Viertes Kapitel. Die Charaktere
2.
Die Charaktere im Stoff und auf der Bühne.
Rechte und Pflichten des dramatischen Dichters zwingen ihn während
der Arbeit zu einem unablässigen Kampf gegen die Bilder, welche ihm
Geschichte, Epos, sein eigenes Leben darbieten.
Unleugbar wird dem deutschen Dichter Wärme und Anreiz zum Schaffen
häufig zuerst durch die Charaktere gegeben. Solche Art des Schaffens
scheint unvereinbar mit dem alten Grundgesetz für Bildung der Handlungen,
daß die Handlung das Erste sein müsse, die Charaktere erst
das Zweite. Wenn die Freude an dem eigentümlichen Wesen eines Helden
den Dichter veranlassen kann, die Handlung dafür erst zusammenzusetzen,
so steht doch die Handlung unter der Herrschaft des Charakters und wird
durch ihn gebildet, zu ihm erfunden. Der Widerspruch ist nur scheinbar.
Denn der schaffenden Seele geht Wesen und Charakter eines Helden nicht
so auf wie dem Geschichtschreiber, welcher am Ende seines Werkes die Ergebnisse
eines Lebens zieht, oder wie dem Leser eines Geschichtswerkes, der aus
den Eindrücken verschiedener Schicksale und Taten das Bild eines
Mannes allmählich in sich ausmalt. Die schöpferische Kraft tritt
vielmehr dem Dichter derart in das erwärmte Gemüt, daß
sie den Charakter eines Helden in einzelnen Momenten seines Verhältnisses
zu andern Menschen lebendig und reizvoll heraustreibt. Diese Momente,
in denen der Charakter lebendig wird, sind bei dem Epiker Situationen,
bei dem dramatischen Dichter Aktionen, worin der Held in Bewegung schreitet;
sie sind die Grundlage der noch nicht lebensvoll angeordneten Handlung,
in ihnen liegt bereits die Idee des Stückes, wahrscheinlich noch
nicht geklärt und abgeschlossen. Immer aber ist Voraussetzung dieser
ersten Anfänge dichterischer Arbeit, daß der Charakter unter
dem Zwange eines Teilstücks der Handlung lebendig wird. Nur unter
solcher Voraussetzung ist eine poetische Erfassung desselben möglich.
Der Idealisierungsprozeß aber beginnt dadurch, daß sich die
Umrisse des geschichtlichen oder sonsther wert gewordenen Charakters nach
dem Bedürfnis der in der Seele aufgegangenen Situation umbilden.
Der Zug des Charakters, welcher den empfundenen Momenten der Handlung
nützlich ist, wird zu einem Grundzuge des Wesens, welchem sich alle
übrigen Charaktereigentümlichkeiten als ergänzendes Nebenwerk
unterordnen. Gesetzt, den Dichter feßle der Charakter Kaiser Karls
V., poetisch vermag er ihn nur zu empfinden, wenn er ihn durch eine bestimmte
Aktion durchtreibt. Der Kaiser auf dem Reichstage von Worms, oder wie
er dem gefangenen König Franz gegenübersteht, oder in der Szene,
in welcher der Landgraf von Hessen zu Halle den Fußfall tut, oder
in dem Augenblick, wo er die Nachricht von dem drohenden Überfall
des Kurfürsten Moritz erhält, wird unter dem Zwange der Situation
jedesmal ein weit anderer; er behält vielleicht noch alle Züge
der geschichtlichen Überlieferung, aber der Ausdruck wird ein eigentümlicher
und beherrscht so sehr das ganze Bild, daß es bereits jetzt nicht
mehr für ein historisches Porträt gelten könnte. Doch die
Umbildung geht rasch weiter. An die erste dichterische Anschauung knüpfen
sich andere, das erste Teilstück der Handlung schließt andere
an sich, es ringt danach, ein Ganzes zu werden, es erhält Anfang
und Ende. Und jedes neue Glied der Handlung, welches sich ausbildet, zwingt
dem Charakter etwas von der Farbe und den Motiven auf, welche zu seiner
Erklärung notwendig sind. Ist in solcher Weise die Handlung gerichtet,
so ist dem Dichter unter der Hand der wirkliche Charakter nach den Bedürfnissen
seiner Idee völlig umgeformt. Allerdings trägt der Schaffende
während dieser ganzen Arbeit die Züge der wirklichen Gestalt
wie ein Neben- oder Gegenbild in seiner Seele, er nimmt aus diesem, was
er von Einzelheiten brauchen kann; aber was er daraus schafft, ist frei
nach den Bedürfnissen seiner Handlung herausgehoben und mit eigener
Zutat zu neuer Masse verschmolzen.
Ein auffallendes Beispiel ist der Charakter Wallensteins in Schillers
Doppeldrama. Es ist kein Zufall, daß die Gestalt des Dichters so
sehr verschieden von dem geschichtlichen Bild des kaiserlichen Feldherrn
geformt wurde. Die Forderungen der Handlung haben ihm sein Aussehen gegeben.
Der Dichter erwärmt sich für den historischen Wallenstein, gerade
seit dem Tode Gustav Adolfs wird dieser fesselnd. Er hat hohe Pläne,
ist ein großartiger Egoist, hat unbefangene Auffassung der politischen
Lage usw. Nun hatte ein Drama, das seinen Ausgang schildert, die Aufgabe,
auf möglichst geringen Voraussetzungen darzustellen, wie sein Held
allmählich zum Verräter wird, durch seine eigene Schuld
und unter dem Zwange der Verhältnisse. Schiller sah in sich die Gestalt
Wallensteins, wie er aus Vorbedeutungen sein Geschick zu erkennen sucht
(wahrscheinlich die erste Anschauung), dann wie er dem Questenberg, dem
Wrangel gegenübertritt, dann wie sich treue Männer von ihm lösen.
Das waren die ersten Aktionsmomente. Nun wurde aber bedenklich, daß
ein so frevelhaftes Beginnen, wenn es mißglückt, den Helden
tatsächlich schwächer, kurzsichtiger, kleiner zeigt als die
gegenwirkenden Gewalten. Deshalb mußte, um ihm Größe
und Anteil zu bewahren, für seinen Charakter ein leitender Grundzug
gefunden werden, welcher ihn steigerte und den Verlockungen zum Verrat
gegenüber als selbsttätig und frei erwies, und der auch erklärte,
wie ein bedeutender und überlegener Mann kurzsichtiger werden konnte
als seine Umgebung. In dem wirklichen Wallenstein war etwas der Art zu
finden: daß er abergläubisch war und auf Astrologie hielt,
- nicht gerade mehr als andere seiner Zeitgenossen. Dieser Zug konnte
dichterisch verwertet werden. Aber als kleines Motiv, als eine Wunderlichkeit
seines Wesens hätte er wenig genützt. Er mußte geadelt
und vergeistigt werden. So entstand das Bild eines tiefsinnigen, inspirierten,
gehobenen Mannes, welcher in blutiger Zeit über Menschenleben und
Recht dahinschreitet, den Blick unverwandt nach der Höhe gerichtet,
wo er die stillen Lenker seines Schicksals zu sehen glaubt. Und dasselbe
düstere, träumerische Spielen mit unbegreiflichen Größen
konnte ihn auch dem Zwang äußerer Verhältnisse gegenüber
heben; denn derselbe Grundzug seines Wesens, eine gewisse Neigung zu doppeldeutigem
und verstecktem Handeln, das grübelnde Versuchen und Tasten mochte
ihn, den scheinbar Freien, allmählich in die Netze des Verrats verstricken.
So war eine sehr eigenartige dramatische Bewegung für sein Inneres
gewonnen. - Aber dieser Grundzug seines Wesens war im letzten Grunde doch
ein vernunftwidriges Moment, es fesselte vielleicht, es stellte ihn uns
nicht menschlich nahe, es blieb eine große Seltsamkeit. Um tragisch
zu wirken, mußte dieselbe Besonderheit in Beziehung zu den besten
und liebenswertesten Empfindungen seines Herzens gebracht werden. Daß
der Glaube an Offenbarungen unbegreiflicher Mächte dem Helden auch
das Freundesverhältnis zu den Piccolomini weiht, daß derselbe
Glaube nicht hervorgerufen, aber verhängnisvoll gesteigert wird durch
ein geheimes Bedürfnis zu ehren und zu vertrauen, und daß gerade
dies Vertrauen auf Menschen, die Wallenstein sich durch seinen Glauben
zutraulich verklärt hat, ihn verderben muß, das führt
die fremdartige Gestalt unserem Herzen nahe, gibt der Handlung innere
Einheit, dem Charakter die Vertiefung. In solcher Weise haben die ersten
gefundenen Situationen und das Bedürfnis, diese Situationen in einen
festen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen zu bringen und zu einer
dramatisch wirksamen Handlung abzurunden, den geschichtlichen Charakter
Zug um Zug umgeformt. Ebenso ist sein Gegenspieler Octavio durch den Trieb,
ihm einen innerlichen Zusammenhang mit Wallenstein zu geben, allerdings
auch in Abhängigkeit von dem Charakter desselben, geformt worden.
