen durch eine
ursächliche Verbindung zu innerer Einheit verbunden und alle Nebenerfindungen
als wahrscheinliche und glaubliche Momente der dargestellten Begebenheiten.
begriffen werden. Aber nicht diese poetische Wahrheit allein ist im Drama
nötig. Der Genießende gibt sich zwar der Erfindung des Dichters
willig hin, er läßt sich Voraussetzungen eines Stückes
gern gefallen und ist im ganzen sehr geneigt, dem erfundenen menschlichen
Zusammenhang in der Welt des schönen Scheins beizustimmen; aber er
vermag doch nicht ganz die Wirklichkeit zu vergessen, er hält an
das poetische Gebilde, welches reizvoll vor ihm aufsteigt, das Bild der
wirklichen Welt, in der er selbst atmet. Er bringt eine gewisse Kenntnis
geschichtlicher Verhältnisse, bestimmte ethische und sittliche Forderungen
an das Menschenleben, Ahnungen und sicheres Wissen über den Lauf
der Welt .mit vor die Bühne. Es ist ihm bis zu gewissem Grade unmöglich,
auf diesen Inhalt seines eigenen Lebens zu verzichten, zuweilen empfindet
er lebhaft, wenn das poetische Bild damit in Widerspruch tritt. Daß
Seeschiffe am Ufer von Böhmen landen, daß Karl der Große
mit Kanonen schießt, erscheint unsern Zuschauern als eine Unrichtigkeit.
Daß dem Juden Shylock Gnade versprochen wird, wenn er ein Christ
werde, verstößt gegen die sittlichen Empfindungen des Zuschauers,
und er ist vielleicht nicht geneigt zuzugeben, daß ein gerechter
Richter so geurteilt habe. Daß Thoas, der so gebildet und würdig
um die Priesterin Iphigenie wirbt, in seinem Lande Menschenopfer duldet,
erscheint als ein innerer Widerspruch zwischen dem edlen Inhalt der Charaktere
und den Voraussetzungen des Stückes und vermag vielleicht, wie klug
der Dichter diesen vernunftwidrigen Bestandteil verdeckt, die Wirkung
zu beeinträchtigen. Daß König Ödipus viele Jahre
herrscht, ohne sich um den Tod des Laios zu kümmern, erschien vielleicht
schon bei der ersten Aufführung des Stückes den Athenern als
eine bedenkliche Voraussetzung.
Nun ist wohlbekannt, daß dies Bild der Wirklichkeit, welches der
Zuschauer gegen das einzelne Drama hält, nicht in jedem Jahrhundert
dasselbe bleibt, sondern durch jeden Fortschritt der menschlichen Bildung
verändert wird. Das Verständnis vergangen er Zeit, die sittlichen
Forderungen, die gesellschaftlichen Verhältnisse sind nichts Feststehendes,
jeder Zuhörer aber ist ein Kind seiner Zeit, jedem wird sein Erfassen
des Gemeingültigen eingeschränkt durch seine Persönlichkeit
und die Zeitbildung.
Und ferner ist klar, daß dies Bild von dem Leben der Wirklichkeit
in jedem Menschen anders abgeschattet ist und daß der Dichter, wie
völlig und reich er die Bildung seines Geschlechtes in das eigene
Leben aufgenommen habe, doch tausend verschieden gefärbten Auffassungen
der Wirklichkeit gegenübersteht. Wohl, er hat den großen Beruf,
seiner Zeit ein Apostel der freiesten und höchsten Bildung zu sein
und, ohne daß er sich lehrhaft gebärde, seine Hörer zu
sich heraufzuziehen. Aber dem dramatischen Dichter sind dafür heimliche
Schranken abgesteckt, er darf nicht über diese Schranken hinausgehen,
er darf in vielen Fällen nichts von dem Raume leer lassen, den sie
einschließen. Wo sie sich unsichtbar erheben, das kann in jedem
einzelnen Fall nur durch Feingefühl und sichere Empfindung geahnt
werden.
