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Gustav Freytag


Die Technik des Dramas

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Kapitel 1

6. Bewegung und Steigerung der Handlung

Die dramatische Handlung muß alles für das Verständnis Wichtige in starker Bewegung der Charaktere, in fortlaufender Steigerung der Wirkungen darstellen.

Die Handlung soll zunächst der stärksten dramatischen Bewegung fähig sein. Und diese Bewegung soll eine gemeinverständliche werden.

Es gibt große und wichtige Kreise menschlicher Tätigkeit, welche das Herausbilden eines hinreißenden Empfindens, Begehrens, Wollens nicht leicht machen, und wieder heftige Kämpfe, welche zwar die gewaltigsten inneren Vorgänge nach der Außenseite der Menschen treiben, bei denen aber der Gegenstand des Kampfes für Darstellung auf der Bühne wenig geeignet ist, obwohl auch ihm Wichtigkeit und Größe nicht fehlt. Ein staatskluger Fürst z. B. welcher mit den Gewalten seines Landes verhandelt, mit Nachbarn Krieg und Frieden schließt, wird vielleicht dies alles tun, ohne daß einmal eine leidenschaftliche Bewegung in ihm sichtbar wird; und wenn sie zutage kommt, als geheimes Verlangen, als Unwille gegen andere, wird sie nur vorsichtig, wie in kurzen Wellen, bemerkbar werden. Aber auch wenn sie sein ganzes Wesen in dramatischer Spannung darzustellen gestattet, wird der Gegenstand seines Wollens, ein politischer Erfolg, ein Sieg, sich in dem Rahmen der Bühne nur sehr unvollständig und mangelhaft zeigen lassen. Und die Szenen, in welchen : dieser Kreis irdischer Zwecke sich vorzugsweise bewegt, Staatsaktionen, Reden, Schlachten, sind aus technischen Gründen nicht der bequemste Teil des Dramas. Auch von diesem Standpunkt aus muß davor gewarnt werden, den Stoff der politischen Geschichte auf die Bühne zu tragen. Allerdings sind die Schwierigkeiten, welche dies Gebiet der , stärksten irdischen Tätigkeit darbietet, nicht unüberwindlich, aber es gehört nicht nur ein gereifter Geist, auch ganz besondere Kenntnis der Bühne dazu, dergleichen gut zu machen. Nie aber wird der Dichter seine Handlung dadurch herabwürdigen, daß er sie zu einer doch nur unvollständigen und ungenügenden Auseinandersetzung solcher politischen Taten und Ziele macht, er wird nur eine einzelne Handlung oder eine geringe Zahl derselben als Hintergrund benutzen dürfen, vor dem er das aufbaut, worin er dem Geschichtschreiber unendlich überlegen ist, die geheimsten Offenbarungen der Menschennatur in wenigen Persönlichkeiten und in den leidenschaftlichsten Beziehungen derselben zueinander. Versäumt er dies, so wird er auch nach dieser Richtung die Geschichte fälschen, ohne Poetisches zu schaffen.

Ein ganz ungünstiges Stoffgebiet sind die inneren Kämpfe, welche der Erfinder, Künstler, Denker mit sich und seiner Zeit zu bestehen hat. Auch wenn er eine reformatorische Natur ist, welche tausend anderen das Gepräge des eigenen Geistes aufzudrücken weiß, ja selbst wenn seine äußeren Schicksale ungewöhnlichen Anteil in Anspruch nehmen, wird der Dramatiker sich nicht gern entschließen, ihn als Helden . einer Handlung aufzuführen. Ist die geistige Arbeit eines solchen Helden dem lebenden Geschlecht nicht genau bekannt, so wird der Dichter die Berechtigung seines Mannes erst durch kunstvolle Rede, durch wortreiche Ausführung und durch Darstellung eines geistigen Inhalts vorzuführen haben. Das mag ebenso schwierig sein, als es undramatisch ist. Setzt der Dichter aber lebendige Anteilnahme an solcher Persönlichkeit, Bekanntschaft mit den Ergebnissen ihres Lebens bei seinen Hörern voraus und benutzt er diesen Anteil, um ein Ereignis aus dem Leben solches Helden wert zu machen, so verfällt er einer andern Gefahr. Auf der Bühne hat das Gute, was man von einem Menschen voraus weiß oder was von ihm berichtet wird, durchaus keinen Wert gegen das, was der Held auf der Bühne selbst tut. Ja gerade die großen Erwartungen, welche der Hörer in diesem Falle mitbringt, mögen die unbefangene Aufnahme der Handlung beeinträchtigen. Und wenn es auch, wie bei volkstümlichen Helden wahrscheinlich ist, dem Dichter gelingt, durch eine bereits vorhandene Wärme für die Person des Helden die szenischen Wirkungen zu fördern, so verdankt er seinen Erfolg dem Anteil, welchen der Hörer mitbringt, nicht dem Anteil, den sich das Drama selbst verdient. Der Dichter wird also, wenn er gewissenhaft ist, nur solche Momente aus dem Leben des Künstlers, Dichters, Denkers verwerten dürfen, in denen der Held sich tätig und leidend ebenso bedeutend gegen andere erweist, als er in seiner Arbeitsstube war. Es ist klar, daß das nur zufällig einmal der Fall sein wird, ebenso klar, daß es in solchem Falle wieder zufällig ist, ob der Held einen berühmten Namen trägt oder nicht. Deshalb ist die Verwertung von Anekdoten aus dem Leben solcher großen Männer, deren Bedeutung sich nicht in der Handlung selbst, sondern in der nicht darstellbaren Tätigkeit ihrer Werkstatt erweist, recht innerlich undramatisch. Das Große in ihnen ist nicht darstellbar, und was dargestellt wird, borgt die Größe des Helden von einem außerhalb des Stückes liegenden Moment seines Lebens. Die Persönlichkeit Shakespeares, Goethes, Schillers ist auf der Bühne noch übler daran als in Roman und Novelle. Um so schlimmer, je genauer ihr Leben bekannt ist.