Ein kalter Intrigant, der über einem Vertrauenden das Netz zusammenzieht,
hätte nicht genügt, auch er mußte gehoben und dem Haupthelden
gemütlich nahe gestellt werden, und wenn er als Freund des Getäuschten
aufgefaßt wurde, der - gleichviel aus welchem Pflichtgefühl
- den Freund aufgibt, so war es zweckmäßig, auch in seinem
Leben einen Zug zu erfinden, der ihn mit dem Schicksal Wallensteins verflocht.
Da nun dem finsteren Stoff ohnedies ein wärmeres Leben, hellere Farben,
eine Reihe von sanften und rührenden Gefühlen sehr not taten,
fand der Dichter den Max. Das reine arglose Kind des Lagers wurde das
Gegenbild zugleich seines Vaters und seines Feldherrn. Es kümmerte
den Dichter bei dieser Gestalt vielleicht zu wenig, daß eine so
frische, harmlose, unbefleckte Natur in einem Widerspruch zu ihren eigenen
Voraussetzungen, zu dem zügellosen Soldatenleben stand, in dem sie
aufgewachsen war, wie denn Schiller überhaupt bei dem, was ihm diente,
im Motivieren nicht gerade sorgfältig war. Ihm genügte, daß
dieses Wesen durch Charakter und Geschick in einen edlen und dabei scharf
schneidenden Gegensatz zum Helden und Gegenspieler treten konnte. Und
er hat ihn und die entsprechende Gestalt seiner Geliebten mit einer Vorliebe
heraufgeführt, welche sogar den Bau des Dramas bestimmte.
So war es, im Ganzen betrachtet, nicht Laune und nicht ein zufälliger
Fund des Dichters, welcher die Charaktere des Wallenstein und seiner Gegenspieler
geformt hat. Allerdings aber sind diese Gestalten, wie jedes Dichterbild,
zugleich gefärbt durch die Persönlichkeit des Dichters. Und
es ist Schillern eigen, allen seinen Helden besonders sichtbar die Gedanken
zu geben, mit denen sein eigenes Innere erfüllt ist. Diese geistvollen
Betrachtungen, sowie die in großen, einfachen Linien geschwungenen
Umrisse empfinden wir bereits jetzt als seine Eigentümlichkeit. Anderes
aber als Besonderheit seiner Zeit. Die Meisterschaft im Grübeln und
Wägen ist bei Wallenstein nicht durch entschiedene Kraft des Willens
ins Gleichgewicht gebracht. Daß er auf die Sprache der Sterne, die
zuletzt die seines eigenen Herzens ist, lauscht, wäre in der Ordnung.
Aber er ist auch in Abhängigkeit von seiner Umgebung dargestellt.
Die Gräfin Terzky bestimmt ihn, Max stimmt ihn um, und der Zufall,
daß Wrangel verschwunden, verhindert vielleicht einen Umschlag der
Ereignisse. Sicher war Absicht des Dichters, die Unschlüssigkeit
Wallensteins stark hervorzuheben; aber Schwanken ist auch bei uns ein
Übelstand, für jeden Dramenhelden nur zu gebrauchen als scharfer
Gegensatz zu bereits bewährter Tatkraft.
Wenn dieser Vorgang des Ableitens der Charaktere aus der inneren Notwendigkeit
der Handlung hier als ein Ergebnis verständiger Überlegung erschien,
so ist wohl kaum nötig zu bekennen, daß er sich so in der warmen
Seele des Dichters nicht vollzieht. Zwar tritt auch dort in vielen Stunden
ein kühles Erwägen als Überwachung und Ergänzung des
schöpferischen Heraustreibens ein, aber das Schaffen geschieht doch
in der Hauptsache mit einer Naturkraft, in welcher dem Dichter unbewußt
derselbe Gedanke tätig ist, den wir vor dem fertigen Kunstwerk durch
Nachdenken als innewohnendes Gesetz des geistigen Schaffens erkennen.
Namentlich vor geschichtlichen Charakteren
zeigt sich die Umbildung derselben nach den Bedürfnissen der Handlung
nicht nur bei den einzelnen Dichtern verschieden, auch derselbe Dichtergeist
steht nicht allen seinen Helden gleich frei und unbefangen gegenüber.
Es ist möglich, daß auch eine starke Dichterkraft einmal die
geschichtlichen Einzelzüge eines Heldenlebens aus irgendeinem Grunde
besonders sorgfältig darzustellen sucht. Dann erkennt man in dem
fertigen Kunstwerk diese Sorgfalt noch aus einem besonderen Reichtum eigenartiger
Züge, welche für die Charakteristik verwertet sind. So zeigt
Heinrich VIII. von Shakespeare mehr Porträtzüge als irgendeine
Heldengestalt seiner Dramen. Allerdings ist auch diese Gestalt in der
Hauptsache ganz nach den Bedürfnissen der Handlung umgeformt und
von dem historischen Heinrich VIII. durch eine weite Kluft getrennt; aber
das Porträtmäßige der Zeichnung sowie die zahlreichen
Rücksichten, die der Dichter beim Bau der Handlung auf die wirkliche
Geschichte nahm, geben doch dem Drama einen fremdartigen Farbenton. Wie
zahlreich die kleinen Züge in diesem reich ausgestatteten Charakter
sind, er wird selten einem Darsteller als die lohnendste Aufgabe erscheinen.
Aus ähnlichen Gründen ist das Einführen historischer Helden,
deren Porträt besonders volkstümlich geworden ist, wie etwa
von Luther und Friedrich dem Großen, besonders schwer. Die Versuchung
liegt so nahe, auch solche wohlbekannte Züge der geschichtlichen
Figur, welche für die Handlung des Dramas unwesentlich sind und deshalb
als zufällig erscheinen, herauszutreiben. Diese aus der Wirklichkeit
entnommene Zutat zu einer einzelnen Gestalt gibt derselben mitten unter
den frei erfundenen Personen ein peinlich anspruchvolles, absonderliches,
wohl gar abstoßendes Aussehen. Der Wunsch, ein möglichst genaues
Abbild des wirklichen Daseins hervorzubringen, wird auch in dem Schauspieler
übermächtig und verlockt diesen zu kleinlicher Malerei; selbst
der Zuschauer fordert ein genaues Porträt und ist vielleicht überrascht,
wenn die übrigen Charaktere und die Handlung deshalb weniger wirksam
werden, weil er so lebhaft an einen werten Freund aus der Geschichte erinnert
wurde.
Leicht ist die Vorschrift gegeben, daß der dramatische Charakter
wahr sein müsse, daß nämlich die einzelnen Lebensmomente
desselben mit einander im Einklang stehen und als zusammengehörig
empfunden werden, und daß der Charakter dem Ganzen der Handlung
auch in Beziehung auf Farbe und seelischen Inhalt genau entspreche. Aber
solche Regel wird, so allgemein ausgedrückt, dem neueren Dichter
in vielen Fällen keinen Nutzen gewähren, wo ihm der Zwiespalt
zwischen den letzten Bedürfnissen seiner Kunst und der geschichtlichen,
selbst mancher dichterischen Wahrheit geheime Schwierigkeiten bereitet.
Es versteht sich, daß der Dichter die Überlieferungen der Geschichte
treu bewahren wird, wo sie ihm nützen und wo sie ihn nicht stören.
Denn unsere Zeit, so fortgeschritten in geschichtlicher Bildung und in
der Kenntnis früherer Kulturverhältnisse, überwacht auch
die historische Bildung ihrer Dramatiker. Der Dichter soll sich hüten,
zunächst, daß er seinen Helden nicht zu wenig von dem Inhalte
ihrer Zeit gebe, und daß ein modernes Empfinden der Charaktere dem
gebildeten Zuschauer im Gegensatz erscheine zu den ihm wohlbekannten Befangenheiten
und Eigentümlichkeiten des Seelenlebens der alten Zeit. Die jungen
Dichter verleihen ihren Helden leicht ein Verständnis der eigenen
Zeit, eine Gewandtheit, über die höchsten Angelegenheiten derselben
zu philosophieren und für ihre Taten solche Gesichtspunkte zu finden,
wie sie aus geschichtlichen Werken der Neuzeit geläufig sind. Es
ist unbequem, einen alten Kaiser des fränkischen oder hohenstaufischen
Hauses so bewußt, zweckvoll und verständig die Tendenzen seiner
Zeit ausdrücken zu hören, wie etwa Stenzel und Raumer diese
dargestellt haben. Nicht weniger gefährlich aber ist die entgegengesetzte
Versuchung, in welche der Dichter durch das Bestreben kommt, die Eigentümlichkeiten
der Vergangenheit lebendig zu erfassen; leicht erscheint ihm dann das
Besondere, von unserem Wesen Abweichende der alten Zeit als das Charakteristische
und deshalb für seine Kunst Wirksame. Dann ist er in Gefahr, den
unmittelbaren Anteil, welchen wir an dem schnell Verständlichen,
allgemein Menschlichen nehmen, zu verdecken, und in der noch größeren
Gefahr, den Verlauf seiner Handlung aufzubauen auf Absonderlichkeiten
jener Vergangenheit, auf Vergängliches, welches in der Kunst den
Eindruck des Zufälligen und Willkürlichen macht.