Die Wirkungen der dramatischen Kunst sind nämlich gesellige. Wie
das dramatische Kunstwerk in einer Verbindung mehrer Künste, durch
gemeinsame Tätigkeit zahlreicher Gehilfen dargestellt wird, so ist
auch die Zuhörerschaft des Dichters eine Körperschaft aus vielen
wechselnden Einzelwesen zusammengesetzt und doch als Ganzes ein einheitliches
Wesen, welches, wie jede menschliche Gemeinschaft, die einzelnen Teilnehmer
mächtig beeinflußt, eine gewisse Übereinstimmung des Empfindens
und der Anschauungen entwickelt, den einen heraufhebt, den andern hinabdrückt,
Stimmung und Urteil durch Gemeinsinn in hohem Grade ausgleicht. Dieser
Gemeinsinn der Zuhörerschaft äußert sich fortwährend
bei Aufnahme der dramatischen Wirkungen, er vermag die Kraft derselben
außerordentlich zu steigern, er vermag sie ebenso sehr zu schwächen.
Schwerlich wird sich der einzelne Hörer dem Einfluß entziehen,
welchen ein teilnahmloses Haus, eine begeisterte Menge auf ihn ausüben.
Wohl jeder hat empfunden, wie verschieden der Eindruck ist, den dasselbe
Stück bei gleich guter Aufführung auf verschiedenen Bühnen
vor einem anders zusammengesetzten Publikum macht. Beständig wird
auch der Schaffende, vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein,
durch die Auffassung bestimmt, welche er von Verständnis, Geschmack,
den gemütlichen Bedürfnissen seiner Zuhörerschaft hat.
Er weiß, daß er ihr nicht zu viel zumuten, nicht zu wenig
bieten darf. Er wird also seine Handlung so einrichten müssen, daß
sie einem guten mittleren Durchschnitt seiner Hörer nicht gegen die
Voraussetzungen verstoße, welche diese aus dem wirklichen Leben
vor die Bühne bringen, das heißt, er wird ihnen den Zusammenhang
der Begebenheiten, Motive und Umrisse seiner Helden wahrscheinlich machen
müssen. Gelingt ihm das mit dem Grundgewebe des Stücks, der
Handlung und den Hauptlinien der Charaktere, so mag er den Hörern
im übrigen die höchste Bildung und das feinste Verständnis
seiner Ausführung zutrauen.
Diese Rücksicht muß den Dichter zumeist da bestimmen, wo er
in Versuchung kommt, Fremdartiges und Wunderbares vorzuführen. Das
Fremdartige reizvoll zu machen, ist sehr wohl möglich. Gerade die
dramatische Kunst hat die reichsten Mittel, dasselbe zu erklären,
seinen auch uns verständlichen Inhalt herauszuheben. Aber es ist
dazu ein besonderer Aufwand von Kraft und Zeit nötig, und häufig
wird die Frage berechtigt sein, ob die erzielte Wirkung die aufgewandte
Zeit und die dadurch hervorgebrachte Einschränkung der Hauptsachen
lohne. Namentlich der neuere Dichter, ohne ein fest begrenztes Gebiet
der Stoffe, mitten in einer Kulturperiode, der überreiches Aufnehmen
fremder Bilder eigen ist, kann verlockt werden, seinen Stoff aus den Bildungsverhältnissen
einer dunklen Zeit, eines abgelegenen Volkes zu nehmen. Vielleicht ist
ihm gerade das Fremdartige eines solchen Stoffes als besonders lohnend
für scharf zeichnende Einzelschilderung erschienen. Schon eine genaue
Betrachtung der deutschen Vorzeit oder der alten Welt bietet zahlreiche
eigentümliche, dem Leben der Neuzeit fremde Zustände, in denen
sich ein ergreifender und bedeutsamer Inhalt kundgibt, dem Kulturhistoriker
von höchster Wichtigkeit. Für den Dichter wird dergleichen nur
ausnahmsweise, bei sehr geschickter Behandlung, immer nur als ein Hilfsmittel,
welches die Farbe verstärkt, zu verwenden sein. Denn nicht aus den
Besonderheiten des Menschenlebens, sondern aus dem unsterblichen Inhalt
desselben, aus dem, was uns mit der alten Zeit gemeinsam ist, erblühen
ihm seine Erfolge. Noch mehr wird er vermeiden, solche fremde Völkerschaften
aufzuführen, welche außerhalb der großen Kulturbewegung
des Menschengeschlechtes stehen. Schon das Ungewohnte ihrer Sitten und
Erscheinung, ihrer Tracht oder gar ihrer Hautfarbe zerstreut und erregt
Nebenvorstellungen, welche für ernste Kunstwirkungen ungünstig
sind. Denn in roher Weise wird dem Hörer die ideale Welt der Poesie
mit einer Schilderung wirklicher Zustände verbunden, welche nur darum
ein Interesse beanspruchen dürfen, weil sie wirklich sind. Aber auch
das innere Leben solcher Fremden ist für dramatischen Ausdruck besonders
ungeeignet, denn ohne Ausnahme fehlt ihnen in Wirklichkeit die Fähigkeit,
innere Gemütsvorgänge, wie sie unsere Kunst nötig hat,
reichlich darzulegen. Und das Hineintragen einer solchen Bildung in ihre
Seelen erregt in dem Hörer mit Recht das Gefühl einer Ungehörigkeit.