Allerdings ist die Ansicht darüber, was auf der Bühne darstellbar und. wirksam sei, nicht zu allen Zeiten gleich, sowohl die nationale Gewohnheit als die Einrichtung des Theaters bestimmen den Dichter. Wir haben durchaus nicht mehr die Empfänglichkeit der Griechen für epische Berichte, welche durch einen Boten auf die Szene getragen werden, wir sind schaufreudiger und wagen auf unserer Bühne auch die Nachbildung von Aktionen, welche der Bühne Athens trotz ihrer Maschinen, Flugwerke und ihrer perspektivischen Malerei ganz unmöglich erschienen wären: Volksaufruhr, Kriegführung und dergleichen. Und in der Regel wird der neuere Dichter geneigt sein, nach dieser Richtung eher zuviel als zuwenig zu tun.

Eher als dem Griechen mag ihm deshalb begegnen, daß durch die reiche Ausführung der Aktionen die innere Bewegung der Hauptfiguren übermäßig beschränkt wird, und daß ein wichtiger Übergang, eine folgenschwere Reihe von Stimmungen verschwiegen bleibt. Ein bekanntes Beispiel solcher Lücke ist im Prinzen von Homburg, gerade dem Stück, worin der Dichter eine der schwierigsten szenischen Aufgaben, die Disposition zu einer Schlacht und die Schilderung der Schlacht selbst, vortrefflich gelöst hat. Der Prinz hat seine Haft leicht genommen; als sein Freund Hohenzollern ihm die Nachricht bringt, daß sein Todesurteil zur Unterschrift vorliege,. wird seine Stimmung allerdings ernst, und er beschließt die Verwendung der Kurfürstin zu erbitten. Und in der nächsten Szene stürzt der junge Held kraftlos, haltungslos zu den Füßen seiner Gönnerin, weil er auf dem Wege zu ihr, wie er erzählt, beim Fackelschein an seinem Grabe arbeiten sah; er fleht um sein Leben wenn er auch schimpflich abgesetzt werde. Dieser unvermittelte Sprung Zur feigen Todesfurcht verletzt an einem General auf das peinlichste. Er ist sicher an sich nicht unwahr, wenn wir auch von einem Feldherrn unter solchen Umständen ungern Haltlosigkeit ertragen. Und das Drama forderte die stärkste Niederdrückung des Helden, gerade die Mutlosigkeit ist der entscheidende Punkt des Stückes, zu dem der Held in seiner Befangenheit stürzen muß, um sich in dem zweiten Teil der Handlung würdig zu erheben. .Es war deshalb eine Hauptaufgabe, die Herabstimmung einer jugendlichen Heldennatur bis zur Todesfurcht vorzuführen, und zwar so, daß die Teilnahme des Hörers nicht durch Verachtung weggeblasen wurde. Das konnte nur durch genauste Darstellung der innern Bewegungen bis zur ausbrechenden Todesangst geschehen, an welche sich der Fußfall anschließen mochte, eine schwierige Aufgabe auch für starke Dichterkraft, aber sie mußte gelöst werden. Und schon hier sei eine kluge Regel erwähnt, die für den Dichter wie für den Schauspieler Geltung hat. Es ist verkehrt, über Teile der Handlung, welche aus irgendeinem Grunde für das Stück notwendig sind, aber nicht die Eigenschaft dankbarer Momente haben, hinwegzuhasten; im Gegenteil muß an solchen Stellen die höchste technische Kunst angewendet werden, um das an sich Unbequeme dichterisch schön herauszuheben. Gerade vor dergleichen Aufgaben muß den Künstler das stolze Gefühl erfüllen, daß es für Ihn keine unüberwindliche Schwierigkeit gibt.