Und doch bleibt in einem geschichtlichen Stück oft ein unvermeidlicher
Gegensatz zwischen den dramatisch zugerichteten Charakteren und der dramatisch
zugerichteten Handlung. Es lohnt, bei diesem gefährlichen Punkte
zu verweilen. Da der moderne Dichter vor geschichtlichen Stoffen allerdings
die Verpflichtung hat, sorgfältig auf das zu achten, was wir Farbe
und Kostüm der Zeit nennen und da nicht nur die Charaktere, sondern
auch die Handlung aus entfernter Zeit genommen sind, so wird sicher auch
in der Idee des Stückes und der Handlung, in den Motiven, den Situationen
Vieles sein, was nicht allgemein menschlich und Jedem verständlich
ist, sondern erst durch das Besondere und Charakteristische jener Zeit
erklärt wird. Wo z. B. Königsmord durch ehrgeizige Helden verübt
wird, wie im Macbeth oder Richard, wo der Intrigant seine Gegner mit Gift
und Dolch angreift, wo die Gattin eines Fürsten ins Wasser gestürzt
wird, weil sie ein Bürgerkind ist, in diesen und unzähligen
anderen Fällen wird die Befangenheit und das Schicksal der Helden
zunächst aus der dargestellten Begebenheit, aus den Sitten und Besonderheiten
ihrer Zeit hergeleitet werden müssen.
Gehören nun aber die Gestalten einer Zeit an, welche hier die epische
genannt wurde, wo in der Wirklichkeit die innere Freiheit der Menschen
noch wenig entwickelt, die Abhängigkeit der Einzelnen von dem Beispiele
Anderer, von Sitte und Brauch sehr viel größer ist, wo das
Innere des Menschen nicht ärmer an starken Gefühlen, aber viel
ärmer an der Fähigkeit ist, dieselben durch die Sprache auszudrücken,
so werden die Charaktere des Dramas eine solche Befangenheit in
der Hauptsache gar nicht darstellen dürfen. Denn da auf der
Bühne nicht die Taten wirken und nicht die schönen Reden, sondern
die Darstellung der Gemütsvorgänge, durch welche das Empfinden
sich zum Wollen und zur Tat verdichtet, so müssen die dramatischen
Hauptcharaktere einen Grad von innerer Freiheit, eine Bildung und eine
Dialektik der Leidenschaft zeigen, welche in innerlichstem Gegensatze
steht zu der tatsächlichen Befangenheit und Naivetät ihrer alten
Vorbilder in der Wirklichkeit.
Nun würde dem Künstler allerdings leicht verziehen, daß
er seine Gestalten mit einem stärkeren und reicheren Leben anfüllt,
als sie in Wirklichkeit hatten. Wenn nur nicht dieser reichere Inhalt
deshalb den Eindruck der Unwahrheit machte, weil einzelne Voraussetzungen
der dargestellten Handlung ein so gebildetes Wesen der Hauptcharaktere
gar nicht vertragen. Denn die Handlung, welche doch aus der Geschichte
oder Sage entnommen ist und überall den sittlichen Inhalt, den Grad
der Bildung, die Eigentümlichkeit ihrer Zeit verrät, vermag
der Dichter nicht immer ebenso gut mit tieferem Inhalt zu füllen,
als den einzelnen Charakter. Der Dichter kann z. B. einem Orientalen die
feinsten Gedanken und zartesten Empfindungen süßer Leidenschaft
in den Mund legen und doch den Charakter so färben, daß er
den schönen Schein der Kunstwahrheit erhält; nun aber macht
die Handlung vielleicht notwendig, daß derselbe Charakter die Frauen
seines Harems säcken lasse oder ein Kopfabschneiden befehle. Unvermeidlich
bricht dann der innere Widerspruch zwischen Handlung und Charakter auf.
Das ist in der Tat eine Schwierigkeit des dramatischen Schaffens, welche
zuweilen auch von der größten Begabung nicht ganz überwunden
werden mag; dann bedarf es aller Kunst, um bei so spröden Stoffen
dem Hörer den stillen Widerspruch zwischen Stoff und Lebensbedürfnis
des Dramas zu verdecken. - Darum sind alle Liebesszenen in historischen
Stücken von besonderer Schwierigkeit. Hier, wo wir die unmittelbarsten
Klänge einer holden Leidenschaft fordern, ist eine harte Aufgabe,
zu gleicher Zeit die Zeitfarbe zu geben. Am besten gedeiht es dem Dichter
noch dann, wenn er, wie Goethe bei Gretchen, in solcher Situation Besonderheiten
des Charakters mit starker Farbe malen und bis an die Grenzen des Genre
hinabgehen darf.
Der stille Kampf des Dichters mit Voraussetzungen seines Stoffes, welche
undramatisch und doch nicht wegzuschaffen sind, findet aber fast vor jeder
Handlung statt, welche aus der Heldensage oder der älteren Geschichte
genommen ist.
In den epischen Stoffen, welche die Heldensage
der großen Kulturvölker darbietet, ist die Handlung bereits
künstlerisch zugerichtet, wenn auch nach anderen als dramatischen
Bedürfnissen. Leben und Schicksale der Helden erscheinen abgeschlossen,
durch verhängnisvolle Taten bestimmt, gewöhnlich bildet die
Reihenfolge der Begebenheiten, in denen sie handelnd und leidend erscheinen,
eine längere Kette, aber es ist wohl möglich, einzelne Glieder
derselben für den Gebrauch des Dramas abzulösen. Die Gestalten
selbst schweben in großen Umrissen, einzelne charakteristische Eigentümlichkeiten
derselben sind mächtig entwickelt. Sie stehen auf den Höhen
ihres Volkstums, zeigen Kraft und Größe, so erhaben und eigenartig
entwickelt, als die schöpferische Phantasie des Volkes nur zu erfinden
vermochte, die verhängnisvollen Ereignisse ihres Lebens sind häufig
gerade solche, wie der dramatische Dichter sie sucht, Liebe und Haß,
eigensüchtiges Begehren, Kampf und Untergang.
Solche Stoffe sind ferner geweiht durch
die teuersten Erinnerungen eines Volkes, sie waren einst Stolz, Freude,
Unterhaltung von Millionen. Sie sind nach einer Umbildung durch die schöpferische
Volkskraft, welche Jahrhunderte währte, immer noch biegsam genug,
um der Erfindung des dramatischen Dichters Vertiefung der Charaktere,
sogar Veränderung im Zusammenhange der Handlung zu gestatten. Mehre
von ihnen sind uns in der Ausarbeitung erhalten, welche ihnen im großen
Epos zuteil wurde, die meisten sind wenigstens ihrem Hauptinhalt nach
auch unserer Bildung nicht ganz fremd. Dies Gesagte gilt mehr oder weniger
von den großen Sagenkreisen der Griechen, von den sagenhaften Überlieferungen,
welche in die älteste Geschichte der Römer verwebt sind, von
den Heldensagen des deutschen und romanischen Mittelalters.
Freilich unterscheiden sich die Charaktere der epischen Sage bei näherer
Betrachtung sehr von den Personen, wie sie dem Drama nötig werden.