Wer seine Handlung unter die alten Ägypter oder die heutigen Fellah,
zu Japanern oder selbst Hindus verlegen wollte, der würde durch das
fremde Volkswesen vielleicht ein ethnographisches Interesse aufregen,
aber dieser neugierige Anteil an dem Seltsamen würde dem Hörer
vor der Bühne die Anteilnahme an dem etwaigen poetischen Inhalt nicht
steigern, sondern durchkreuzen und beeinträchtigen. Es ist kein Zufall,
daß nur solche Völker eine passende Grundlage für das
Drama werden, welche in der Entwickelung ihres Gemütslebens so weit
gekommen sind, daß sie selbst ein volksgemäßes Kunstdrama
hervorbringen konnten, Griechen, Römer, die gebildeten Völker
der Neuzeit. Neben ihnen etwa noch solche, deren Volkstum mit unserer
oder der antiken Bildung enge verwachsen ist, wie die Hebräer, kaum
noch die Türken.
Wie weit das Wunderbare für das Drama verwertet werden dürfe,
darf auch uns Deutschen nicht zweifelhaft sein, auf deren Bühne der
geistvollste und liebenswürdigste aller Teufel das Bürgerrecht
erhalten hat. Die dramatische Poesie ist darin ärmer und reicher
als ihre Schwestern, Lyrik und Epos, daß sie nur Menschen darzustellen
vermag, und wenn man genauer zusieht, nur gebildete Menschen, diese aber
tief und völlig wie keine andere Kunst. Sie muß sogar geschichtliche
Verhältnisse sich dadurch zurichten, daß sie ihnen einen Zusammenhang
erfindet, der menschlicher Vernunft durchaus begreiflich ist; wie sollte
sie Überirdisches verkörpern können?
Gesetzt aber, sie unternähme dergleichen, so vermag sie es nur insofern,
als das Nichtmenschliche bereits durch die Einbildungskraft des Volkes
dichterisch zugerichtet, mit einer dem Menschen entsprechenden Persönlichkeit
versehen, durch scharf ausgeprägte Züge bis ins einzelne hinein
verbildlicht ist. So gestaltet lebten in der griechischen Welt die Götter
unter ihrem Volke, so schweben noch unter uns die herzlich zugerichteten
Bilder vieler Heiligen der christlichen Legende, fast zahllose Schattengestalten
aus dem Hausglauben der deutschen Urzeit. Nicht wenige unter diesen Phantasiegebilden
haben durch Sage, Dichtkunst, Malerei und durch das Gemüt unseres
Volkes, welches sich noch heut gläubig oder mißtrauisch mit
ihnen beschäftigt, so reiche Ausbildung erhalten, daß sie auch
den Schaffenden wie alte, werte Freunde während seiner Arbeit umgeben.
Die Jungfrau Maria, Sankt Peter an der Himmelspforte, mehre Heilige, Erzengel
und Engel, nicht zuletzt die ansehnliche Schar der Teufelleben in unserem
Volke traulich gesellt zu weißen Frauen und dem wilden Jäger,
zu Elfen, Riesen und Zwergen. Doch wie lockend die Farben schimmern, welche
sie in ihrem Dämmerlicht tragen, vor der scharfen Beleuchtung der
tragischen Bühne verflüchtigen sie sich doch in wesenlose Schatten.
Denn es ist wahr, sie haben durch das Volk einen Anteil an menschlicher
Empfindung und an den Bedingungen irdischen Lebens erhalten. Aber dieser
Anteil ist nur epischer Art; für die dramatischen Gemütsvorgänge
sind sie nicht gebildet. Das deutsche Volk läßt in einigen
der schönsten Sagen die kleinen Geister beklagen, daß sie nicht
selig werden können, d. h. daß sie keine menschliche Seele
haben. Derselbe Unterschied, den schon im Mittelalter das Volk ahnte hält
sie der modernen Bühne in noch ganz anderer Weise fern die inneren
Kämpfe fehlen ihnen, die Freiheit fehlt zu prüfen und zu wählen,
sie stehen außerhalb Sitte, Gesetz Recht. Weder .völliger Mangel
an Wandelbarkeit, weder vollendete Reinheit, noch völlige Schlechtigkeit
sind darstellbar, weil sie jede innere Bewegung ausschließen. Auch
die Griechen empfanden das. Wenn die Götter auf der Bühne mehr
vorstellen sollten, als von der Maschine herab einen Befehl aussprechen,
so mußten sie entweder ganz Menschen werden mit allem Schmerz und
Zorn, wie Prometheus, oder sie sanken unter den Adel der Menschennatur
hinab, ohne daß der Dichter es verhindern konnte, zu starren Verallgemeinerungen
in Liebe und Haß, wie Athene im Prolog des Aias.