Ein anderer Fall, in welchem das versäumte Heraustreiben einer Hauptwirkung auffällt, ist der dritte Akt von Antonius und Kleopatra. Freilich rührt ein Versäumnis bei Shakespeare weder von mangelhafter Einsicht noch von Flüchtigkeit her. Das Auffallende liegt hier dann, daß dem Stück der Höhenpunkt fehlt. Antonius hat sich von Kleopatra getrennt, mit Oktavian versöhnt, seine Herrschermacht wieder hergestellt. Der Hörer ahnt aber längst, daß er zur Kleopatra zurückfallen wird. Die innere Notwendigkeit dieses Rückfalls ist vom ersten Akt an reichlich motiviert. Demungeachtet fordert man mit Recht diesen verhängnisvollen Rückfall mit seinen leidenschaftlichen Bewegungen zu sehen, er ist der Punkt, auf welchen alles Vorhergehende gespannt hat, der alles Folgende, die Erniedrigung des Antonius bis zu feiger Flucht und seinen Tod erklären muß. Und doch wird er nur in kurzen Absätzen dargestellt, die Spitze der Handlung ist in viele kleine Szenen zerspalten. Und eine Einfügung in ausgeführter Szene war um so wünschenswerter, da auch die wichtige Begebenheit der Umkehr, jene Flucht des Antonius aus der Seeschlacht, nicht auf der Bühne vorgeführt, sondern nur durch den kurzen Bericht der Unterfeldherren und das darauf folgende erschütternde Ringen des gebrochenen Helden anschaulich gemacht werden konnte. *)

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*) Durch diese Unregelmäßigkeit in Anordnung der Handlung, die zugleich wie .ein Rückfall in die alten Gewohnheiten des englischen Volkstheaters aussieht, wird der Bau des Dramas gestört Die durch Stoff und Idee gebotene Handlung. war folgende: Erster Akt: Antonius bei Kleopatra und Trennung von Ihr. Zweiter Akt: Versöhnung mit Cäsar und Wiederherstellung der Herrschermacht. Dritter Akt: Der Rückfall zur Ägypterin mit Höhenpunkt. Vierter Akt: Innerer Verderb, Flucht und letztes Ringen. Fünfter Akt. Katastrophe des Antonius und der Kleopatra. Aber die Abweichung Shakespeares Von dem regelmäßigen Bau hat einen tieferen Grund. Das innere Leben des verwüsteten Antonius hatte keinen großen Reichtum und bot dem Dichter in den Augenblicken der neuen Betörung wenig Anziehendes. Seine Lieblingsgestalt in dem Drama aber, Kleopatra, in deren Ausführung er seine höchste Meisterschaft bewährt hatte, war kein Charakter, der zu großen dramatischen Bewegungen geeignet war, die verschiedenen Szenen dieser Frau voll Leidenschaftlichkeit ohne Leidenschaft gleichen glänzenden Variationen desselben Themas. Sie ist in .ihrem Verhältnis zu Antonius gerade oft genug von den verschiedensten Seiten geschildert, um das reiche Bild einer dämonischen Kokette zu bieten. Die Rückkehr des Antonius gab dem Dichter auch in Beziehung auf sie keine neue Aufgabe. Dagegen war die Erhebung. dieses Charakters in verzweifelter Lage, unter den Schrecken des Todes, für ihn ein fesselnder Vorwurf, und insofern mit Recht, weil gerade darin eine höchst eigenartige Steigerung desselben gegeben werden konnte. So opferte Shakespeare diesen Szenen einen Teil der Handlung. Er warf die Momente des Höhenpunktes und der Umkehr zusammen, indem er sie In kleinen Szenen andeutete, und räumte der Katastrophe zwei Akte ein. Für die Gesamtwirkung des Stückes bleibt das ein Übelstand. Wir verdanken Ihm freilich die Todesszene Kleopatras im Grabmale, von dem vielen Außerordentlichen, was Shakespeare geschaffen hat, vielleicht das Erstaunlichste. - Daß die Nebenfiguren Oktavian und seine Schwester gerade auf der Spitze der Handlung dem Dichter wichtiger wurden als seine Hauptperson, rührt wohl daher, daß dem bejahrten Dichter überhaupt der einzelne Mensch, sein Glück und Leiden klein geworden war vor einer ahnenden und ehrfurchtsvollen Betrachtung des geschichtlichen Weltgefüges.
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Aber der Dichter hat selbstverständlich nicht die Aufgabe, jedes einzelne Moment, welches für den Zusammenhang der Handlung notwendig ist, durch die Aktion der Bühne als geschehend darzustellen. Ein solches Ausführen der Nebensachen würde die Grundzüge mehr verdecken als eindringlich machen, weil es Wichtigerem die Zeit raubte; es würde auch die Handlung in zu viele Teile zersplittern und dadurch die szenische Wirkung beeinträchtigen. Auch auf unserer Bühne sind noch kleine epische Berichte über Ereignisse in lebendiger Darstellung notwendig. Da sie immer Ruhepunkte der Handlung darstellen, wie aufgeregt auch der Verkünder sprechen möge, so gilt für sie das Gesetz, daß sie als Lösung einer kräftig erregten Spannung einzutreten haben. Der Zuschauer muß durch die lebendige Bewegung der dabei beteiligten Personen vorher angeregt sein. Die Länge der Erzählung ist sorgfältig zu überwachen, eine. Zeile zu viel, die kleinste unnötige Ausführung kann in Ermüdung verursachen. Die Erzählung ist, wenn sie breitere Einzelheiten enthält, in Absätze zu teilen, mit kurzen Zwischenreden zu versehen, welche die Stimmung der Beteiligten andeuten, und ist in kräftiger Steigerung des Inhalts und der Sprachweise zu arbeiten. Ein berühmtes Beispiel von vortrefflicher Anordnung ist der Bericht des schwedischen Hauptmanns im Wallenstein. Ein ausführlicher Bericht darf nicht an solchen Stellen stehen, wo die Handlung mitten in starker Bewegung abrollt.