Es ist wahr, die Helden des Homer wie der Nibelungen sind sehr bestimmte
Persönlichkeiten. Auch der Blick in das Innere der Menschenseele,
in die wogenden Gefühle ist den epischen Dichtern durchaus nicht
verwehrt, schon sie leiten aus dem Charakter des Helden nicht selten sein
Schicksal her, aus seinen Leidenschaften die verhängnisvollen Taten;
schon in den Dichtungen frühester Zeit ist Kenntnis des Menschenherzens
und zuweilen der gerechte Sinn zu bewundern, welcher das Schicksal des
Menschen aus seinen Tugenden, Fehlern und Leidenschaften erklären
möchte. Nicht ebenso ausgebildet ist die Fähigkeit, die Einzelheiten
der inneren Vorgänge darzustellen. Das Leben der Persönlichkeiten
äußert sich in einzelnen, anekdotenhaften Zügen, die oft
mit überraschender Feinheit empfunden sind; was vorher liegt, die
stille Arbeit im Innern, und was auf solche Tat folgt, die stille Wirkung
auf die Seele, wird übergangen oder kurz abgefertigt. Wie sich der
Mensch unter Fremden behauptet, durchschlägt oder untergeht im Kampfe
mit stärkeren Gewalten, welche gegen ihn stehen, das zu erzählen
ist der Hauptreiz, also Beschreibung hoher Feste, Zweikampf, Schlacht,
Reiseabenteuer. Am lebhaftesten ist der Ausdruck des Gefühls noch
da, wo der Mann als ein Leidender sich gegen das Unerträgliche empört;
auch hier starrt der Ausdruck verhältnismäßig unlebendig
in häufig wiederkehrenden Formeln, als Klage, als Gebet zu den Göttern,
vielleicht so, daß der Sprechende seinem Geschick ein anderes gegenüberhält
oder in einem ausgeführten Bilde seine Lage bespiegelt. Fast immer
ist die Rede der Helden einfach, arm, eintönig, mit denselben wiederkehrenden
Klängen der Empfindung. So die Selbstgespräche des Odysseus
und der Penelope in dem Gedicht, in welchem das eigenartige Leben noch
am reichlichsten und mit den besten Einzelzügen dargestellt ist.
Auch wo der innere Zusammenhang der Begebenheiten auf den geheimen Anschlägen
und der eigentümlichen Leidenschaft einer einzelnen Person ruht,
da also, wo sich aus dem Innern eines Charakters eine verhängnisvolle
Handlung entwickelt, ist die Analyse der Leidenschaft noch kaum vorhanden.
Kriemhilds Plan, Rache zu nehmen für den Mord, der an ihrem Gatten
verübt wurde, die sämtlichen Seelenbewegungen dieses fesselnden
Charakters, der dem Dichter so gewaltig in der Seele lebt, wie kurz und
gedeckt sind sie in der Erzählung! Es ist bezeichnend, daß
bei diesem deutschen Gedichte das lyrische Beiwerk, Selbstgespräche,
Klagen, gemütliche Betrachtungen, viel ärmer ist als in der
Odyssee, dagegen besonders lebhaft und schön ausgeführt jede
Eigentümlichkeit der Hauptcharaktere, welche deren Freundschaft oder
Feindschaft zu Anderen bestimmt.
Aber sobald man die gewaltigen, schattenhaften Gestalten der Sage sich
auf der Bühne menschlich nahe und von Menschen dargestellt denkt,
verlieren sie die Würde und Größe ihrer Umrisse, womit
die geschäftige Phantasie ihr Bild umkleidet hat; ihre Reden, die
innerhalb der epischen Erzählung die kräftigste Wirkung ausüben,
werden, in die Jamben der Bühne umgeschrieben, matt, alltäglich.
Ihr Handeln dünkt uns roh, barbarisch, wüst, ja ganz unmöglich,
sie scheinen zuweilen, wie jene Nixe und Kobolde des alten Volksglaubens,
ohne eine menschliche und vernünftige Seele. Die erste Arbeit des
Dichters muß also eine Umbildung und eine Vertiefung der Charaktere
sein, wodurch uns dieselben menschlich verständlich werden. Wir wissen,
wie lockend den Griechen solche Dichterarbeit erschien.
Und sie standen besonders günstig zu ihrem alten Sagenstoff. Er war
durch tausend Fäden mit dem Leben ihrer Gegenwart verbunden, durch
örtliche Überlieferungen, Götterdienst und bildende Kunst.
Die freiere Bildung ihrer Zeit erlaubte bereits wichtige Änderungen
vorzunehmen, mit innerer Unbefangenheit das Überlieferte als rohen
Stoff zu behandeln. Und doch! Die Geschichte der attischen Tragödie
ist in der Tat eine Geschichte des inneren Kampfes, den große Dichter
mit einem Gebiet von Stoffen führten, welches sich einigen Hauptgesetzen
des dramatischen Schaffens um so heftiger widersetzt, je mehr die Kunst
des Schauspielers ausgebildet, die Ansprüche der Zuschauer an einen
reichen Inhalt der Charaktere gesteigert wurden.
Euripides ist für uns das lehrreiche Beispiel, wie die griechische
Tragödie durch den inneren Gegensatz zwischen ihrem Stoffgebiet und
den größeren Anforderungen, welche die Kunst der Darstellung
allmählich machte, aufgelöst wurde. Keiner seiner großen
Vorgänger versteht besser als er die Gebilde der epischen Sage mit
flammender, markzerfressender Leidenschaft zu füllen; keiner hat
gewagt, so realistisch die dramatischen Charaktere der Empfindungsweise
und dem Verständnis seiner Zuschauer nahe zu rücken, keiner
hat der Kunst der Schauspieler soviel zuliebe getan. Überall in seinen
Stücken erkennt man deutlich, daß die Darsteller und die Bedürfnisse
der Bühne größere Bedeutung gewonnen haben. Aber die schauspielerisch
wirksame Behandlung seiner Rollen, an sich ein Fortschritt, das gute Recht
des Bühnendramas, trug doch dazu bei, seine Stücke zu verschlechtern;
das Wilde und Barbarische der Handlung mußte als widerwärtig
auffallen, wenn die Personen wie Athener aus der Umgebung des Dichters
dachten und fühlten und dabei wie unbändige Skythen handelten.
Seine Elektra ist eine gedrückte Frau aus einem edlen Hause, die
in der Not einen armen, aber braven Bauer geheiratet hat und mit Verwunderung
wahrnimmt, daß unter seinem schlechten Kittel doch ein wackeres
Herz schlägt; aber nur schwer glauben wir ihrer Versicherung, daß
sie eine Tochter des entleibten Agamemnon sei. Wenn in der Iphigeneia
in Aulis Mutter und Tochter hilfeflehend die Hand an das Kinn des Achilles
und Agamemnon legen und diese dadurch nach Volkssitte beschwörend
zu erweichen suchen, und wenn Achilles der grüßenden Klytämnestra
die Hand versagt, so war solche mimische Erfindung ein an sich vortreffliches
schauspielerisches Motiv; aber es stand in auffallendem Gegensatz zu der
herkömmlichen Bewegung der maskierten und drapierten Personen, und
während dieser Fortschritt der Schauspielkunst die Szenenwirkung
in den Augen der Zuschauer wahrscheinlich kräftig steigerte, machte
er zugleich die Iphigeneia zu einer bedrängten Athenerin und das
beabsichtigte Abschlachten derselben fremdartiger und unwahrer. In vielen
anderen Fällen gibt der Dichter dem Begehren seines Pathosspielers
nach großen Gesangwirkungen so weit nach, daß er den verständlichen
und gemütlichen Verlauf seiner Handlung plötzlich und unmotiviert
durch Ausmalen der alten Sagenzüge unterbricht, durch Raserei, Kindermord
u. a. m. Der ursächliche Zusammenhang der Ereignisse wird bei diesem
Eindringen opernhafter und schauspielerischer Effekte Nebensache, die
tragische Wucht geht verloren, die Personen werden Gefäße für
mehrerlei Gefühle, spielend und sophistisch lösen sie sich von
dem Zwange ihrer Vergangenheit. Fast in jedem Stück wird fühlbar,
daß dem Dichter der alte Sagenstoff durch die wohlberechtigte Steigerung
der Bühnenwirkungen wie ein morsches Gewebe zerfährt und zur
Herstellung einer einheitlichen dramatischen Handlung unbrauchbar wird.
Wären uns Stücke anderer Zeitgenossen überliefert, wir
würden wahrscheinlich erkennen, wie auch andere vergeblich um die
Versöhnung zwischen den gegebenen Stoffen und den Lebensbedingungen
ihrer Kunst gerungen haben. Denn das muß wiederholt werden: was
die Dichtergröße des Euripides mindert, ist nicht zumeist der
ihm eigentümliche Mangel an Ethos, sondern es ist die naturgemäße
und unaufhaltsame Auflösung, welche in Dramenstoffe kommen mußte,
die wesentlich undramatisch waren. Allerdings trug auch die wiederholte
Benutzung desselben Stoffes dazu bei, den Übelstand an den Tag zu
bringen; denn die späteren Dichter, welche bereits große dramatische
Behandlung fast aller Sagen vorfanden, hatten dringende Veranlassung,
durch etwas Neues, Reizendes ihre Zuhörer zu gewinnen, und sie fanden
dies darin, daß sie der Kunst ihrer Schauspieler neue und höhere
Aufgaben stellten. Und dieser sachgemäße Fortschritt beschleunigte
den Verderb der Handlung, und dadurch auch der Rollen.