Während Götter und Geister im ernsten Drama üblen Stand
haben, gelingt es ihnen in der Komödie weit besser. Und die jetzt
abgelebten Zauberpossen geben nur eine sehr blasse Vorstellung von dem,
was unsere Geisterwelt bei launiger und humoristischer Darstellung einem
Dichter sein könnte. Wenn die Deutschen erst für eine politische
Komödie reif sein werden, dann wird man den Wert des unerschöpflichen
Schatzes von Motiven und Gegensätzen benutzen lernen, welcher aus
dieser Phantasiewelt für drollige Laune, politische Satire und humoristische
Einzelschilderung zu heben ist.
Für das Gesagte ist der Faust und in ihm die Rolle des Mephistopheles
der beste Beweis. Hier hat die Kraft des größten deutschen
Dichters ein Bühnen-Problem geschaffen, welches eine Lieblingsaufgabe
unserer Charakterspieler geworden ist. Jeder von ihnen sucht sich auf
seine Weise mit der unlösbaren Aufgabe abzufinden, der eine holt
die Maske des alten Holzschnitt- Teufels heraus, ein anderer den kavaliermäßigen
Junker Voland, am besten wird die Sache noch dem Darsteller geraten, der
sich begnügt, mit Klugheit und Geist die feine Redekunst der Dialoge
verständlich zu machen und in den drolligen Szenen Haltung und gute
Laune zu zeigen. Der Dichter freilich hat es dem Schauspieler, an den
er beim Schreiben überhaupt nicht dachte, besonders schwer gemacht,
denn die Rolle schillert in allen Farben, von der treuherzigen Sprache
des Hans Sachs bis zu den feinen Erörterungen eines Spinozisten,
vom Grotesken bis in das Furchtbare. Und sieht man näher zu, wie
die Darstellung dieses Geistes auf der Bühne doch noch möglich
wird, so ist der letzte Grund das Eintreten eines komischen Elements.
Mephisto erscheint in einigen ernsten Situationen, aber er ist eine im
großen Stil behandelte Lustspielfigur, und soweit er auf der Bühne
wirkt, tut er es nach dieser Richtung.
Damit ist nicht gesagt, daß das Geheimnisvolle, menschlicher Vernunft
Unergründliche ganz aus dem Gebiet des Dramas verbannt werden soll.
Träume, Ahnungen, Prophezeiungen, Gespensterschauer, das Eindringen
der Geisterwelt in das Menschenleben, alles, wofür in der Seele der
Zuhörer noch eine gewisse Empfänglichkeit vorausgesetzt werden
darf, mag der Dichter allerdings zu gelegentlicher Verstärkung seiner
Wirkungen benutzen. Es versteht sich, daß er dabei zunächst
die Empfänglichkeit seiner Zeitgenossen richtig zu schätzen
hat, wir sind nicht mehr geneigt, viel darauf zu geben, und nur sehr sparsame
Verwendung zu Nebenwirkungen wird dem Schaffenden jetzt gebilligt werden.
Shakespeare durfte dergleichen kleine Hilfsmittel mit größerem
Behagen gebrauchen, denn in der Empfindung auch seiner gebildeten Zeitgenossen
war die volkstümliche Überlieferung noch sehr lebendig, und
der Zusammenhang mit der Geisterwelt wurde allgemein weit anders aufgefaßt.
Auch die seelischen Vorgänge eines unter schwerer Last ringenden
Menschen waren nicht nur im Volke, selbst bei Anspruchsvollen anders beschaffen.