Eine Abart der Botenszenen ist die Schilderung eines hinter der Szene gedachten Ereignisses, wenn die Personen auf der Bühne als Beobachter dargestellt werden, also ein Vorführen der Aktion aus den Eindrücken, welche dieselbe in die Charaktere wirft. Diese Art des Berichtes gestattet leichter dramatische Bewegung; sie mag einer ruhigen Erzählung nahe stehen, sie mag vielleicht die leidenschaftliche Erregung . auf der Bühne hervorrufen oder steigern.

Die Gründe, aus denen der Dichter ein Geschehendes hinter die Szene verlegt, sind verschiedener Art. Zunächst veranlassen dazu unvermeidliche Vorgänge, welche ihrer Natur nach überhaupt nicht oder nur durch ein umständliches Maschinenwesen darstellbar sind, so eine Feuersbrunst, so die erwähnte Seeschlacht, Volksgewühl, Kämpfe zu Roß und Wagen, alles, wobei gewaltige Kräfte der Natur oder große Menschenmassen mit umfangreichen Bewegungen tätig sind. Die Wirkung solcher widerspiegelnden Eindrücke läßt sich außerordentlich unterstützen durch kleine szenische Andeutungen: Rufe von außen her, Signale, grellen Lichtschein, Donner und Blitz, Geschützdonner und ähnliche Erfindungen, welche die Phantasie anregen und deren Zweckmäßigkeit von dem Hörer leicht erkannt wird. Am besten werden die Andeutungen und klugen Verweise auf ein . Entferntes dann gedeihen, wenn sie menschliches Tun schildern; nicht so günstig stehen Darstellungen von seltenen Naturereignissen, Beschreibungen der Landschaft, alle Anschauungen, denen der Hörer vor der Bühne sich hinzugeben. nicht gewöhnt ist; leicht mag in solchem Fall die beabsichtigte Wirkung deshalb verfehlt werden weil das Publikum sich gegen Versuche, ungewohnte Täuschungen hervorzubringen, zu sträuben pflegt.