Wir Deutsche aber stehen zur epischen Sage weit ungünstiger. Sie
ist für uns eine verschüttete Welt. Auch wo unsere Wissenschaft
in weiten Kreisen Kunde davon verbreitet hat, wie von Homer und den Nibelungen,
ist die Kenntnis und die Freude daran ein Vorrecht der Gebildeten. Unsere
Bühne aber ist sehr viel realistischer geworden als jene griechische,
und fordert von den Charakteren weit reichlichere Einzelzüge, einen
unser Empfinden nicht peinlich verletzenden Inhalt. Wenn bei uns auf der
Bühne Tristan eine Frau heiratete, um sein Verhältnis zur Frau
eines Andern zu verdecken, so würde sein Darsteller in Gefahr sein,
von einer erbitterten Galerie als gemeines Scheusal mit Äpfeln geworfen
zu werden, und die Brautnacht der Brunhild, so wirksam in dem Epos geschildert,
wird auf der Bühne immer eine gefährliche Stimmung der Schauenden
erwecken.
Uns Deutschen ist als Quell dramatischer Stoffe die Geschichte wichtiger
geworden als die Sage. Für eine Mehrzahl der jüngeren Dichter
ist die Geschichte des Mittelalters der Zauberbrunnen, aus welchem sie
ihre Dramen heraufholen. Und doch liegt im Leben und Charakter unserer
deutschen Vorfahren etwas schwer Verständliches, was uns die Helden
des Mittelalters, - freilich noch mehr die Zustände des Volkes, -
wie mit einem Nebel verdeckt und die Seele eines Fürstensohnes aus
der Zeit Ottos des Großen undurchsichtiger macht als die eines Römers
aus der Zeit des zweiten punischen Krieges. Die Unselbständigkeit
des Mannes ist weit größer, jeder Einzelne ist stärker
durch die Anschauungen und Gewohnheiten seines Kreises beeinflußt.
Die Eindrücke, welche von außen in die Seele fallen, werden
von behender Einbildungskraft schnell umsponnen, verzogen, gefärbt;
zwar ist die Tätigkeit der Sinne scharf und energisch, aber das Leben
der Natur, das eigene Leben und das Treiben Anderer werden weit weniger
nach dem verständigen Zusammenhange der Erscheinungen aufgefaßt,
als vielmehr nach den Bedürfnissen des Gemüts gedeutet. Leicht
bäumt die Selbstsucht des Einzelnen auf und stellt sich zum Kampfe,
ebenso behende ist das Fügen unter übermächtige Gewalt.
Die urwüchsige Einfalt eines Kindes mag in demselben Mann mit durchtriebener
List und mit Lastern verbunden sein, welche wir als Auswuchs einer verderbten
Zivilisation zu betrachten gewöhnt sind. Und diese Unfreiheit sowie
die Vereinigung der - scheinbar - stärksten Gegensätze in Empfindung
und Art des Handelns finden sich bei den Führern der Völker
ebenso sehr als bei kleinen Leuten. Es ist offenbar, daß schon dadurch
das Urteil über Charaktere, Wert oder Unwert ihrer einzelnen Handlungen,
über Stimmungen und Beweggründe erschwert wird. Wir sollen den
Mann nach Bildung und sittlichem Gefühl seiner Zeit und seine Zeit
nach Bildung und Moral der unseren beurteilen. Man versuche nun in irgendeinem
der frühern Jahrhunderte des Mittelalters sich eine Art Bild von
dem mittleren Durchschnitt der Sittlichkeit im Volke zu machen, und man
wird mit Erstaunen sehen, wie schwer das ist. Dürfen wir nach den
Strafen schließen, welche die ältesten Volksrechte auf alle
möglichen scheußlichen Missetaten setzten, oder nach den Greueltaten
im Hofhalt der Merowinger? Es gab damals noch kaum etwas von dem, was
wir öffentliche Meinung nennen, und wir dürfen höchstens
sagen, daß die Geschichtschreiber uns den Eindruck von Männern
machen, welche Vertrauen verdienen. Wenn ein Fürstensohn sich in
wiederholten Empörungen gegen seinen Vater erhob, wie weit wurde
er durch die Auffassung seiner Zeit, durch seine innersten Beweggründe
gerechtfertigt oder entschuldigt? Selbst bei Ereignissen, welche sehr
klar scheinen und uns in greller Beleuchtung erhalten sind, empfinden
wir einen Mangel in unserem Verständnis. Nicht nur, weil wir zu wenig
von jener Zeit wissen, sondern auch, weil wir, was uns überliefert
wird, nicht immer verstehen, wie der dramatische Dichter es verstehen
muß, in seinem ursächlichen Zusammenhange und in seiner Entstehung
aus dem Kern eines Menschenlebens.
Wer freilich die wirklichen Verhältnisse und den geschichtlichen
Charakter seines Helden nicht näher untersuchen wollte und den Namen
desselben nur benutzte, um einige Ereignisse jener Zeit nach Anweisung
eines bequemen Geschichtswerkes auf der Bühne mit tapferen Betrachtungen
zu versehen, der würde jeder Schwierigkeit aus dem Wege gehen. Aber
er würde auch schwerlich einen in Wahrheit dramatischen Stoff finden.
Denn die edle Masse der Dramenstoffe lagert in den Steinmassen der Geschichte
fast immer nur da, wo das geheime vertrauliche Leben der Heldencharaktere
beginnt, man muß danach zu suchen wissen.
Gibt man sich nun ernstlich Mühe, die Helden aus entfernter Vergangenheit
soviel als möglich kennen zu lernen, so entdeckt man in ihrem Wesen
etwas sehr Undramatisches. Denn wie jenen epischen Gedichten ist auch
dem geschichtlichen Leben alter Zeit eigen, daß der innere Kampf
des Menschen, seine Empfindungen, Gedanken, das Werden seines Wollens
bei den Helden selbst noch keinen Ausdruck gefunden haben. Auch in keinem
Beobachter. Das Volk, seine Dichter und Geschichtschreiber sehen den Mann
scharf und gut im Augenblicke der Tat, sie empfinden - wenigstens bei
den Deutschen - das Charakteristische seiner Lebensäußerungen
sehr innig, mit Rührung, Erhebung, Laune, Abneigung. Aber nur die
Augenblicke, in denen sein Leben sich nach außen kehrt, sind jener
Zeit anziehend, fesselnd, verständlich. Sogar die Sprache hat für
die inneren Vorgänge bis zum Tun nur dürftigen Ausdruck, auch
die leidenschaftliche Bewegung wird vorzugsweise in der Wirkung genossen,
welche sie auf andere ausübt, und in der Beleuchtung, welche sie
der Umgebung mitteilt. Für die Gemütszustände, sowie für
die Rückwirkungen, welche das Geschehene auf Empfindungen und Charakter
des Mannes ausübt, fehlt jede Technik der Darstellung, fehlt die
Teilnahme. Sogar die Schilderung offenliegender Charaktereigentümlichkeiten
sowie eine reiche Ausführung des Geschehenen sind bei dem Erzähler
nicht häufig, eine verhältnismäßig trockene Zusammenreihung
der Begebenheiten wird mehr oder weniger oft durch Anekdoten unterbrochen,
in denen eine einzelne den Zeitgenossen wichtige Lebensäußerung
des Helden hervorbricht, hier ein treffendes Wort, dort eine kräftige
Tat. Vorzugsweise auf solchen Sagen beruht die Erinnerung, welche das
Volk von seinem Führer und dessen Taten bewahrt. Wir wissen, daß
bis über die Reformation, ja bis über die Mitte des vorigen
Jahrhunderts hinaus dieselbe Auffassung bei Gebildeten häufig war,
daß sie noch jetzt unserem Volke nicht geschwunden ist.
Diese Armut des dramatischen Lebens erschwert dem Dichter das Verständnis
und die Darstellung eines jeden Helden. Aber in der Anlage unserer Urahnen
war noch etwas Besonderes, was ihr Wesen zuweilen ganz geheimnisvoll macht.