Bei aufgeregter Furcht, Gewissenszweifeln, Reue stellte die Einbildungskraft
das Bild des Furchtbaren noch als ein äußeres gegenüber,
der Mörder sah den Ermordeten als Geist vor sich aufsteigen, er fühlte,
in die Luft greifend, die Waffe, womit er die Untat geübt, er hörte
die Stimmen toter Opfer in sein Ohr dringen. Shakespeare und seine Zuhörer
faßten deshalb auch auf der Bühne den Dolch Macbeths und die
Geister Banquos, Cäsars, des alten Hamlet, der Schlachtopfer Richards
III. weit anders auf als wir. Ihnen war dergleichen noch nicht ein bloßes
herkömmliches Symbolisieren der inneren Kämpfe ihrer Helden,
eine zufällige, kluge Erfindung des Dichters, der durch den gespenstigen
Trödel seine Wirkungen unterstützt, sondern es war ihnen noch
die notwendige, landesübliche Weise, in welcher sie selbst Schauer,
Entsetzen, Seelenkämpfe erfuhren. Das Grauen war nicht künstlich
aus Ammenerinnerungen aufgeregt, die Bühne stellte nur dar, was in
ihrem eigenen Leben furchtbar gewesen war oder sein konnte. Denn wenn
auch der junge Protestantismus die schwersten Kämpfe in das Gewissen
der Menschen verlegt hatte, und wenn auch die Gedanken und leidenschaftlichen
Stimmungen der erregten Seele bereits von jedem einzelnen sorgfältiger
und schärfer beobachtet wurden, die mittelalterliche Empfindungsweise
war deshalb noch nicht ganz geschwunden. Darum durfte Shakespeare diese
Art von Wirkungen häufiger anwenden und mehr von ihnen erwarten als
wir.
Aber er ist zugleich höchstes Muster, wie dergleichen spukhafte Gebilde
künstlerisch für das Drama verwertet sein wollen. Wer Helden
vergangener Jahrhunderte innerhalb der Lebensanschauung ihrer Zeit darzustellen
hat, wird eine Unfreiheit und Abhängigkeit der Menschen von sagenhaften
Gebilden nicht ganz verbergen; aber er wird sie so verwenden wie Shakespeare
seine Hexen in den ersten Szenen des Macbeth, als Arabesken, welche Farbe
und Stimmung der Zeit spiegeln und welche nur eine Veranlassung geben,
das aus dem Innern des Helden herauszutreiben, was mit der für eine
dramatische Gestalt notwendigen Freiheit in seiner eigenen Seele emporwächst
Für die Arbeit des modernen Dichters ist zu bemerken, daß solche
Hilfsmittel der Handlung vorzugsweise dienen, Farbe und Stimmung zu geben.
Sie gehören also in den Aufgang des Dramas. Aber auch, wenn sie in
die Wirkungen späterer Teile geflochten sind, wird unvermeidlich
ihr Erscheinen schon im Anfange durch eine damit stimmende Färbung
zu rechtfertigen und außerdem besonders genau zu begründen
sein. So ist das Erscheinen des schwarzen Ritters in der Jungfrau deshalb
eine störende Zutat, weil die gespenstige Gestalt unvorbereitet aufsteigt
und zu der glänzenden, gedankenreichen Sprache Schillers, zu Ton
und Farbe des Stückes durchaus nicht paßt. Die Zeit und Handlung
an sich hätte eine solche Erscheinung ganz wohl erlaubt, auch erschien
er dem Dichter als ein Gegenbild zu der kriegerischen Himmelskönigin,
welche Fahne und Schwert in das Drama liefert. Aber Schiller hat auch
die Himmelskönigin nicht selbst vorgeführt, nur in seiner prächtigen
Weise von ihr erzählen lassen. Hätte der Prolog die entscheidende
Unterredung des Hirtenmädchens mit der Mutter Gottes in der Sprache
und treuherzigen Haltung, wie sie der mittelalterliche Stoff nahe legte,
dargestellt, so wäre auch dem späteren Erscheinen des bösen
Geistes bessere Berechtigung geworden. Die Rolle ist übrigens auch
in Tracht und Rede nicht vorteilhaft ausgestattet. Schiller verfügte
mit bewundernswerter Meisterschaft über die verschiedenartigste historische
Färbung, aber der Dämmerschein des Sagenhaften steht ihm, der
immer in vollen Farben malt und, wenn ein spielender Vergleich erlaubt
ist, leuchtendes Goldgelb und dunkles Himmelblau am liebsten verwendet,
gar nicht an. Wundervoll hat dagegen Goethe, der unumschränkte Herr
lyrischer Stimmungen, die Geisterwelt für die Farben des Faust verwendet,
allerdings nicht zum Zweck einer Aufführung.
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