Diese Darstellung der abspiegelnden Eindrücke und das Verlegen eines Teils der Handlung hinter die Bühne hat aber für das Drama besondere Bedeutung in den Augenblicken, wo Furchtbares, Schreckliches, Entsetzliches dargestellt werden soll. Wenn freilich von dem Dichter der Gegenwart verlangt wird, daß er dem Beispiel der Griechen folge, den entscheidenden Augenblick einer furchtbaren Tat soviel als möglich züchtig hinter die Szene verlege und nur durch die Eindrücke sichtbar werden lasse, welche solche Augenblicke In die Seelen der Beteiligten werfen, so muß gegen diese Beschränkung zu Gunsten neuerer Kunst Widerspruch erhoben werden. Denn eine Imponierende Aktion ist zuweilen auf unserer Bühne von größter Wirkung und für die Handlung unentbehrlich. Erstens, wenn die dramatisch darstellbaren Einzelheiten der Tat Bedeutung für das Folgende gewinnen, ferner, wenn wir in solcher Tat die plötzlich eintretende Spitze eines zur Vollendung gekommenen inneren Vorganges erkennen, drittens, wenn nur durch das Anschauen der Handlung selbst die vollständige Überzeugung von dem Sachverhältnis beigebracht werden kann. Überfall, Totschlag, Mord, Gefechte, gewalttätiges Zusammenschlagen der Gestalten, an sich durchaus nicht die höchsten Wirkungen des Dramas, haben wir auf der Bühne nicht zu fürchten. Während die griechische Bühne aus der lyrischen Darstellung leidenschaftlicher Empfindungen sich entwickelte, ist die germanische aus der epischen Schilderung der Begebenheiten heraufgekommen. Beide haben einige Überlieferungen ihrer ältesten Zustände bewahrt, die griechische blieb ebenso geneigt, die Augenblicke der Tat in den Hintergrund zu drücken, als die deutsche fröhlich war, Balgerei und Gewalttat abzubilden.

Wenn aber die Griechen heftigen Körperbewegungen, dem Schlagen, Anfassen, Ringen, Niederwerfen aus dem Wege gingen, so war vielleicht nicht die Vorsicht des Dichters, sondern das Bedürfnis des Schauspielers der letzte Grund. Die griechische Theatertracht war für gewaltsame Beugung des Körpers sehr unbequem, das Hinsinken eines Sterbenden im Kothurn mußte sorgfältig und allmählich geschehen, wenn es nicht lächerlich werden sollte. Und die Maske nahm jede Möglichkeit, die in den Augenblicken der höchsten Spannung unentbehrlichen Bewegungen im Antlitz darzustellen. Äschylos scheint auch nach dieser Richtung einiges unternommen zu haben, der kluge Sophokles ging gerade so weit, als er durfte. Er wagte noch die Antigone aus dem Hain von Kolonos durch einen bewaffneten Haufen fortreißen zu lassen, aber er wagte nicht mehr in der Elektra den Ägisthos auf der Bühne zu töten, Orestes und Pylades müssen ihn mit gezogenem Schwert hinter die Szene verfolgen. Vielleicht empfand an dieser Stelle Sophokles so gut als wir, daß dies ein Übelstand war, eine Beschränkung, die durch Leder und Watte seiner Schauspieler, dann wohl auch durch ein religiöses Grauen, welches der Grieche vor dem Augenblick des Sterbens fühlte, auferlegt wurde. Denn dies ist eine der dramatischen Stellen, wo der Zuschauer sehen muß, daß sich die Handlung vollendet. Ägisthos könnte, wenn auch von zwei Männern verfolgt, sich doch ihrer erwehren oder entfliehen usw.

Wir sind durch die größere Leichtigkeit und Energie unserer Mimik von solchen Rücksichten befreit, und zahlreich sind in unseren Stücken große und kleine Wirkungen, welche auf den höchsten Aktionsmomenten beruhen. Die Szene, in welcher Coriolan den Aufidius am Hausaltar des Volskers umarmt, erhält ihre volle Bedeutung erst durch die Schlachtszene des ersten Aktes, in welcher man die Gegner erbittert aufeinander losschlagen sieht. Notwendig ist der Kampf zwischen Percy und Prinz Heinrich. Und wieder wie unentbehrlich ist nach den Voraussetzungen in Kabale und Liebe der Tod der beiden Liebenden auf der Bühne; in Romeo wie unentbehrlich der Tod des Tybalt, des Paris und der beiden Liebenden vor den Augen der Zuschauer! Könnten wir es glauben, wenn Emilia Galotti hinter der Szene vom Vater erdolcht würde? Und wäre es möglich, die große Szene zu missen, in welcher Cäsar ermordet wird?