Schon in ihrer ältesten epischen Zeit zeigen sie in Charakteren,
in Sprache, Poesie und Sitte die Neigung, ein eigenartiges inneres Grübeln
und Deuten zur Geltung zu bringen. Nicht die Dinge an sich, sondern was
sie bedeuten, ist schon den Ahnen des Denkervolkes die Hauptsache. Sehr
reichlich dringen die Bilder der Außenwelt in die Seele der alten
Germanen, welche vielseitiger, anerkennender, mit stärkerer Kraft
der Aufnahme versehen sind als jedes andere Volk der Erde. Aber nicht
in der schönen, klaren, ruhigen Weise der Griechen oder mit der sichern,
beschränkten, praktischen Einseitigkeit der Römer spiegelt sich
das Empfangene bei ihnen in Rede und Tun wider, sie verarbeiten langsam
und innig, und was aus ihnen herausquillt, hat eine starke subjektive
Färbung und eine Zugabe aus ihrem Gemüt erhalten, die wir schon
in frühester Zeit lyrisch nennen dürfen. Darum steht auch die
älteste Poesie der Deutschen in auffälligem Gegensatz zu dem
Epos der Griechen: nicht das volle und reichliche Erzählen der Handlung
ist ihr die Hauptsache, sondern ein scharfes Herausheben einzelner, glänzender
Züge, die Verknüpfung des Momentes mit einem ausgeführten
Bilde, ein Darstellen in kurzen, abgebrochenen Wellen, auf denen man das
aufgeregte Gemüt des Erzählers erkennt. Ganz ebenso ist bei
den Charakteren die trotzige Selbstsucht mit einer Hingabe an ideale Empfindungen
verbunden, die den Deutschen seit der Urzeit ein auffallendes Gepräge
gab und sie mehr als ihre Körperkraft und kriegerische Wucht den
Römern furchtbar machte. Keine Volkssitte hat so keusch und edel
das Wesen der Frau gefaßt, kein Heidenglaube hat wie der deutsche
die Schrecken des Todes überwunden, denn auf dem Schlachtfelde sterben
ist die höchste Ehre und Freude des Helden. Durch dieses Vordringen
des Gemüts und idealer Empfindungen erhalten die Charaktere der deutschen
Helden im Leben wie im Epos schon sehr früh ein weniger einfaches
Gefüge, ein originelles, zuweilen wunderliches Gepräge, welches
ihnen bald besondere Größe und Tiefe, bald ein abenteuerliches
und unvernünftiges Aussehn verleiht. Man vergleiche nicht den poetischen
Wert der Schilderung, aber die Charakteranlage griechischer Helden in
Ilias und Odyssee mit den Helden der Nibelungen. Dem tapfersten Griechen
bleibt der Tod etwas Furchtbares, die Gefahr des Kampfes etwas Lästiges,
es ist ihm nicht in unserem Sinne unehrenhaft, einen schlafenden oder
waffenlosen Feind zu töten, es ist nicht der kleinste Heldenruhm,
klug die Gefahr des Zusammentreffens zu vermeiden und aus dem Hinterhalt
einen Ahnungslosen zu treffen. Der deutsche Held dagegen, derselbe, welcher
aus Treue gegen seinen Herrn die verruchteste Tat eines Deutschen begangen
und einen wehrlosen Mann listig von hinten getroffen hat, gerade er kann
für sich, seinen Herrn und seinen Stamm Tod und Untergang vermeiden,
wenn er zu rechter Zeit ausspricht, daß Gefahr vorhanden sei. Die
Überirdischen haben ihm sein und der Freunde Verderben prophezeit,
wenn die verhängnisvolle Reise fortgesetzt wird, und doch stößt
er die Fähre, welche die Rückkehr möglich macht, in den
Strom; - noch an dem Königshofe, wo ihm der Tod droht, vermag ein
Wort zu dem wohlwollenden König, ehrliche Antwort auf eine herzliche
Frage das Ärgste abzuwenden, er aber schweigt. Ja noch mehr, er und
die Seinen höhnen und reizen die erbitterten Feinde, und mit der
sicheren Aussicht auf Untergang regen sie selbst herausfordernd im Spiele
den blutigen Streit auf. Dem Griechen, jedem andern Volke des Altertums,
vielleicht die Gallier ausgenommen, wäre solche Art Heldentum durchaus
unheimlich und unvernünftig erschienen. Es war aber echt deutsch,
der wilde und finstere Ausdruck eines Volkswesens, in welchem dem Einzelnen
seine Ehre und sein Stolz weit mehr galten als das Leben. - Nicht anders
ist dies Verhältnis bei den Helden der Geschichte. Die idealen Empfindungen,
welche ihr Leben regieren, wie unvernünftig sie zuweilen schon lange
vor Ausbildung des Rittertums waren, die Pflichten der Ehre und Treue,
das Gefühl des Männerstolzes und der eigenen Würde, Todesverachtung
und Liebe zu einzelnen Menschen hatten oft eine Stärke und Gewalt,
welche wir schwer zu schätzen, nicht immer als beherrschendes Motiv
zu erkennen vermögen.
So schwebte die Seele des Germanen schon in ältester Zeit in Banden,
welche für uns oft nicht mehr erkennbar sind; fromme Hingabe und
Sehnsucht, Aberglaube und Pflichtgefühl, ein geheimer Zauberspruch
oder ein geheimes Gelübde zogen seinen Entschluß zu Taten,
welche wir vergeblich durch verständige Gründe, die unserer
Bildung entnommen sind, zu erklären suchen.
Und zu solcher Anlage kam im Mittelalter endlich der große Kreis
von Stimmungen, Gesetzen und phantastischen Träumereien, welcher
mit dem Christentum eindrang. Während einerseits der schneidende
Gegensatz, in welchem der milde Glaube der Entsagung zu den rauhen Neigungen
eines erobernden Kriegervolkes stand, den Deutschen die Widersprüche
zwischen Pflicht und Neigung, zwischen äußerem und innerem
Leben höchlich vermehrte, entsprach er andererseits in auffallender
Weise dem Bedürfnis der Hingebung, welche der Deutsche für einige
große Ideen schon längst besaß. Wenn an die Stelle Wuotans
und des getöteten Asengottes der Vater der Christen und sein eingeborener
Sohn, und an die Stelle der Schlachtjungfrauen die Scharen der Heiligen
traten, so erhielt dadurch auch das Leben nach dem Tode eine neue Weihe
und herzlichere Bedeutung. Und zu den alten Gewalten, welche den Entschluß
des Mannes in der Stille bestimmt hatten, zu dem bedeutungsvollen Wort,
einem anlaufenden Tiere, zu dem Trinkgelage und dem Würfelspiele,
zu den Mahnungen der Heidenpriester und den Weissagungen kluger Frauen
kamen jetzt die Forderungen der neuen Kirche, ihr Segen und ihr Fluch,
Gelübde und Beichte, die Priester und die Mönche; dicht an den
rohen, rücksichtslosen Genuß traten leidenschaftliche Bußübungen
und strengste Askese, und neben den Häusern der hübschen Frauen
erhoben sich die Nonnenklöster. Wie seit der Herrschaft des Christenglaubens
die Charaktere in den schärfsten Grundsätzen gezogen, wie Empfindung
und Beweggründe des Handelns mannigfaltiger, tiefer und künstlicher
gemacht werden, das zeigen z. B. zahlreiche Gestalten aus der Zeit der
Sachsenkaiser, wo fromme Schwärmerei gerade unter den Vornehmen üblich
wird und Männer und Frauen bald durch das Bestreben, die Welt für
sich zu gewinnen, bald durch den reuigen Wunsch, den Himmel mit sich zu
versöhnen, hin und her getrieben werden.
Wer je die Schwierigkeit empfunden hat, Menschen des Mittelalters, welche
durch die tiefsinnige Natur der Germanen und durch die alte Kirche geformt
wurden, zu verstehen, der wird diese kurzen Andeutungen nach jeder Richtung
ergänzen.
Und deshalb wird hier ein früheres Beispiel von anderem Gesichtspunkt
wiederholt. Was arbeitete in der Seele Heinrichs IV., als er im Büßerhemd
an die Schloßmauer von Canossa trat? Damit der Dichter diese Frage
durch eine edle Kunstwirkung beantworten könne, wird er sich doch
vom Geschichtschreiber erst sagen lassen, was dieser weiß. Und er
wird mit Erstaunen sehen, wie verschieden die Auffassung der Situation,
wie unsicher und spärlich die erhaltene Nachricht, und wie unbequem
und schwer ergründlich das Herz dieses mittelalterlichen Helden ist.