Dagegen gibt es wieder eine ganze Reihe von großen Wirkungen, welche hervorgebracht werden, wenn nicht die Tat selbst das Auge beschäftigt, sondern so verhüllt wird, daß die begleitenden Umstände die Einbildungskraft spannen und das Furchtbare durch jene Eindrücke empfinden lassen, welche in die Seele der Helden fallen. Überall wo Raum ist die vorbereitenden Momente einer Tat eindringlich zu machen, und wo die Tat nicht in plötzlicher Erregung des Helden eintritt, endlich überall, wo es nützlicher ist, Grauen aufzuregen und zu spannen, als aufgeregte Spannung kräftig zu lösen, wird der Dichter wohltun, die Tat selbst hinter die Szene zu verlegen. Einige der stärksten dramatischen Wirkungen, welche es überhaupt gibt, verdanken wir solchen Verhüllungen. Wenn im Agamemnon des Aeschylos die gefangene Kassandra die einzelnen Umstände des Mordes, der im Hause geschieht, verkündet; wenn Elektra, wahrend die Todeslaute der Klytämnestra auf die Bühne dringen, dem Bruder in die Szene zuruft: „Triff noch einmal!“ so ist die furchtbare Gewalt dieser Wirkungen allerdings niemals übertroffen worden. Nicht weniger großartig ist die Ermordung des Königs Duncan im Macbeth, die Schilderung der Gemütszustände des Mörders vor und nach der Tat.

Für die Bühne der Germanen sind die Spannung, die unbestimmten Schauer, das Unheimliche und Aufregende, welche durch diese Verhüllung verhängnisvoller Taten bei geschickter Behandlung hervorgebracht werden, vorzugsweise in aufsteigender Handlung zu verwerten. In dem rascheren Laufe und der heftigeren Erregung des zweiten Teils werden sie nicht ebenso leicht anwendbar sein. Beim letzten Ausgang der Helden nur in solchen Fällen, wo der Augenblick des Todes selbst auf der Bühne nicht darstellbar ist, wie Hinrichtung durch Schafott und militärische Strafvollstreckung eines Urteils, und wo die Unmöglichkeit einer andern Lösung durch die unzweifelhaft stärkere Gewalt der tötenden Gegner selbstverständlich ist. Ein interessantes Beispiel dafür ist der letzte Akt des Wallenstein. Die finstere Gestalt Butlers, das Werben der Mörder, das Zusammenziehen des Netzes um den Ahnungslosen ist in einer lange und stark aufregenden Steigerung dem Zuschauer in die Seele gedrückt, nach solcher Vorbereitung wäre die Vorführung des Mordes selbst keine Verstärkung mehr; man sieht die Mörder in das Schlafzimmer eindringen, das Krachen der letzten Tür, das Waffengerassel und die darauf eintretende plötzliche Stille erhalten die Einbildungskraft in derselben unheimlichen Spannung, welche den ganzen Akt färbt. Und das langsame Aufregen der Phantasie, die bangsame Erwartung und das letzte Verhüllen der Tat selbst passen wieder vortrefflich zu dem Träumerischen und Geheimnisvollen des inspirierten Helden, wie Ihn Schiller gefaßt hat.

Der Dichter hat aber nicht nur darzustellen, auch zu verschweigen; zunächst gewisse unlogische Bestandteile des Stoffes, welche die größte Kunst nicht immer zu bewältigen vermag, - es wird bei Besprechung der dramatischen Stoffe davon die Rede sein. Dann Widerwärtiges, Ekelhaftes, Gräßliches, das Schamgefühl Verletzendes, das vielleicht an dem rohen, sonst brauchbaren Stoffe hängt. Was nach dieser Richtung der Kunst widerwärtig sei, muß der Schaffende selbst empfinden, es kann nicht gelehrt werden.