Daß er nicht mit innerer Zerknirschung zum Papste fuhr, der hochfahrende
gewaltsame Mann, der in dem römischen Priester seinen gefährlichsten
Gegner haßte, ist leicht zu begreifen. Daß er die bittere
Notwendigkeit dieses Schrittes lange im empörten Gemüt herumgewälzt
hatte und nicht ohne grimmige Hintergedanken das Büßerhemd
anzog, ist vorauszusetzen. Aber er kam ebensowenig als ein listiger Staatsmann,
der mit kalter Berechnung sich demütigt, weil er einen falschen Schritt
des Gegners erkennt und aus dieser Niederlage die Früchte eines künftigen
Sieges herauswachsen sieht. Denn Heinrich war ein mittelalterlicher Christ;
wie tief er den Gregor haßte, der Fluch der Kirche hatte für
ihn zuverlässig etwas Unheimliches und Furchtbares, zu seinem Gott
und dem Christenhimmel gab es damals keinen anderen Weg als durch die
Kirche. Gregor saß an der Himmelsbrücke, und wenn er es verbot,
geleiteten die Engel, die neuen Schlachtjungfrauen der Christen, den toten
Krieger nicht vor den Thron Allvaters, sondern sie stießen ihn in
den Abgrund zu dem alten Drachen. Der Papst schreibt, daß der Kaiser
viel geweint und sein Erbarmen angefleht habe, und daß auch die
Umgebung Gregors schluchzend und weinend diese Buße des Kaisers
ansah. Der Büßende war also doch wohl im Glauben, daß
der Papst ein Recht habe, ihn so zu plagen? Diese Einwirkungen des kirchlichen
Gewissens auf weltliche Zwecke, die abenteuerliche und unsichere Mischung
von Gegensätzen, bald Stolz, hoher Sinn, dauerhafte, unzerstörbare
Kraft, die wir fast für übermenschlich halten, und wieder eine
klägliche Leerheit und Schwäche, die uns verächtlich dünkt:
das bietet dem Dichter keine leicht zu bewältigende Aufgabe. Allerdings,
er ist Herr seines Stoffes, er vermag den geschichtlichen Charakter frei
nach seinem Bedarf umzuformen. Es ist möglich, daß der wirkliche
Heinrich vor Canossa stand wie ein ungebändigter, ruchloser Bube,
der eine schwere Züchtigung auszuhalten hat. Was kümmert das
den Dichter? Aber ebenso zwingend ist seine Verpflichtung, vorher das
wirkliche Wesen des Kaisers bis in die tiefsten Falten zu ergründen.
Sowohl der reuige Büßer als der kalte Staatsmann werden bei
dieser Sachlage Unwahrheiten, der Dichter hat den Charakter des Fürsten
aus Bestandteilen zu mischen, für welche er vielleicht in seiner
eigenen Seele nicht die entsprechenden Anschauungen findet und die er
sich erst durch Nachdenken in Anschauung und warme Empfindung umzusetzen
hat. Es gibt wenige Fürsten des Mittelalters, welche nicht in wesentlichen
Begebenheiten ihres Lebens, nach dem Maßstab unserer Bildung und
Sittlichkeit gemessen, entweder als kurzsichtige Tröpfe oder als
gewissenlose Bösewichter - nicht selten als beides - erscheinen.
Der Geschichtschreiber wird mit solchen schwierigen Aufgaben in seiner
anspruchslosen Weise fertig, er sucht sie im Zusammenhange ihrer Zeit
zu verstehen und sagt ehrlich, wo sein Verständnis aufhört;
der Dichter zieht diese Abenteuerlichen gebieterisch an das helle Licht
unserer Tage, er füllt ihr Inneres mit warmem Leben, mit moderner
Sprache, mit einem guten Anteil an Vernunft und Bildung unserer Tage,
und er vergißt, daß die Handlung, in welcher er sie bewegt,
aus der alten Zeit genommen ist und nicht ebenso umgeformt werden konnte,
und daß sie auffallend schlecht stimmt zu dem höheren menschlichen
Inhalt, den er ihren Charakteren gegeben.
Die geschichtlichen Stoffe aus grauer Vergangenheit und wenig bekannten
Zeitabschnitten unseres Volkstums verlocken unsere jungen Dichter, wie
einst den Euripides die epischen Stoffe, sie verleiten zu Schaustellungen,
wie jene alten zu Deklamationen. Nun sollen ihre Gestalten darum nicht
als unbrauchbar beiseite gelegt werden; aber der Dichter wird sich fragen,
ob die Umbildungen, die er mit einem jeden Charakter der Vorzeit vorzunehmen
verpflichtet ist, nicht vielleicht so groß werden, daß jede
Ähnlichkeit seines Bildes mit der historischen Gestalt schwindet,
und ob die unvertilgbaren Voraussetzungen der Handlung nicht mit seiner
freien Gestaltung unverträglich geworden sind. Das wird allerdings
zuweilen der Fall sein.
Nicht weniger beachtenswert ist der Kampf, welchen der Dramatiker in seinen
Rollen gegen das führen muß, was er als Natur zu idealisieren
hat. Seine Aufgabe ist, großer Leidenschaft auch großen Ausdruck
zu geben. Er hat dabei zum Gehilfen den Darsteller, also die leidenschaftlichen
Akzente der Stimme, Gestalt, Mimik und Gebärde. Trotz dieser reichen
Mittel vermag er fast niemals, und gerade in den Augenblicken höherer
Leidenschaft nicht, die entsprechenden Erscheinungen des wirklichen Lebens
ohne große Veränderungen zu verwenden, wie stark und schön
und wirksam sich dort bei starken Naturen auch die Leidenschaft ausspreche
und wie großen Eindruck sie dem zufälligen Beobachter mache.
Auf der Bühne soll die Erscheinung in die Entfernung wirken. Selbst
beim kleinen Theater ist ein verhältnismäßig großer
Zuschauerraum mit dem Ausdrucke der Leidenschaft zu füllen, gerade
die feinsten Akzente aber des wirklichen Gefühls in Stimme, Blick,
selbst in der Haltung werden dem Publikum schon der Entfernung wegen durchaus
nicht so deutlich und fesselnd, als sie im Leben sind. Und ferner, es
ist die Aufgabe des Dramas, ein solches Arbeiten der Leidenschaft in allen
Momenten verständlich und eindringlich zu machen; denn es ist nicht
die Leidenschaft selbst, welche wirkt, sondern die dramatische Schilderung
derselben durch Rede und Mimik; immer sind die Charaktere der Bühne
bestrebt, ihr Inneres dem Hörer zuzukehren. Der Dichter muß
deshalb für die Wirkung auswählen. Die flüchtigen Gedanken,
welche in der Seele des Leidenschaftlichen durcheinander zucken, Schlüsse,
welche mit der Schnelligkeit des Blitzes gemacht werden, die in großer
Zahl wechselnden Seelenbewegungen, welche bald undeutlicher, bald lebendiger
zu Tage kommen, sie alle in ihrer ungeordneten Fülle, ihrem schnellen
Verlauf, oft unvollkommenen Ausdruck, vermag die Kunst so nicht zu häufen.
Sie braucht für jede Vorstellung, jede starke Empfindung eine gewisse
Zahl bedeutsamer Worte und Gebärden, die Verbindung derselben durch
Übergänge oder scharfe Gegensätze erfordert ebenfalls ein
zweckvolles Spiel, jedes einzelne Moment stellt sich breiter dar, eine
sorgfältige Steigerung muß stattfinden, damit eine höchste
Wirkung erreicht werde. So muß die dramatische Dichtkunst zwar die
Natur beständig belauschen, aber sie darf durchaus nicht kopieren,
ja sie muß zu den Einzelzügen, welche die Natur ihr angibt,
noch ein anderes mischen, was die Natur nicht bietet. Und zwar sowohl
in den Reden als in der Schauspielkunst. Für die Dichtung ist eins
der nächsten Hilfsmittel der Witz des Vergleiches, die Farbe des
Bildes; dieser älteste Schmuck der Rede tritt mit Naturnotwendigkeit
überall in die Sprache des Menschen, wo die Seele in gehobener Stimmung
frei ihre Flügel regt. Dem begeisterten Redner wie dem Dichter, jedem
Volke, jeder Bildung sind Vergleich und Bild die unmittelbarsten Äußerungen
eines gesteigerten Wesens, des kräftigen geistigen Schaffens. Nun
aber ist die Aufgabe des Dichters, mit der größten Freiheit
und Gehobenheit seines Wesens die größte Befangenheit seiner
Personen in ihren Leidenschaften darzustellen. Es wird also unvermeidlich
sein, daß seine Charaktere auch in den Momenten hoher Leidenschaft
weit mehr von dieser inneren schöpferischen Kraft der Rede, von der
unumschränkten Macht und Herrschaft über Sprache, Ausdruck und
Gebärdenspiel verraten, als sie in der Natur jemals zeigen. Ja diese
innere Freiheit ist ihnen notwendig, und der Zuschauet fordert sie. Und
doch liegt hier die große Gefahr für den Schaffenden, daß
seine Redekunst der Leidenschaft zu künstlich erscheine. Unsere größten
Dichter haben die Kunstmittel der Poesie oft in einer Reichlichkeit zu
leidenschaftlichen Momenten benutzt, welche verletzt. Es ist bekannt,
daß schon Shakespeare bei pathetischem Ausdruck der Neigung seiner
Zeit zu mythologischen Vergleichen und prächtigen Bildern zu sehr
nachgibt; dadurch kommt häufig ein Schwulst in die Sprache seiner
Charaktere, den wir nur über der Menge von schönen bedeutsamen
Zügen, die dem Leben abgelauscht sind, vergessen. Näher stehen
die großen Dichter der Deutschen unserer Bildung, aber auch bei
ihnen, vor anderen bei Schiller, drängt sich in das Pathos nicht
selten eine Schönrednerei, welche unbefangener Empfindung schon jetzt
unbequem wird.
Wenn der Gegensatz zwischen Kunst und Natur bei jedem leidenschaftlichen
Ausdruck erkennbar ist, so gilt dies am meisten von den innigsten und
herzlichsten Empfindungen. Und so wird hier noch einmal an die sogenannten
Liebesszenen erinnert. In der Wirklichkeit ist der Ausdruck der holden
Leidenschaft, welcher aus einer Seele in die andere dringt, so zart, wortarm
und diskret, daß er die Kunst in Verzweiflung bringt. Ein schneller
Strahl des Auges, ein weicher Ton der Stimme vermag dem Geliebten mehr
auszudrücken als jede Rede; gerade die unmittelbarste Äußerung
des süßen Gefühls bedarf der Worte nur wie nebenbei; auch
die Augenblicke der sogenannten Liebeserklärung werden häufig
wortarm, dem Fernstehenden kaum sichtbar verlaufen. Dem Zuschauer kann
auch die höchste Kraft des Dichters und Darstellers das beredte Schweigen
und die schönen geheimen Schwingungen der Leidenschaft nur durch
eine größere Anzahl von Hilfsmitteln ersetzen. Ja, Dichter
und Darsteller müssen gerade hier eine Reichlichkeit von Wort und
Mimik anwenden, die in der Natur unwahrscheinlich ist. Allerdings vermag
der Schauspieler die Worte des Dichters durch Ton und Gebärde zu
steigern und zu ergänzen; aber damit er diese erhöhenden Wirkungen
übe, muß die Sprache des Dichters ihn leiten und höchst
planvoll und zweckmäßig die Wirkungen der Schauspielkunst motivieren,
und deshalb verlangt auch der Schauspieler eine schöpferische Tätigkeit
des Dichters, welche nicht eine Nachbildung der Wirklichkeit, sondern
etwas ganz Anderes gibt: das Kunstvolle.
Darf man gegenüber solchen Schwierigkeiten, welche der Ausdruck hoher
Leidenschaft im Drama darbietet, dem Dichter raten, so wird ihm das Beste
sein, so genau und lebenswahr, als seine Begabung erlaubt, die einzelnen
Momente zu starker Steigerung zusammen zu schließen und so wenig
als möglich die schmückenden Betrachtungen, Vergleiche, Bilder
ins Breite auszuführen. Denn während sie der Sprache Fülle
geben, verdecken sie nur zu gern Flüchtigkeit und Armut der poetischen
Erfindung. Wenn überall dem dramatischen Dichter genaues, immerwährendes
Beobachten der Natur unentbehrlich ist, so gilt das am meisten bei Darstellung
heftiger Leidenschaften; wohl aber soll er sich bewußt sein, daß
er gerade hier am wenigsten die Natur nachahmen darf.
Eine andere Schwierigkeit entsteht dem Dichter durch den inneren Gegensatz,
in welchen seine Art des Schaffens zu der seines Verbündeten, des
Schauspielers, tritt. Der Dichter empfindet die Bewegungen seiner Charaktere,
ihr Gegenspiel und Zusammenwirken nicht so wie der Leser die Worte des
Dramas, nicht so wie der Schauspieler seine Rolle. Gewaltig und zum Schaffen
reizend gehen ihm der Charakter, die Szene, jedes Moment auf, in der Art,
daß ihm zugleich ihre Bedeutung für das Ganze klar vor Augen
steht, während ihm alles Vorhergehende und alles Nachfolgende wie
in leisen Akkorden durch das Gemüt zittert. Die Lebensäußerungen
seiner Charaktere, das Fesselnde der Handlung, die Wirkung der Szenen
empfindet er als lockend und gewaltig, vielleicht lange bevor sie in Worten
Ausdruck gefunden haben. Ja, der Ausdruck, welchen er ihnen schafft, gibt
seiner eigenen Empfindung oft sehr unvollständig die Schönheit
und Macht wieder, womit sie in seiner Seele geschmückt waren. Während
er so das Seelenhafte seiner Personen von innen heraus durch die Schrift
festzuhalten bemüht ist, wird ihm die Wirkung der Worte, welche er
niederschreibt, nur unvollkommen klar, erst nach und nach gewöhnt
er sich an ihren Klang; auch den geschlossenen Raum der Bühne, das
äußere Erscheinen seiner Gestalten, die Wirkung einer Gebärde,
eines Redetons fühlt er nur nebenbei, bald mehr bald weniger deutlich.
Im Ganzen steht er, der durch die Sprache schafft, den Bedürfnissen
des Lesers oder Hörers noch näher als denen des Schauspielers,
zumal wenn er nicht selbst darstellender Künstler ist. Die Wirkungen,
welche er findet, entsprechen deshalb bald mehr den Bedürfnissen
des Lesenden, bald mehr denen des Darstellers.
Nun aber muß der Dichter großer Empfindung auch einen vollen
und starken Ausdruck durch die Sprache geben. Und die Wirkungen, welche
eine Seele auf andere ausübt, werden dadurch hervorgebracht, daß
ihr Inneres in einer Anzahl von Redewellen herausbricht, welche sich immer
stärker und mächtiger erheben und an das empfangende Gemüt
schlagen. Das bedarf einer gewissen Zeit und auch bei kurzer und höchst
kräftiger Behandlung einer gewissen Breite der Ausführung. Der
Schauspieler dagegen mit seiner Kunst bedarf des Stroms der überzeugenden,
verführenden Rede, ja er bedarf des starken Ausdrucks der Leidenschaft
durch die Sprache nicht immer. Sein Augenmerk ist darauf gerichtet, noch
durch andere Mittel zu schaffen, deren Wirksamkeit der Dichter nicht ebenso
lebendig empfindet. Durch eine Gebärde des Schreckens, des Hasses,
der Verachtung vermag er zuweilen weit mehr auszudrücken, als der
Dichter durch die besten Worte. Ungeduldig wird er immer in Versuchung
sein, von den höchsten Mitteln seiner Kunst Gebrauch zu machen.
So werden die Gesetze der Bühnenwirkung für ihn und die Zuschauer
zuweilen andere, als sie in der Seele des schaffenden Dichters lagen.
Dem Darsteller wird oft in dem Kampf der Leidenschaft ein Wort, ein Augenblick
besonders geeignet sein, die stärksten mimischen Wirkungen daran
zu knüpfen; alle folgenden Seelenvorgänge in seiner Rede, wie
poetisch wahr sie an sich sein mögen, werden ihm und den Zuschauern
als Längen erscheinen. Dadurch wird bei der Darstellung Manches unnötig,
was beim Schreiben und beim Lesen die höchste Berechtigung hat.
Daß der Schauspieler seinerseits die Aufgabe hat, dem Dichter mit
Sorgfalt zu folgen und sich soviel als irgend möglich den beabsichtigten
Wirkungen desselben anzuschließen, selbst mit einiger Resignation,
das versteht sich von selbst. Nicht selten aber wird sein Recht besser,
als das der Sprache; schon deshalb, weil seine Kunstmittel: Stimme, Erfindungskraft,
Technik, selbst seine Nerven ihm Beschränkungen auferlegen, die der
Dichter nicht als zwingende empfindet. Der Dichter aber wird bei solchem
Recht, das der Schauspieler gegenüber seiner Arbeit hat, um so mehr
mit Schwierigkeiten kämpfen, je ferner er selbst der Bühne steht
und je weniger deutlich ihm in den einzelnen Momenten seiner schöpferischen
Tätigkeit das Bühnenbild der Charaktere ist. Er wird also sich
durch Nachdenken und Beobachtung klarmachen müssen, wie er seine
Charaktere dem Schauspieler für die Bühnenwirkung bequem zurecht
zu legen habe. Er wird aber der Schauspielkunst auch nicht immer nachgeben
dürfen. Und da er schon beim Schreibtisch die Aufgabe hat, so sehr
als möglich der wohlwollende Vormund des darstellenden Künstlers
zu sein, so wird er die Lebensgesetze der Schauspielkunst ernsthaft studieren
müssen.
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