Ferner aber hat der Dichter die Pflicht, seine Wirkungen vom Anfang bis zum Ende des Dramas zu steigern. Der Hörer ist nicht in jedem Teil des Stückes derselbe, er nimmt im Anfange mit Bereitwilligkeit und in der Regel mit geringen Ansprüchen das Gebotene hin, und sobald der Dichter ihm durch irgendeine ansehnliche Wirkung seine Kraft und durch Sprache und sichere Art der Charakterführung ein männliches Urteil gezeigt hat, ist er geneigt, sich vertrauend seiner Leitung hinzugeben. Solche Stimmung hält etwa bis zum Höhenpunkt des Stückes vor. Aber im weiteren Verlauf wird der Empfangende anspruchsvoller, und seine Fähigkeit, Neues aufzunehmen, wird geringer, die genossenen Wirkungen haben stärker erregt, nach mancher Rücksicht gesättigt; mit der steigenden Spannung kommt die Ungeduld, mit der größern Zahl empfangener Eindrücke leichter die Ermattung. Darnach hat der Dichter jeden Teil seiner Handlung einzurichten. Zwar was den Inhalt selbst betrifft, so darf er bei richtiger Anordnung und erträglichem Stoff nicht um die wachsende Teilnahme besorgt sein. Wohl aber hat er dafür zu sorgen, daß die Ausführung allmählich größer und eindrucksvoller werde. Während die ersten Teile im allgemeinen leichte und kürzere Behandlung möglich machen und dem Dichter hier sogar die schwere Zumutung gemacht werden muß, vielleicht einmal eine große Wirkung abzudämpfen, fordern die letzten Akte vom Höhenpunkt an ein Aufgebot aller seiner Mittel. Es ist gar nicht gleichgültig, wo eine Szene steht, ob ein Bote im ersten oder im vierten Akte seine Erzählung vorträgt, ob ein Effekt den zweiten oder vierten Akt schließt. Mit weiser Vorsicht ist z. B. die Verschwörungsszene in Cäsar so kurz gehalten, um den Höhenpunkt des Stückes und die große Zeltszene des vierten Aktes nicht zu beeinträchtigen.

Ein anderes Mittel, die Wirkungen zu steigern, liegt in der Mannigfaltigkeit der Stimmungen, welche aufgeregt werden, sowie der Charaktere, welche die Handlung fortbewegen. Jedes Stück hat, wie gesagt wurde, eine Grundstimmung, welche sich einem Akkord oder einer Farbe vergleichen läßt. Von dieser maßgebenden Farbe aus aber ist ein Reichtum an Abschattungen sowohl als an Gegensätzen notwendig.

In vielen Fällen hat der Dichter allerdings nicht nötig, durch kühles Überlegen sich diese Notwendigkeit deutlich zu machen, denn es ist ein geheimnisvolles Gesetz alles künstlerischen Schaffens, daß ein Gefundenes seinen Gegensatz hervorruft, der Hauptcharakter seinen Gegenspieler, eine Szenenwirkung die abstechende andere. Zumal den Germanen ist es Bedürfnis, in alles, was sie schaffen, eine gewisse Gesamtheit ihres Empfindens liebevoll und sorgfältig hineinzutragen. Dennoch wird während der Arbeit die prüfende Beurteilung der Gebilde, welche mit Naturnotwendigkeit einander gefordert haben, wichtige Lücken ergänzen. Denn bei unsern figurenreichen Dramen ist leicht möglich, durch eine Nebenfigur einen Farbenton einzufügen, welcher dem Ganzen sehr wohltut. Schon bei Sophokles ist die Sicherheit und Zartheit, mit welcher er die Einseitigkeiten seiner Charaktere durch die geforderten Gegensätze ergänzt, in jeder Tragödie zu bewundern; dem Euripides ist dies Harmoniegefühl wieder sehr schwach. Alle großen Dichter der Germanen von Shakespeare bis Schiller schaffen nach dieser Richtung, im Ganzen betrachtet, mit schöner Festigkeit, und wir begegnen bei ihnen nur selten einer Figur, welche nicht durch ihre Gegenspieler gefordert, sondern durch kalte Überlegung eingefügt ist, wie Parricida im Tell. Es ist eine von den Besonderheiten Kleists, daß die Ergänzungsbilder ihm undeutlich kommen; hie und da verletzt in den Grundlinien und Farben seiner Gestalten die Willkür.

Aus dem innerlichen Drange szenischer Gegensätze in der Handlung sind den Germanen die Liebesszenen der Tragödie entstanden, der lichtvolle und warme Teil, welcher in der Regel die rührenden Momente im Gegensatz zu den erschütternden der Haupthandlung umschließt. Die szenischen Kontraste werden aber nicht nur durch den verschiedenartigen Inhalt, auch durch den Wechsel von ausgeführten und verbindenden, von Szenen zweier und vieler Personen hervorgebracht. Bei den Griechen, deren Szenen sich nach Form und Inhalt in weit engerem Kreise bewegten, wird die Abwechslung auch dadurch bewirkt, daß die Szenen je nach ihrem Inhalt einen verschiedenen, regelmäßig wiederkehrenden Bau erhalten, Dialogszenen und Botenszenen werden durch Pathosszenen unterbrochen, für jede dieser Arten bestand eine in der Hauptsache feste Form.

Und nicht nur der scharfe Kontrast, auch die Wiederholung desselben szenischen Motivs vermag eine erhöhte Wirkung hervorzubringen, sowohl durch den Parallelismus als durch die feinen Gegensätze zwischen Ähnlichem. Der Dichter hat in diesem Fall mit besonderm Fleiß darauf zu achten, daß er in das wiederkehrende Motiv besondern Reiz lege und vor der Wiederholung die Spannung und Freude daran aufrege. Und er wird dabei ein Gesetz nicht vernachlässigen dürfen, daß auf der Bühne in dem spätern Teil der Handlung auch besonders feine Arbeit nicht leicht ausreicht, eine gesteigerte Wirkung durch Wiederholung bereits gebrauchter Effekte hervorzubringen, falls dieselben eine breitere Ausführung erhalten. Zumal dann ist Gefahr, wenn es besonderer Kunst der Darsteller bedarf, das wiederholte Motiv von einem vorausgegangenen kräftig abzuheben. Shakespeare liebt die Wiederholung desselben Motivs zur Verstärkung der Wirkungen. Ein gutes Beispiel ist die Schlaftrunkenheit des Lucius im Julius Cäsar, welche in der Verschwörungsszene den Gegensatz in den Stimmungen des Herrn und Dieners und den milden Sinn des Brutus zeigt und in der großen Zeltszene fast wörtlich wiederholt wird: Der zweite Anschlag desselben Akkords hat hier die Erscheinung einzuleiten, sein weicher Mollklang erinnert den Hörer sehr schön an jene Unglücksnacht und die Schuld des Brutus. Ähnlich wirkt in Romeo und Julia sowohl durch Gleichklang als durch abstechende Behandlung die Wiederholung des Zweikampfes mit tödlichem Ausgang. Ferner Im Othello die wiederkehrenden prächtigen Variationen desselben Themas in den kleinen Szenen zwischen Jago und Roderigo. Aber nicht immer ist es dem großen Dichter mit diesen Wirkungen geglückt. Schon die Wiederholung des Hexenmotivs in der zweiten Hälfte des Macbeth ist keine Verstärkung der Wirkung. Das Gespenstige widerstand wohl der breitern Ausführung an der zweiten Stelle. Ein sehr berühmtes Beispiel solcher Wiederholung ist die zweimalige Brautwerbung Richards III., die Szene an der Bahre und die Unterredung mit Elisabeth Rivers. *). Daß die Wiederholung hier als bedeutsamer Zug für Richard steht und daß eine starke Wirkung bezweckt ist, wird schon aus der großen Kunst und breiten Ausführung beider Szenen deutlich. Auch ist die zweite Szene mit größter Liebe behandelt, der Dichter hat darin eine für ihn neue und feine Technik angewandt, er hat sie nach antikem Vorbild, Reden und Gegenreden gleich lang Vers gegen Vers gesetzt, gehalten. Und unsere Kritik pflegt wohl eine besondere Schönheit des großen Dramas aus dieser Szene zu erklären. In der Tat ist sie auf der Bühne ein Übelstand. Die ungeheure Handlung drängt bereits mit einer Gewalt Zum Ende, welche dem Zuschauer die volle Empfänglichkeit für das ausgedehnte und kunstvolle Wortgefecht dieser Unterredung nimmt. - Ein ähnlicher Übelstand ist im Kaufmann von Venedig für unsere Zuhörer die dreimalige Wiederholung der Wahlszene am Kästchen; die dramatische Bewegung der beiden ersten Szenen ist gering und die Zierlichkeit in den Reden der Wählenden nicht reizvoll genug. Shakespeare durfte sich dergleichen rhetorische Feinheiten gern erlauben, weil sein dauerhafteres Publikum an gebildeter, höfischer Rede besonderes Behagen fand.
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*) Die Szene ist aber durchaus nicht ganz wegzulassen, wie wohl geschieht. Auch die Kürzung muß den Gegensatz Zu der ersteren, die befehlende Härte des Tyrannen, die lauernde Feindschaft der Mutter und die Täuschung Richards durch eine von ihm verachtete Frau hervorheben. Wollen unsere Regisseure nicht mehr dulden, so mögen sie etwa folgende Kürzung ertragen. Wenn man die Verse der Schlegel-Tieckschen Ausgabe von den Worten Richards: „Bleibt, gnädige Frau, ich muß ein Wort Euch sagen,“ bis zum Ende der Szene, den Worten Richards: „bringt meinen Liebeskuß, lebt wohl“ mit fortlaufenden Ziffern von 1-238 bezeichnet, so bleiben folgende Verse stehen: 1-3, 7-9, 54, 59, 60, 97-101, 103, 104, 113, 114, 123-128, 131, 133, 143-160, 210-221, 223, 225-227, 236-238.
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